Der Tod von Semira Adamu und die Abschiebepolitik in Europa

Semira Adamu war 20 Jahre alt, als sie nach einem Abschiebungsversuch aus Belgien starb.

Am 22. September hatten elf Gendarmen das mit Plastikhandschellen gefesselte nigerianische Mädchen gewaltsam in ein Flugzeug verfrachtet. Als sie schrie und sich wehrte, drückten ihr zwei ein Kissen ins Gesicht. Semira fiel ins Koma und starb am selben Abend. Ärzten zufolge hatte sie eine Hirnblutung, verursacht durch eine Quetschung, erlitten.

Einer der beiden beteiligten Beamten war bekannt für sein brutales Vorgehen gegen Asylbewerber, das ihm im vergangenen Jahr bereits ein Disziplinarverfahren eingebracht hatte.

Das tragische Schicksal von Semira Adamu hat Belgien erschüttert. Über 5000 Menschen versammelten sich vergangenen Samstag vor der Kathedrale Saint-Michel in Brüssel, in der ein Trauergottesdienst für die junge Frau stattfand. Am Sonntag trat der belgische Innenminister Louis Tobback zurück. und übernahm damit die politische Verantwortung für den gewaltsamen Tod Semira Adamus. Der belgische König ernannte Luc van den Bossche, der wie Tobback der Sozialistischen Partei angehört, zu dessen Nachfolger.

Dem Innenminister und der Leitung der Polizei war Semira Adamu nicht unbekannt. Wenige Tage vor ihrem Tod war sie in einer Fernsehdokumentation aufgetreten, in der sie die unhaltbaren Zustände in dem geschlossenen Abschiebegefängnis Steenokkerzeel nördlich von Brüssel angeprangert hatte. Zuvor hatte die Ausländerbehörde bereits sechs Mal versucht, ihre Abschiebung durchzusetzen, was allerdings aufgrund von Protesten scheiterte.

Semira Adamu war aus Nigeria geflüchtet, weil ihre Stiefmutter - ihre Eltern sind tot - versucht hatte, sie an einen 65jährigen Mann zu verheiraten, der bereits drei Frauen hat. Semira Adamu floh zuerst mehrere Male nach Togo, wurde jedoch jedes Mal wieder aufgegriffen. Am 25. März diesen Jahres flüchtete sie sich schließlich mit Hilfe von Freunden nach Belgien. Doch alles, was sie von Belgien sah, war der Flughafen und die geschlossene Haftanstalt von Steenokkerzeel.

Semiras Asylgesuch wurde mit der Begründung abgelehnt, die Genfer Flüchtlingskonvention sage nichts über Fälle von schlecht behandelten Frauen aus. Auch nach ihrem Tod verteidigte der Flüchtlingsbeauftragte der belgischen Regierung, Luc de Smet, die Ablehnung des Asyls. Die junge Frau habe ihren Antrag nicht "glaubwürdig und zusammenhängend" begründen können, rechtfertigte er sich.

Der Fall von Semira Adamu ist kein Einzelfall. In Belgien hat die Große Koalition aus christdemokratischer und sozialistischer Partei unter Führung von Dehaene allein für dieses Jahr 15.000 Abschiebungen vorgesehen. Wie das "Komitee gegen Abschiebungen" berichtet, wurden bis zum Sommer 5000 durchgeführt. Dabei sei es oft zu brutalen Mißhandlungen gekommen.

Erst im Juni dieses Jahres hatte der Fall eines 17jährigen Somalis Aufsehen erregt. Er wurde am 29. Juni nach Ruanda ausgeflogen. Fuaad Ahmed Nur hatte Somalia mit 12 Jahren verlassen, nachdem seine Eltern in einem Massaker getötet worden waren. Bis November 1997 verbrachte er sein Leben in einem Flüchtlingslager in Äthiopien. Als dieses Lager aufgelöst wurde, flüchtete Fuaad Ahmed Nur nach Ruanda. Von dort half ihm eine Organisation belgischer Missionare, nach Brüssel zu fliegen, in der Hoffnung, er sei dort sicher. Doch weil sich Fuaad Ahmed vor seiner Ankunft in Belgien in sogenannten "sicheren Drittländern" aufgehalten hatte, wurde sein Asylgesuch sofort abgelehnt.

Das traurige Schicksal der jugendlichen Flüchtlinge in Belgien wirft ein Schlaglicht auf ganz Europa. Je näher die europäische Einigung rückt, je mehr Zollschranken, Währungs- und Steuerhindernisse für europäische Konzerne und Banken fallen, um so höher errichten die EU-Mitgliedsstaaten die Schranken für Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten.

