Können Aktien in Belegschaftshand sozialistischen Zielen dienen?

In einem Brief an die Zeitschrift "gleichheit", die von der Partei für Soziale Gleichheit herausgegeben wird, stellte ein Leser aus Sömmerda die Frage, ob Aktien in Belegschaftshand sozialistischen Zielen dienen können. Wir veröffentlichen im folgenden den Brief und die Antwort der Redaktion darauf.

 

Liebe Redaktion der "gleichheit"

Heute möchte ich Ihnen einmal schreiben. Ich bin ein langjähriger, treuer und intensiver Leser der "neuen Arbeiterpresse" und jetzt der "gleichheit". Seit dem nicht mehr Bestehen der SED vermißte ich tiefgründige Analysen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und habe sie nun in Eurer Zeitschrift gefunden. Darin wurden nicht nur meine Fragen zur Vergangenheit beantwortet, sondern auch Fragen zur gesellschaftlichen Zukunft unserer Welt. Deshalb möchte ich mich mit einer Frage zur weiteren Entwicklung an Euch wenden.

In einer Sendung des Senders "Phönix" wurden Betriebe in den USA in Silicone Valley vorstellt. Dabei wurden in einem Betrieb statt Lohn auch Aktien an die Belegschaft ausgezahlt, so daß mittlerweile die Belegschaft im Besitz von 60% der Aktien des Unternehmens ist.

Nun zu meiner Frage. Könnten diese Betriebe Keimzellen der neuen Gesellschaft sein?

Ich habe gelernt, daß der Grundwiderspruch im Kapitalismus der zwischen Kapital und Arbeit ist, der nur im Sozialismus gelöst werden kann. Dies geschieht dadurch, daß die Arbeiterklasse die politische Macht erobert und danach der Bourgeoisie die Produktionsmittel nach und nach entreißt und sie in gesellschaftliches Eigentum überführt als Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft. Was ist, wenn sich die neue Gesellschaft nicht so entwickelt, sondern wie im Kapitalismus zuerst in der Produktion, indem in der feudalistischen Gesellschaft kapitalistische Produktionsverhältnisse neu geschaffen wurden in den Manufakturen. Was ist, wenn sich die sozialistischen Produktionsverhältnisse zuerst in neuen Betrieben entwickeln, indem die "Arbeiter" zunächst Teilhaber (mindestens 51%) des Kapitals werden und so die kapitalistische Disziplin des Hungers durch die Motivation im Interesse der Gesellschaft zu arbeiten, also erst einmal im Interesse des eigenen Betriebes ersetzt wird. Dadurch haben sie natürlich auch Einfluß auf das Ziel der Produktion, das zunächst noch im Profitmachen besteht.

Was ist, wenn sich die kapitalistische Gesellschaft von innenheraus verändert, indem zunächst in der materiellen Produktion sozialistische Produktionsverhältnisse geschaffen werden und erst dann wie in der bürgerlichen Gesellschaft die politische Macht erobert wird?

Ich möchte mit diesem Brief eine Diskussion anregen und darum bitten, daß diese Fragestellung durch Sie beantwortet wird, weil ich glaube, daß dadurch eine völlig neue Herangehensweise an die Frage der Errichtung der neuen Gesellschaft entsteht.

Mit freundlichen Grüßen

E.K.

 

Lieber Herr K.!

Vielen Dank für Ihren Brief vom 18. August. Sie stellen die Frage, ob die Beteiligung von Belegschaften an ihren Firmen, etwa durch die Ausgabe von Aktien an die Beschäftigten, nicht zur Keimzelle sozialistischer Produktionsverhältnisse werden könnte. Durch ihre Teilhabe an den Unternehmen könnten, so überlegen sie, die Arbeiter vielleicht schrittweise auch die Richtung der Produktion bestimmen und schließlich zur Übernahme der politischen Macht gelangen. Sie ziehen eine Parallele zur Herausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse noch unter den Bedingungen des Feudalismus.

Wenn man die Sache genauer überprüft, so stellt man fest, daß dieser Gedanke nicht haltbar ist. Dagegen sprechen sowohl theoretische Überlegungen als auch zahlreiche praktische Erfahrungen mit Belegschaftsaktien und ähnlichen Verfahrensweisen in der Wirtschaft.

Das grundlegende theoretische Mißverständnis besteht darin, daß das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, wie es der Sozialismus anstrebt, nicht mit dem individuellen Besitz des einzelnen Arbeiters gleichgesetzt werden kann. Der Sozialismus strebt die Abschaffung des Privateigentums an, nicht die Verwandlung der Arbeiter in Kleinbesitzer bzw. Kleinaktionäre, die, wie alle Kleineigentümer im Kapitalismus, dem Großkapital mit Haut und Haaren ausgeliefert sind und von ihm in den Bankrott getrieben werden.

