New Labours »Dritter Weg« - Bilanz des ersten Jahres

Wer heute, ein Jahr nach Tony Blairs Regierungsübernahme in Großbritannien, eine erste Bilanz über New Labour ziehen will, sollte sein Augenmerk hauptsächlich auf des Premierministers »Politik des dritten Weges« richten.

Eigentlich weiß niemand so genau, was dieser »dritte Weg« bedeuten soll, am wenigsten die Führung der Labour Party selbst. Die Wirtschaftszeitung Economist kommentierte kürzlich das Seminar eines führenden Labour-Beraters mit den Worten: »Die Regierung hat entschieden, daß der dritte Weg wichtig sei, - sagt man uns. Aber die Minister wußten nicht, was er bedeutet. Daher war ihnen ein solches Seminar sehr willkommen, um mehr darüber zu erfahren.«

Blairs zentrale Aussage lautet, daß Klasseninteressen nicht mehr die Triebkraft der Politik seien, und daß der alte Gegensatz zwischen Rechts und Links keine Bedeutung mehr habe. Der »dritte Weg« ist kein einheitliches Ganzes, sondern bedeutet vor allem, daß die Labour Party ihr altes reformistisches Programm aufgegeben und ihre Verbindung zur Arbeiterklasse abgebrochen hat.

»New Labour«, der neue Name der Sozialdemokraten, soll suggerieren, daß Klassenkampf out sei - ein neues politisches Gebilde sei jetzt nötig, das angeblich die Interessen der gesamten Gesellschaft vertrete. Die Labour Party wurde völlig umgebaut und öffnete ihre Tore auch für Mitglieder der konservativen Tory-Partei, die zwar den Markt befürworten, aber den offenen Konfrontationskurs von Margaret Thatcher ablehnten. Obwohl sich der Konflikt zwischen Unternehmern und Arbeitern verschärft hat wie nie zuvor, ist es nach dem Willen der Modernisierer um Blair absolut tabu, darüber offen zu sprechen.

Fast ein Jahrhundert lang hat die Labour Party versucht, die politisch aktiven Arbeiter unter einer reformistischen Fahne zu sammeln, um die Klassengegensätze abzuschwächen. Das funktioniert heute nicht mehr. Schon mit der Wahl der Tories 1979 signalisierte die britische herrschende Klasse, daß sie mit der traditionellen Politik des Klassenkompromisses und sozialer Reformen Schluß machen wollte. Wirtschaft und Politik sollten von Grund auf erneuert werden, um in der globalen Wirtschaft bestehen zu können.

Die folgenden drastischen Einschnitte haben zu einer scharfen sozialen Krise und zu einer klaren Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen geführt. Die Zerstörung des Lebensstandards hat Millionen in Armut gestürzt, und zahlreiche Selbständige, Facharbeiter und kleine Ladenbesitzer haben sich bis über die Ohren verschuldet bzw. Hypotheken aufgenommen, die den Wert ihrer Häuser bei weitem übersteigen. Auch ihnen droht der Abstieg ins Proletariat. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit ist allgegenwärtig.

Der unaufhaltsame Niedergang breiter Bevölkerungsschichten, auch solcher, die traditionell zur Mittelklasse gezählt werden, führte dazu, daß die konservative Partei bei den Wahlen eine deutliche Schlappe erlitt, was die Tory-Regierung mehr und mehr paralysierte. Nach Thatchers Sturz im Jahr 1990 versuchte ihr Nachfolger John Major, die Tories von ihrem Image als Wirtschaftspartei zu befreien. Um einen neuen politischen Konsens zu schaffen, verzichtete er sogar darauf, die sozialen Kürzungen durchzusetzen, die von der Londoner Bankenwelt gefordert wurden.

Aber all das nützte nichts. Schlimmer noch, die Tories waren in der zentralen Frage der Integration in den europäischen Markt hoffnungslos gespalten. Britische Konzerne vertraten die Ansicht, daß es ihnen wenig nütze, den britischen Markt für ganz Europa zu öffnen, solange sie nicht auch auf dem Kontinent Fuß gefaßt hätten. Für das große Kapital war dieser Zustand unhaltbar. In dieser Lage schien die Regierungsübernahme von New Labour, einer Partei, die jeden Klassenkampf offen ablehnte, den Ausweg aus der politischen Sackgasse zu bieten.

