Studien widerlegen "steigende Jugendkriminalität"

Seit mehreren Jahren warnen Politiker aller Bonner Parteien vor einer anwachsenden Kriminalität und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen, um im gleichen Atemzug eine härtere Bestrafung der jugendlichen Täter zu fordern. Insbesondere vor der bayerischen Landtagswahl und der zwei Wochen später folgenden Bundestagswahl war dieses Thema in den Medien allgegenwärtig. Der designierte sozialdemokratische Justizminister Otto Schily hat während der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen zu erkennen gegeben, daß er die Bestrebungen nach einer härteren Bestrafung von Jugendlichen, speziell der ausländischen, weiterführt und gewillt ist, diese auch durchzusetzen.

Inzwischen sind mehrere Studien erschienen, die belegen, daß diese Kampagne sich einzig und allein auf die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) stützt, und dies obendrein mit einer sehr oberflächlichen und einseitigen Sichtweise. Die PKS sagt nichts über die tatsächliche Zahl der jugendlichen Gewalttäter oder Kriminellen aus, sondern nur über die Zahl der von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen. Die PKS, auf die sich Politiker und die ihnen verbundenen Medien stützen, ist somit nicht mehr als ein Arbeitsbericht der Polizei. Schon frühere Studien hatten darauf hingewiesen, daß z. B. von 5,6 jugendlichen Tatverdächtigen, die 1996 als Mörder angeklagt waren, nur einer wirklich verurteilt worden war. Bei schwerer Körperverletzung betrug das Verhältnis 4,5 zu 1, bei Raub 3,6 zu 1. Die stark ansteigenden Zahlen in der PKS lassen daher nur auf eines schließen: die Polizei ist bedeutend aktiver gegenüber Jugendlichen geworden.

Die Jugendforscher Jürgen Mansel und Klaus Hurrelmann weisen in ihrem Beitrag für die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Jg. 50, Heft 1, 1998, S. 78 - 109) auf eine weitere Erklärung hin, weshalb die Zahlen der PKS stark angestiegen sind. Eine veränderte Einschätzung oder gesteigerte Sensibilität gegenüber "Gewalt" von Jugendlichen seitens der Bevölkerung könnten eine erhöhte Anzeigebereitschaft zur Folge haben. "In diesem Sinne kann davon ausgegangen werden, daß die beklagte Entwicklung [Erhöhung der Jugendkriminalität] durch einen selbstproduzierten Kreislauf verstärkt wird. Je mehr über die Kriminalität berichtet wird, desto mehr steigt das Bedrohungsempfinden. Mit diesem steigt die Anzeigebereitschaft und damit die Zahl der registrierten Täter. Damit kann wiederum über einen erneuten Kriminalitätsanstieg berichtet werden, etc."

Bei Kindern läßt sich aber selbst aus den Zahlen der PKS keine hohe Kriminalitätsrate oder Gewaltbereitschaft ablesen. Die Studie Kinder- und Jugendkriminalität in München von der kriminologischen Forschungsgruppe der bayerischen Polizei stützt sich ausschließlich auf die PKS und kommt zum Schluß, daß "nach wie vor aber nur ein sehr kleiner Teil der Kinder polizeilich auffällig [wird]. Die weitere Differenzierung nach dem Alter der Kinder macht darüber hinaus deutlich, daß sich die hinsichtlich der Kinderdelinquenz gern aufgestellte Behauptung ,immer mehr und immer jünger‘ mit den polizeilichen Daten nicht belegen läßt."

Weiter heißt es in der Studie: Auch "die Behauptung ,immer schlimmer‘ [läßt sich] mit der polizeilich registrierten Kinderdelinquenz nicht belegen. Kinder begehen ihre (Straf-)Taten nach wie vor ganz überwiegend im Bagatellbereich von Ladendiebstählen und Sachbeschädigungen. Dieser Befund wird durch die Analyse der Kriminalakten aller 8- bis 13jährigen Kinder, die 1995 mit Delikten der Gewaltkriminalität auffielen, bestätigt."

Die Studie nennt auch Beispiele für sogenannte "minder schwere Fälle", die dennoch in die PKS aufgenommen werden: Unter anderem der Sandkastenstreit zwischen einem eineinhalbjährigen Kind mit einem älteren Kind über ein Spielzeug. Die Mutter des jüngeren Kindes hatte Strafanzeige gestellt.

Weiter heißt es: "Nur eine einzige Anzeige wegen eines Gewaltdeliktes ging von einer Schule ein - angesichts der Diskussion zur ,Gewalt an Schulen' sicherlich ein bemerkenswerter Befund."

Die Zahlen für München sind tendenziell nicht von denen der gesamten Bundesrepublik verschieden. Es wurden 1997 nur 0,16 Prozent aller Kinder von 8 bis 14 Jahren einer Gewalttat verdächtigt. Die Politiker und Medien benutzen natürlich nicht diese Zahlen bei ihrer "Law-and-Order"-Kampagne, sondern nur die prozentualen Steigerungen der Tatverdächtigenzahlen. So ist die Zahl der oben genannten 0,16 Prozent Kinder laut PKS im Vergleich zum Jahre 1984 eine Steigerung von 234,9 Prozent (!).

