Wahlkampf im Zeichen der Krise

Auffallend an dem gegenwärtigen Bundestagswahlkampf, dessen "heiße Phase" nun von den etablierten Parteien eingeleitet wurde, ist vor allem die große Diskrepanz zwischen den nichtssagenden Wahlkampfreden und der wirklichen Welt.

Während die Aktienbörsen Rekordverluste melden und die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse immer bedrohlicher werden, diskutieren die Parteistrategen über die Farbe der Luftballons, die beim mediengerecht inszenierten Einmarsch des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten auf der zentralen Wahlkampfveranstaltung aufsteigen sollen.

Oder Regierung und Opposition werfen sich in speziell einberufenen Parlamentsdebatten zur gegenseitigen Belustigung politisches Versagen und Unfähigkeit vor, obwohl sie seit Jahren eng zusammenarbeiten und sich ihre wesentlichen Standpunkte nicht unterscheiden. Es geht immer nur darum, wer die selbe Politik besser und effektiver durchsetzt. Das hört sich dann an wie ein Familienkrach der Besserverdienenden, der keinen Außenstehender interessiert.

Man hat den Eindruck, es gibt zwei Welten, die reale und die im Wahlkampf inszenierte, mit ewig grinsenden Politikergesichtern, großen Pop- und Showeinlagen und stehenden Ovationen für einstudierte, völlig inhaltslose Phrasen über "Innovation" und eine "zweite Moderne".

In einem Land mit langer und ausgeprägter Tradition politischer Debatten und Auseinandersetzungen stößt diese "Amerikanisierung" des Wahlkampfs auf starke Ablehnung. Viele Menschen reagieren nur noch gereizt auf das Wort Wahlkampf. Niemand erwartet, daß durch die Wahlen am Ende des Monats ein einziges der großen gesellschaftlichen Probleme gelöst oder die Lage auch nur verbessert wird.

Woher kommt das nichtssagende Phrasendreschen, das vor allem bei der SPD auffällt? Von der CDU ist man es ohnehin gewohnt; außerdem ist ihre Politik nach 16 Regierungsjahren zur Genüge bekannt.

Die SPD spricht von "Politikwechsel", sagt aber kein einziges ernstzunehmendes politisches Wort. Sie könnte einen furiosen Wahlkampf gegen die Kohl-Regierung führen und angesichts von Massenarbeitslosigkeit wie in den dreißiger Jahren und ständig wachsender Zahl von Sozialhilfeempfängern die soziale Misere anklagen. Aber genau das will sie auf gar keinen Fall. Sie hat Angst, daß auch nur ein einziges kritisches Wort sofort aufgegriffen wird und einen sozialen Sturm auslöst.

Außerdem hält sie sich bedeckt, weil jeder unschwer nachweisen könnte, daß der Abbau sozialer Errungenschaften und demokratischer Rechte mit den Stimmen der SPD vollzogen wurde. Ein "Solidarpakt" und "Bündnis für Arbeit" jagte in den vergangenen Jahren das andere. Die SPD hat keine anderen Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme, als die gegenwärtige Regierung. Auch sie vertritt uneingeschränkt die Interessen der Wirtschaft. Auch ihre Devise lautet: Bereichert die Reichen!

Ein Blick über die Grenzen bestätigt das. In Großbritanien hat vor 15 Monaten der Sozialdemokrat Tony Blair mit seiner New Labor Party die Regierung übernommen. Seine scharfen Angriffe auf soziale Leistungen und demokratische Rechte haben selbst eingefleischten Hardlinern der Tories die Sprache verschlagen. Nicht anders in Frankreich unter Jospin, Prodi in Italien, Viktor Klima in Österreich.