Während die Labour Party früher ihr Image als Arbeiterpartei immer gepflegt hatte, beschuldigte New Labour nun die Tories, einseitig nur eine Klasse zu vertreten, und versprach im Gegenzug, sich selbst zu einer wahrhaftigen Volkspartei zu entwickeln. New Labour übernahm die wichtigsten Elemente der Wirtschaftspolitik der Tories, erhob jedoch in Worten den Anspruch, die schlimmsten Exzesse des reinen Marktkapitalismus zu beseitigen. Sie behauptete, künftig werde jeder Bürger an der dynamischen Partnerschaft zwischen privatem und staatlichem Sektor teilhaben.

Es wurde alles getan, um die Arbeiter zu lähmen und sie daran zu hindern, ihre eigenen Interessen in irgend einer Form zu formulieren. Blair führte eine ideologische Offensive gegen Labours alten Reformismus, und als Krönung strich er den Paragraphen Vier ihres Statuts, der die Vergesellschaftung der Produktionsmittel gefordert hatte. Der Sozialstaat, so erklärte man nun, habe dazu geführt, daß der Einzelne nicht mehr für sich selbst verantwortlich sei, was den wirtschaftlichen Fortschritt kolossal aufgehalten habe.

In ihren traditionellen städtischen Wahlkreisen führte Labour so gut wie überhaupt keinen Wahlkampf mehr, statt dessen versuchte New Labour sich in Hochburgen der Tories in Mittelengland eine neue soziale Basis zu verschaffen. Blair erklärte in einer Rede kurz vor der Wahl: »Der leitende Angestellte im mittleren Management muß sich darauf verlassen können, daß er bei Verlust seiner Stelle eine neue Anstellung findet, und er muß darauf zählen können, daß ihm als Hort der Stabilität sein Haus und seine Familie erhalten bleiben«.

Die so umworbenen Schichten nahmen Blair beim Wort. Der entscheidende Umschwung, der zum Wahlsieg der Labour Party führte, kam von ehemaligen Tory-Wählern, während ihre Gesamtstimmenzahl zurückging, weil sich in den früheren Labourdomänen viele der Stimme enthielten.

Was steckte in Wirklichkeit hinter Blairs Rhetorik? Die New-Labour-Regierung hat sich als eine noch offenere Vertretung der Wirtschaftsinteressen entpuppt, als ihre Tory-Vorgängerin. Auf der Grundlage ihres Wahlsiegs, der Ausdruck einer weitverbreiteten Anti-Tory-Stimmung war, konnte die Regierung Maßnahmen ergreifen, vor denen selbst Major zurückgeschreckt war. Die Financial Times zitierte einen hohen Wirtschaftsvertreter mit den Worten: »Die neue Regierung hat alles das getan, was ich selbst zwanzig Jahre lang versucht habe, bei den Tories durchzusetzen.«

Zum erstenmal in der britischen Geschichte sind führende Geschäftsleute direkt in die Regierung aufgenommen und für Bereiche zuständig gemacht worden, die ihre eigenen Interessen betreffen. Labour hat enge Beziehungen zu Rupert Murdoch, Richard Branson und anderen Vertretern aufsteigender Schichten der herrschenden Klasse, der Medien, der Computer- und Pharma-Industrie und dem Dienstleistungssektor geknüpft. Es sind Männer, deren Konzerne sehr stark auf die globalen Märkte ausgerichtet sind. New Labour läßt die Forderungen dieser Milliardäre direkt in die Regierungspolitik einfließen.

Ein gutes Beispiel hierfür ist Labours Verzicht auf die Regierungskontrolle über die Zinspolitik zugunsten der Nationalbank. Durch diese freiwillige Preisgabe des wichtigsten Steuerungsinstruments für eine nationale Wirtschaftspolitik machte Finanzminister Gordon Brown klar, daß von jetzt an die globalen Interessen des britischen Kapitals die Politik der Regierung diktieren sollten.