In der Tat ist dieses Konzept - einer "Gesellschaft von Aktionären" - das Leitbild der berüchtigten konservativen Regierungschefin Margaret Thatcher gewesen, die in den achtziger Jahren in Großbritannien einen rigorosen Privatisierungs- und Kürzungsfeldzug durchführte.

Die Ausgabe von Aktien an Arbeiter und Angestellte hat in den kapitalistischen Ländern eine lange Geschichte und wurde in jüngster Zeit oft benutzt, um die Privatisierung von staatlichen Unternehmen und einschneidende Angriffe auf Arbeitsplätze und Löhne durchzusetzen. Und das nicht nur in den USA - Sie bezogen sich ja auf das Beispiel eines Unternehmens im Silicone Valley -, sondern auch in Europa.

Großkonzerne wie Siemens, Bayer oder Hoechst beteiligen schon seit vielen Jahren ihre Belegschaft am Aktienkapital, um die Identifikation der Arbeiter mit der Firma zu steigern. Laut einer Beilage des Handelsblatts vom letzten Herbst halten in Deutschland derzeit in rund 350 Unternehmen Arbeitnehmer Belegschaftsaktien im Wert von insgesamt rund 14 Milliarden DM. Das Handelsblatt schreibt: "Zum Beispiel Hewlett-Packard (HP) in Böblingen: Seit mehr als 20 Jahren gibt die deutsche Tochter des kalifornischen Computerherstellers, der an der Börse notiert ist, Belegschaftsaktien aus. Manfred Neuffer, Leiter der Abteilung Zusatzleistungen: ,So sind 60 Prozent der deutschen Belegschaft an der Kursentwicklung der HP-Aktie interessiert. Jeden Morgen um neun Uhr, in der Vesperpause, wird per Lautsprecher der aktuelle Kurs bekanntgegeben.'"

Aus diesem Beispiel geht zweierlei hervor: Erstens, wie die Belegschaft mittels des Aktienkurses unter Druck gesetzt wird, und zweitens, daß diese Aktienbeteiligung nichts an der Wirkungsweise des kapitalistischen Marktes ändert. Der Zwang zur Erwirtschaftung eines möglichst hohen Profits bleibt erhalten. Die Kehrseite der Medaille sind Einkommensverluste der Beschäftigten im Falle einer Wirtschaftskrise oder infolge von Schwierigkeiten des Unternehmens durch schlechtes Management.

In jüngerer Vergangenheit wurden, gerade in den neuen Bundesländern, Arbeiter an ihren Betrieben beteiligt, um die Löhne zu drücken und sogar Stillegungen vorzubereiten.

Mit dem Argument, das Unternehmen sei in seinem Bestand gefährdet, wurde die Belegschaft zu Lohnverzicht erpreßt und erhielt als Gegenleistung "Kapitaleinlagen", die bei der folgenden Liquidierung verloren waren. Die Arbeiter hatten am Ende weder Geld noch Arbeitsplatz.

So geschah es bei den Motorradwerken Zschopau. Vor Beginn der Privatisierung hatten die Motorradwerke Zschopau noch 2200 Arbeiter beschäftigt. Bis Ende 1991 war die Belegschaft bereits auf 650 geschrumpft. Als dann Schließungspläne der Treuhand Massenproteste auslösten, handelte der Betriebsrat folgenden Plan aus: "Unsere Belegschaft beteiligt sich ab Januar 1992 mit 10 % vom Netto-Lohneinkommen als zinsloses Darlehen an dem Unternehmen." Der damalige Betriebsratsvorsitzende Hoffmann: "Als Erpressung würde ich es nicht bezeichnen. Wir hatten praktisch keine andere Lösung mehr. Die Treuhand hatte bis jetzt schon 70 Millionen DM zur Verfügung gestellt und sie wollte eine Sicherheit, daß die Leute sich auch mit Leib und Seele für das Motorradwerk einsetzen."

Am Ende stand trotz Lohnverzicht, Darlehen und "Einsatz mit Leib und Seele" die Liquidierung des Unternehmens. Ähnliche Beispiele gibt es aus der Werftindustrie im Westen. Die Gewerkschaftsfunktionäre spielten jedesmal die Rolle von Maklern, die den Arbeitern diese faulen Händel andrehten.