Bereits jetzt befindet sich die Mehrzahl der europäischen Regierungen unter sozialdemokratischer Führung, und die politische Bilanz ist erschreckend: Die Zahl der Arbeitslosen in der EU stieg auf 25 Millionen, obwohl viele Regierungen Teilzeitarbeit, Billiglohnjobs und staatlichen Arbeitszwang für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger eingeführt haben oder vorbereiten. Der Gegensatz zwischen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, von denen viele trotz Arbeit nicht genügend verdienen, um ihre Familien vernünftig zu versorgen, und einer kleinen Elite von Superreichen und Millionären, die die Gesellschaft hemmungslos ausplündern, wird immer größer.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die hohle Phrasendrescherei. Die Parteien sind mit grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert, auf die keine von ihnen eine ernstzunehmende Antwort hat. Alle gewohnten politischen Verhältnisse und Mechanismen, die nach dem Krieg geschaffen wurden und fünf Jahrzehnte standhielten, brechen auseinander und funktionieren nicht mehr. Hinter den inhaltslosen Schlagworten des Wahlkampfs verbirgt sich eine tiefe Orientierungslosigkeit der etablierten Parteien.

Angesichts dieser Situation will die SPD bis zum Wahlabend jeder ernsten politischen Diskussion ausweichen und hofft, daß die weitverbreitete Opposition gegen die Kohlregierung zu Stimmengwinnen der SPD führt. Nicht mittels Unterstützung der eigenen, sondern durch die starke Ablehnung der Regierungspolitik hofft sie stärkste Partei zu werden.

Die Ereignisse in Rußland haben in der vergangenen Woche diesem zynischen Kalkül einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der schlagartige Zusammenbruch des Rubels und die dramatischen Einbrüche und Kursschwankungen an den Aktienbörsen lösten einen Schock aus. Angesichts der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise in Japan, Südostasien und Lateinamerika werden Erinnerungen an die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre wach.

Josef Joffe, Leitartikler der Süddeutschen Zeitung schrieb Ende vergangener Woche über die Situation in Moskau: "...die langen Schlangen vor den Banken erinnern schon an die schicksalhaften Tage im Mai 1931, als mit dem Zusammenbruch der Wiener Creditanstalt die Weltwirtschaftskrise begann."

Die Ereignisse in Rußland haben für Deutschland ganz besondere Bedeutung, und zwar wirtschaftlich wie politisch. Mit mehr als 30 Mrd. Dollar sind die deutschen Banken in Moskau am stärksten engagiert. Die Tatsache, daß diese Kredite fast vollständig durch Bundesbürgschaften abgesichert sind, mindert das Problem nicht, sondern zeigt nur, daß die Bundesregierung eine Schlüsselrolle spielte, um die sogenannten Oligarchen und ihre Mafiastrukturen, die jetzt allenthalben sichtbar werden, zu finanzieren.

Wieder könnte die SPD Roß und Reiter nennen. Sie könnte aufzeigen, daß Jelzins verheerende Politik maßgeblich von Deutschland aus finanziert und unterstützt wurde. Jelzins Duz- und Saunafreund Kohl trägt den größten Teil der Verantwortung für die dramatische Krise in Rußland und ihre Folgen.

Aber Kanzlerkandidat Schröder tut das Gegenteil. Er betont die Kontinuität einer sozialdemokratischen Regierung in der Außenpolitik. Während in Moskau immer deutlicher wird, daß die Last der Krise im Interesse sowohl der Oligarchen wie des IWF auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden soll und zu diesem Zweck General Lebed politisch aufgebaut wird, feiert die SPD Lebed in Europa als Garant für Frieden und Stabilität. Unterdessen bleibt es Kohl überlassen, sich als bewährter Krisenmanager darzustellen.

Mit Zunahme der internationalen Krise wird der Ruf nach einer Großen Koalition lauter. Bisher wurde ein solches Regierungsbündnis aus CDU und SPD nur als Notlösung in Betracht gezogen. Die Nachteile durch das Wegfallen einer sichtbaren, wenn auch nur formalen Opposition im Parlament wurden größer eingeschätzt, als der Vorteil einer uneingeschränkten Regierungsmehrheit. Die Regierung könnte dann schalten und walten wie sie will, betonen die einen, aber es wäre sehr schwer, die zu erwartende Opposition und den Widerstand in parlamentarische Bahnen zu lenken und unter Kontrolle zu halten, warnen die Kritiker.