Aber das wichtigste ist, daß New Labour den anti-europäischen Chauvinismus und die nationalistische Rhetorik der Tories durch eine pragmatischere Haltung zur Währungsunion ersetzt hat. Großbritannien tritt der europäischen Währungsunion zwar nicht mit der ersten Welle zum Januar 1999 bei, unter anderem, weil hohe Zinsen und der steigende Wert des Pfunds unter diesen Bedingungen zu einer Rezession führen könnten. Aber die Regierung hat klargemacht, daß sie beabsichtigt, unter günstigeren Bedingungen der EWU beizutreten.

Obwohl Labour erklärt, ihre Neuauflage eines »New Deals« in der Sozialpolitik sei die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung, wird in Wirklichkeit gerade hier die Speerspitze der Regierungsoffensive zugunsten der Wirtschaft angesetzt. Die Kosten der Sozialausgaben - Sozialhilfe, Gesundheitswesen und Bildung - machen vierzig Prozent des Staatshaushalts aus. Für die Profite der großen Konzerne bedeutet das ein Aderlaß, den zu akzeptieren sie nicht mehr bereit sind. Außerdem sind ihnen hier Wirtschaftszweige verschlossen, die in anderen Ländern bereits privatisiert sind und somit reichhaltige Quellen für neue Profite bieten.

Indem New Labour eine neue Form von Arbeitsdienst im US-Stil einführt, schafft sie massenhaft billige Arbeitsreserven für die Wirtschaft. Schon heute werden arbeitslose Jugendliche gezwungen, Billiglohn-Jobs anzunehmen oder an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilzunehmen. Nächstes Jahr werden Zehntausende alleinerziehender Eltern und verheirateter Frauen auf den Arbeitsmarkt geworfen, wenn ihr Rechtsanspruch auf Sozialhilfe erlischt und sie statt dessen Steuergutschriften erhalten, die nur bei einem Arbeitgeber eingelöst werden können. Die Regierung hat erklärt, in Zukunft gebe es keine »Ausreden« mehr, niedrig bezahlte Arbeit abzulehnen.

Im Haushalt wurde ein Zeitplan für die Rückführung staatlicher Renten, Gesundheits- und Arbeitslosenversicherung zugunsten obligatorischer privater Vorsorge festgelegt. Später will Labour überhaupt alle Sozialleistungen abschaffen und durch Regelungen ersetzen, die vom Einkommen abhängig sind. Sie verspricht zwar, Bildung und Gesundheitsversorgung zu erhalten, befürwortet aber gleichzeitig eine weitere Privatisierung aller staatlichen Dienste.

Im Ergebnis hat die Politik von New Labour zu größerer Ungleichheit geführt. Die »Liste der Reichen«, die jedes Jahr von der Sunday Times veröffentlicht wird, stellte vor einem Monat fest, daß das Gesamtvermögen der obersten tausend Einzelpersonen und Familien in Großbritannien mehr als 108 Milliarden Pfund beträgt. Das ist eine Zunahme von zehn Milliarden Pfund seit dem letzten Jahr. Zu den Prominenten, deren Reichtum geradezu explodiert ist, gehören so standhafte Labour-Anhänger wie Bernie Ecclestone und Lord Sainsbury.

Auf der andern Seite führt die Demontage des Sozialstaats dazu, daß Familien in Arbeitslosigkeit geworfen und die Bildung, die Gesundheitsversorgung und die Renten untergraben werden. Im Verhältnis, wie die Löhne sinken, schwillt die Zahl der arbeitenden Armen an. Umstrukturierungen und Einführung von Computertechnik führt weiterhin dazu, daß große Teile der früheren Mittelschichten verarmen.

Die Meinungsumfragen bescheinigen New Labour immer noch breite Unterstützung, und im Parlament verfügt sie über eine Mehrheit von 179 Sitzen. Aber in Wirklichkeit fehlt der Regierung eine feste gesellschaftliche Basis. Labours rechtes Programm hat breite Teile ihrer früheren Wähler unter den Arbeitern abgestoßen; sie erkennen, daß diese Partei nicht mehr das Instrument ist, mit dem sie Einfluß auf die Politik der Regierung nehmen können.