Die massenhafte Ausgabe von Anteilsscheinen war auch das Mittel zur Privatisierung staatlicher Unternehmen in der ehemaligen Sowjetunion. Dies führte nicht zu einer Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter, sondern zu ihrer Unterwerfung unter einige wenige Großaktionäre und Banken.

Selbst wenn die Arbeiter zu einhundert Prozent Eigentümer ihres Betriebes sind - und es gab solche Versuche -, bleiben sie nach wie vor gezwungen, für den kapitalistischen Markt zu produzieren und die entsprechende Rentabilität zu gewährleisten. Das ganze läuft dann darauf hinaus, daß sie quasi ihre eigene Ausbeutung organisieren. Dem Diktat der Banken, ohne die kein Unternehmen wirtschaften kann, bleiben sie nach wie vor unterworfen. Sie haben auch, entgegen Ihren Annahmen, kaum Einfluß auf das "Ziel der Produktion", denn dieses wird ihnen weitgehend von den Marktbedingungen diktiert.

Das heutige Niveau der Produktionstechnologie bringt es natürlich mit sich, daß in vielen Bereichen die Arbeiter nicht mehr der plumpesten physischen Ausbeutung unterworfen werden können. Die Bedienung hochkomplizierter Anlagen erfordert ein gewisses Maß an Ausbildung, Sorgfalt und an eigenem Interesse an der Tätigkeit. Dies könnte man als eine der Voraussetzungen für den Sozialismus bezeichnen, die bereits im Kapitalismus geschaffen werden.

Doch Sie setzen in Ihrem Brief zwei Dinge gleich, die sich unmöglich unter einen Hut bringen lassen. Sie schreiben, daß die Arbeiter als Teilhaber die Motivation erhielten, "im Interesse der Gesellschaft zu arbeiten, also erst einmal im Interesse des eigenen Betriebes". Doch damit vereinen Sie zwei Gesichtspunkte, die sich im Kapitalismus nicht vereinen lassen. Das "Interesse des einzelnen Betriebes" kann auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Interessen keine Rücksicht nehmen, wenn das Unternehmen nicht bankrott gehen will. Es muß seine Konkurrenten unterbieten.

Wenn die Interessen des einzelnen Betriebes mit denen der Gesellschaft übereinstimmen sollen, so muß die gesamte Produktion nach einem vernünftigen Plan unter der demokratischen Kontrolle aller Arbeiter organisiert werden.

Um noch einmal auf das Modell des "Silicone Valley" zurückzukommen, so wird etwas ganz ähnliches hier von Teilen der Gewerkschaftsführung und von der CDU-Arbeitnehmervereinigung CDA unter der Bezeichnung "Investivlohn" propagiert. Sie streben ein Gesetz an, wonach Arbeitnehmer als Gegenleistung für eine Beteiligung am Unternehmenskapital auf einen Teil des Lohnes verzichten können.

Dies würde den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital nicht aufheben, sondern im Gegenteil verschärfen. Die Entscheidungsgewalt verbliebe natürlich vollständig in den Händen der alten Geschäftsleitung. Die Arbeiter hingegen wären Marktschwankungen schutzloser ausgeliefert als zuvor und gingen einer gewissen Einkommenssicherheit verlustig.

Der Unterschied zwischen der Schaffung sozialistischer und der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse besteht darin, daß die kapitalistischen Beziehungen spontan im Rahmen der alten Gesellschaft entstanden, sobald die Entwicklung der Produktivkräfte weit genug herangereift war. Sozialistische Verhältnisse bedeuten, daß die gesamte Wirtschaft und Produktion unter gesellschaftliche Kontrolle genommen und bewußt geordnet und geplant wird. Das schließt ihre spontane Entstehung aus.

Vielleicht erschien ihnen der Gedanke deshalb verlockend, weil unter der SED die Betriebe zwar rein juristisch betrachtet Gemeineigentum in staatlicher Hand waren, die Hauptnutznießer der Produktion jedoch nicht die Arbeiterklasse als Ganze, sondern die privilegierte Bürokratenschicht war. So dachten Sie vielleicht, daß durch die direkte Beteiligung der Arbeiter am Betrieb eine effektivere Kontrolle der gesamten Klasse möglich sein könnte. Doch dieser vermeintliche Ausweg ist eine Sackgasse.

Wir hoffen, daß wir Ihnen mit diesem Brief einige zusätzliche Denkanstöße vermitteln konnten, und würden uns über eine Antwort Ihrerseits sehr freuen.

Mit freundlichem Gruß

Ute Reissner

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