Auch die Erinnerung an die zweite Hälfte der sechziger Jahre, als eine Große Koalition unter Leitung von CDU-Kanzler Kiesinger und Außenminister Willy Brandt regierte, sind nicht die besten. Die studentische Protestbewegung bezeichnete sich damals bewußt als "Außerparlamentarische Opposition" (APO) und setzte die Regierung stark unter Druck. Damals leitete die Große Koalition die Regierungsübernahme der SPD ein. Unter der Parole: "Mehr Demokratie wagen!" wurde kurze Zeit später Willy Brandt Bundeskanzler. Heute lautet der Schlachtruf der SPD: "Law and order!" Allein das zeigt, wie grundlegend sich die Situation geändert hat.

16 Jahre sind vergangen seit dem letzten SPD-Kanzler in Bonn. Anfang der achtziger Jahre stieß die Regierung unter Helmut Schmidt mit ihren ersten Sparprogrammen auf großen Widerstand in Betrieben und Verwaltungen. Viele Tausend Arbeiter demonstrierten damals, in der Hoffnung die SPD zwingen zu können, ihre Interessen zu vertreten.

Wer heute glaubt, die SPD werde dort weitermachen, wo sie vor anderthalb Jahrzehnten aufgehört hat, wird eine böse Überraschung erleben. Diese Partei hat seitdem eine grundlegende Wandlung vollzogen. Die letzten Reste ihrer Beziehung zur Arbeiterklasse wurden systematisch zerschlagen. Heute funktioniert die SPD uneingeschränkt als Instrument der Unternehmer.

Egal, ob am Wahlabend eine Koalition unter Leitung der SPD oder der CDU, im Bündnis mit den Grünen oder der FDP entsteht, ihre Aufgabe steht bereits fest. Im Interesse der herrschenden Elite sollen alle sozialen Errungenschaften, die noch nicht dem Rotstift zum Opfer gefallen sind, radikal abgebaut und jeder Widerstand dagegen mit staatlicher Gewalt rücksichtslos unterdrückt werden.

Knapp ein Jahrzehnt nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung leiten diese Wahlen eine tiefgreifende politische Veränderung in Deutschland ein.

Fünfzig Jahre lang, seit Kriegsende, stützte sich die bürgerliche Herrschaft in Westdeutschland, wie in vielen europäischen Ländern, auf ein System von Sozialpartnerschaft und Klassenzusammenarbeit. Alle gesellschaftlichen Schichten und Klassen waren in das politische System eingebunden, und die Regierung war darauf bedacht, die unterschiedlichen Interessen weitmöglichst auszugleichen.

In Deutschland war dieses Konsenssystem in Form von Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft weit entwickelt und gesetzlich geregelt. Doch die Globalisierung der Produktion und die Vorherrschaft der internationalen Kapitalströme haben dieser Politik die Grundlage entzogen. Es ist heute unmöglich, die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung mit sozialen Reformen und Verbesserungen für die Bevölkerung zu vereinbaren.

Jetzt heißt die Devise nicht mehr sozialer Ausgleich, sondern soziale Konfrontation. In dem Maße, in dem die Gesellschaft in Arm und Reich auseinanderbricht, zerbrechen auch die Volksparteien, auf die sich bisher die politische Macht stützte.

Die Tatsache, daß Helmut Kohl zum fünften Mal nach der Kanzlerschaft strebt, liegt nicht so sehr daran, daß er nicht von der Macht lassen kann, oder versäumt hat, rechtzeitig das Steuer an Wolfgang Schäuble abzugeben, wie die üblichen Erklärungsmuster lauten, sondern ist ein Ausdruck der tiefen Zerrissenheit und Spaltung der CDU. Kohl ist der einzige, der bisher die zentrifugalen Kräfte kontrollieren und - wie er mitunter selbst sagt - den "Laden zusammenhalten" konnte.