Das traditionelle Bindeglied in der Beziehung zwischen Labour Party und Arbeiterklasse stellten immer die Gewerkschaften dar, aber auch diese fahren heute den gleichen wirtschaftsfreundlichen Kurs wie Blair. Außerdem haben die Zuwendungen der Industrie dazu geführt, daß nur noch ein Drittel von New Labours Finanzen durch den traditionellen „politischen Beitrag" der Gewerkschaftsmitglieder aufgebracht werden.

New Labour ist auf die dienstfertige rechte Presse angewiesen, um die wirklichen Folgen ihrer Politik zu verschleiern und Unterstützung zu mobilisieren. Abweichende Meinungen werden in der Labour Party unterdrückt. Parteitage werden wie amerikanische Medienereignisse organisiert, und Blair tritt als eine Art Präsident auf, der von der hohen Warte aus die Politik diktiert, die seine Berater über die Köpfe seines eigenen Kabinetts hinweg entwickelt haben.

Obwohl New Labour keine wirkliche Opposition im Parlament zu fürchten hat, hat sie mehrere Tories auf Regierungsposten berufen und auch den Liberaldemokraten Sitze in Kabinettsausschüssen gewährt. Es gibt ständig Gerüchte über einen Zusammenschluß von New Labour und den Liberaldemokraten. So versucht Blair de facto eine Regierung der nationalen Einheit zu schaffen, um - wie er sagt - die »veraltete Parteipolitik« aufzubrechen.

Auf diese Weise ist es Labour bisher gelungen, ihr Programm weitgehend ungehindert umzusetzen. Die Tatsache jedoch, daß alle traditionellen parlamentarischen Wege, abweichende Meinungen zum Ausdruck zu bringen, ausgeschaltet werden, wird langfristig explosive Folgen haben. Neue politische Wege, auf denen Arbeiter ihre Probleme und Hoffnungen artikulieren können, werden gesucht und letztlich auch gefunden werden.

Die Folgen werden nicht nur in Großbritannien, sondern auch in ganz Europa zu spüren sein. Die Regierungsübernahme von New Labour war nur die erste in einer Reihe politischer Kursänderungen auf dem ganzen Kontinent. Sozialdemokratische Regierungen, wie die von Lionel Jospin in Frankreich, folgen auf fast zwanzig Jahre konservativer Herrschaft in Europa. Es wird damit gerechnet, daß auch in den deutschen Bundestagswahlen die SPD diesen Trend fortsetzen und Kohls CDU-geführte Koalition nach 17 Jahren ablösen wird.

Aber sie alle setzen nur die rechte Politik ihrer Vorgänger. Die Parteien, mittels derer die Arbeiter in der Vergangenheit versucht haben, ihre Lage zu verbessern, haben sich in die wichtigsten Instrumente verwandelt, um soziale Kürzungen durchzusetzen, Dienstleistungen zu privatisieren und den Konzernen immer größere Zugeständnisse zu machen.

Noch stehen die Arbeiter als politische Zuschauer am Rande des Geschehens. Auf Grund bitterer Erfahrung spüren sie, daß die alten reformistischen Methoden einer national regulierten Wirtschaft nicht mehr greifen. In dem Maße, wie sie diese alte Politik fälschlicherweise mit »Sozialismus« gleichsetzen, finden sie noch keine eigene Antwort auf die neue Situation.

Um sich politisch neu zu orientieren, braucht die Arbeiterklasse eine internationalistische Strategie und neue Parteien, deren Ziel darin besteht, die ganze Wirtschaft von Grund auf neu zu organisieren, um die soziale Ungleichheit auszumerzen. Sie müssen sich von den gesellschaftlichen Bedürfnissen und nicht von den Profitinteressen der Konzerne leiten lassen. Das ist das Programm der Socialist Equality Party in Großbritannien und ihrer Schwesterparteien überall auf der Welt.

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