Die Rolle des Vorreiters bei der Beseitigung demokratischer Rechte für Asylsuchende hat Deutschland übernommen. 1993 beschloß der Bundestag mit den Stimmen der SPD die drastische Einschränkung des Asylrechts und führte die Bestimmung ein, Flüchtlinge, die nicht aus einem anerkannten "Verfolgerstaat" kommen und die über ein angeblich "sicheres Drittland" - statt auf direktem Luft- oder Seeweg - einreisen, als Asylbewerber abzulehnen. Sie gelten als "illegale Einwanderer" und können schon an der Grenze oder am Flughafen abgewiesen werden.

Seitdem verschärfte die Bundesregierung Jahr für Jahr die Repressionen gegen Asylsuchende. Die Unterhaltsleistungen wurden drastisch gekürzt, und Anfang dieses Jahres schlug Bundesinnenminister Manfred Kanther vor, die Zahlungen für abgelehnte Asylbewerber völlig zu streichen. Bundesgrenzschutz und Polizei machten Jagd auf "illegale" Grenzgänger und blinde Passagiere und trieben sie immer häufiger in den Tod. Erst kürzlich starben sieben Kosovo-Albaner bei einem Busunglück, das eine Verfolgungsjagd des BGS verursacht hatte.

Gleichzeitig übt die Bundesregierung Druck auf alle anderen EU-Länder aus, die deutschen Bestimmungen zu übernehmen. Neben der Drittstaatenregelung, die mittlerweile in vielen Ländern, so auch Belgien, gilt, setzte die Bundesregierung europaweit weitere Beschränkungen des Asylrechts durch: die Visapflicht für 135 Staaten außerhalb Europas; die Bestrafung von Verkehrsunternehmen, vor allem der Fluglinien, die Flüchtlinge ohne ausreichende Papiere oder mit gefälschten Papieren transportieren; den europaweiten Datenaustausch über Asylbewerber; verstärkte Kontrollen an den Außengrenzen und im Inland; und schließlich die Inhaftierung von abgelehnten Asylbewerbern. Zudem forderte Kanther ein vereinheitlichtes Fingerabdrucksystem für Flüchtlinge.

Als Anfang dieses Jahres die italienische Regierung kurdischen Flüchtlingen politisches Asyl gewähren wollte, die an der süditalienischen Küste gelandet waren, drohte Kanther Italien unverhohlen mit Konsequenzen, falls es kurdische Flüchtlinge nicht an der Weiterreise nach Deutschland mit allen Mitteln hindere.

"Generell geht es derzeit darum, Flüchtlinge daran zu hindern, überhaupt noch nach Europa zu gelangen", erklärte Herbert Leuninger, der frühere Sprecher der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl in einem Vortrag über "Asylpolitik in Europa". "Das Abwehr- und Abschreckungskonzept, wie es vor allem in Deutschland entwickelt wurde, hat in allen europäischen Ländern mit unterschiedlicher Wirkung Schule gemacht."

Semira Adamus Schicksal macht noch auf eine weitere Tatsache aufmerksam. Es sind immer mehr Kinder und Jugendliche, die inhaftiert und ohne jede Rücksichten abgeschoben werden. Weltweit befinden sich nach Schätzungen internationaler Hilfsorganisationen mindestens sechs Millionen Kinder allein auf der Flucht. Bis zu 10.000 "unbegleitete" Minderjährige halten sich in Deutschland auf.

Auch in dieser Frage geht Deutschland mit unrühmlichem Beispiel voran und handelte sich deshalb bereits Ende 1995 die Kritik des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes in Genf ein. Trotzdem verschärfte die Bundesregierung die Lage ausländischer Kinder weiter. Mit dem sog. Kanther-Erlass vom Januar 1997 wurde der Visumzwang für Kinder eingeführt.

Pro Asyl, die mit dem Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE) zusammenarbeitet, verwies anläßlich des Weltkindertags am 20. September auf "die absolut negative Bilanz der Bundesregierung" in dieser Frage. "Wenn 12jährige ohne Vorankündigung nach Vietnam, eine 14jährige Rumänin ohne Betreuung nach Bukarest und eine 16jährige Kurdin selbst gegen den Rat der deutschen Botschaft in die Türkei abgeschoben werden und allein in diesem Jahr in Berlin über 80 Minderjährige in Abschiebehaft sitzen, dann wird das 'Wohl des Kindes' einer beispiellosen und reibungslosen Abschottungs- und Abschreckungsideologie untergeordnet", sagte Heiko Kauffmann, der Sprecher von Pro Asyl.

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