Seit ihrer Entstehung aus einer "christlichen Sammelbewegung" am Ende des Krieges vereinigt die CDU ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Kräfte: Bauern- und Vertriebenenverbände, Handwerker, Selbständige, Mittelstandsvereinigungen, Großindustrielle ebenso wie Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsflügel. Die unterschiedlichen, oft entgegengesetzten Interessen wurden in den Jahren des Kalten Kriegs durch strammen Antikommunismus zusammengehalten. Diese ideologische Klammer ging mit dem Untergang der Sowjetunion verloren, während gleichzeitig die Gegensätze der unterschiedlichen Klientel stärker aufeinanderprallen und die Möglichkeiten, sie zu bedienen, geringer werden.

Während seiner 25jährigen Herrschaft als CDU-Vorsitzender hat Helmut Kohl die langwierigen Entscheidungsprozesse in dieser Partei durch ein dichtes Netz aus persönlichen Vertrauten abgekürzt und wagt deshalb nicht, das Ruder aus der Hand zu geben. Vieles deutet darauf hin, daß nach der Wahl die Union in alle Richtungen auseinanderbricht - eine Entwicklung, die gegenwärtig in mehreren Ländern zu beobachten ist. In Italien ist die Democrazia Cristiana, auf die sich die bürgerliche Herrschaft seit Kriegsende jahrzehntelang stützte, vollständig von der politischen Bühne verschwunden. Auch die Gaullisten in Frankreich sind in eine Vielzahl rivalisierender Organisationen zerbrochen, und in England lähmen sich die Tories durch regionale und interne Konflikte.

Nicht anders ist die Situation in der SPD. Der Medienrummel um Gerhard Schröder und die Vereinbarung der Spitzengremien, alle internen Konflikte zu unterdrücken, lösen keines der Probleme. Daß Lafontaine und Schröder sich gezwungen sahen, die Parteigremien völlig zu entmachten und selbst Mitglieder des Parteivorstands die wichtigsten Entscheidungen erst aus den Medien erfahren, ist ein Ausdruck der wachsenden Gegensätze und Konflikte.

Die Weigerung der SPD, die tiefe soziale Krise der Gesellschaft auch nur anzusprechen, hat noch eine weitere bemerkenswerte Konsequenz. Sie überläßt damit die soziale Frage den rechtsradikalen Demagogen, die sie gezielt aufgreifen und zum ersten Mal in einem Bundestagswahlkampf in den Mittelpunkt ihrer Propaganda stellen. Vor wenigen Monaten erzielte die neofaschistische DVU bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, dem Bundesland mit der höchsten Arbeitslosigkeit und einer SPD-Landesregierung, mit knapp 13 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis einer rechtsradikalen Partei seit dem Ende des Hitlerfaschismus.

Die wichtigste Frage, die sich in diesen Wahlen stellt, ist die nach dem selbständigen politischen Handeln der Arbeiterklasse. Genau darauf ist die Wahlteilnahme der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) ausgerichtet. Im ersten Absatz ihres Wahlaufrufs heißt es: "Erst das Eingreifen von Hunderttausenden in das politische Geschehen wird der selbstherrlichen Macht der Absahner in Politik und Wirtschaft Einhalt gebieten." Um diese politische Entwicklung der Arbeiterklasse zu ermöglichen, vertritt die PSG ein Programm, das sich der Logik des kapitalistischen Markts widersetzt und den engstirnigen und reaktionären Interessen einer privilegierten Elite das Konzept einer solidarischen Gesellschaft entgegensetzt.

Auch in Bezug auf die politische Entwicklung der Arbeiter leitet diese Wahl eine neue Periode ein. Schon bisher stand die überwiegende Mehrheit der Arbeiter der SPD ablehnend oder zumindest kritisch gegenüber. Aber viele hatten die Hoffnung, daß es möglich sei, durch Druck auf diese Partei wenigstens Linderung zu schaffen. In einer kommenden Regierung tritt nun die SPD den Arbeitern als entschiedener Gegner und Feind entgegen. Das klärt die Fronten. Das Interesse an einer neuen sozialistischen Perspektive zeigt sich bereits in einer großen Zahl von Zuschriften und Anfragen an die PSG.

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