Bei den Tatverdächtigenzahlen der 14- bis 18jährigen gibt es ebenfalls einen gewaltigen Anstieg in der PKS. Doch auch hier rechtfertigen die Zahlen nicht die geschürte Angst vor einer "Gewaltwelle" unter Jugendlichen. Die bayerischen Polizeiforscher erklären anhand ihrer Untersuchungen, daß Jugendkriminalität nur einen geringen Teil der Jugend betrifft - "82,6 Prozent der polizeilich festgestellten Delikte entfallen auf das eine Drittel der Tatverdächtigen mit fünf und mehr Straftaten" - und zweitens Kriminalität (besser: Delinquenz) eine eben typische Phase der Jugend ist: "Gerade im Jungerwachsenenalter zwischen 21 und 25 Jahren geht die Belastung mit polizeilich registrierter Kriminalität auf etwa die Hälfte zurück."

Die Forschungsgruppe schließt: "Trotz der - auch 1996 und 1997 weiter festzustellenden - Zunahme von Gewalttaten mit jugendlichen Tatverdächtigen ist ihre quantitative Bedeutung nicht so groß, wie man es vor allem der Medienberichterstattung her erwarten könnte: Ausgehend von den Daten der Aktenstichprobe dürften 1995 in München etwa 200 schwerwiegendere Gewalttaten mit 14- bis 17jährigen Tatverdächtigen polizeilich registriert worden sein - bei 38.000 Jugendlichen, die in diesem Jahr in München gemeldet waren."

Wesentlich detaillierter und bemüht, die PKS-Daten mit Hilfe anderer Methoden zu überprüfen, ist die Studie Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen von Christian Pfeiffer u. a., herausgegeben von der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V. (DVJJ). Diese Forschungsarbeit bestätigt die Aussagen zur quantitativen Bedeutung von Jugendkriminalität der Münchener Studie zumindest in Bezug auf Westdeutschland. Rund 0,9 Prozent aller Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren waren 1997 einer Gewalttat verdächtig.

Die Forscher waren auch in der Lage, durch eine Aktenstudie in Hannover die These der "immer brutaler" werdenden Jugendlichen zu entkräften. "Im Vergleich von 1993 zu 1996 hat der Anteil der Raubdelikte, in dem es zu einer Verletzung des Opfers gekommen ist, deutlich abgenommen (von 41,6 auf 32,0 Prozent). (...) Auch bei Einbeziehung der Daten des Jahres 1990 (nur angeklagte Fälle) bestätigt sich der Befund. Diese Ergebnisse stehen im Einklang damit, daß der Einsatz von Waffen bei den hier untersuchten Gewalttaten rückläufig war (von 34,2 auf 17,5 Prozent)."

Die Gruppe um Christian Pfeiffer versucht, die PKS u. a. anhand der Statistiken der Strafverfolgungsbehörden zu überprüfen. Im Verhältnis zu den stark erhöhten Tatverdächtigenzahlen fällt auf, daß die Behörden eine weitaus geringere Erhöhung der Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende zu verzeichnen haben (von 1984 bis 1996: plus 12,5 Prozent).

Hier lassen sich allerdings zwei unterschiedliche Entwicklungslinien erkennen. Trotz eines sehr starken Anstiegs der Ermittlungen wegen einfacher Diebstahls- und Betrugsdelikte seitens Jugendlicher werden diese seltener aufgrund dieser Delikte verurteilt. Aus Kosten- und Zeitersparnis sind viele Gerichte angewiesen, Verfahren gegen Bagatelldelikte einzustellen - meist gegen ein Bußgeld. Dafür werden Jugendliche in einem größeren Ausmaß für Gewaltdelikte verurteilt. Während 1984 nur jedes dreizehnte wegen einer Gewalttätigkeit von Jugendlichen eingeleitete Ermittlungsverfahren mit einer Verurteilung abgeschlossen wurde, war es 1989 bereits jedes zehnte und 1994 jedes siebte. Offensichtlich haben sich auch die Staatsanwälte und Richter der veröffentlichten Meinung angeschlossen, daß einer vermeintlichen Zunahme der jugendlichen Gewalttaten nur mit erhöhter Sanktionierung beizukommen ist.

Besonders drastisch werden in den Medien immer die Kriminalitätsraten von ausländischen Jugendlichen geschildert. Auch die Studie Pfeiffers zitiert unkritisch die PKS und stellt fest, daß der Anstieg der absoluten Zahlen der Tatverdächtigen (14-21 Jahre) "zu 82,9 Prozent auf einer Zunahme der Nichtdeutschen beruht." Richtig wird betont, daß ein Grund in der Bevölkerungsentwicklung zu suchen ist. Während die Zahl der deutschen Jugendlichen seit 1984 um ein Drittel zurückgegangen ist, ist die der nichtdeutschen im gleichen Alter um ein Drittel gestiegen. Ob aber eventuell die Ermittlungs- und Strafbehörden rigoroser gegen Ausländer, insbesondere gegen Asylsuchende, agieren, diese Frage stellt sie nicht oder weist sie vereinzelt zurück. Dem unvoreingenommenen Leser drängt sich diese Frage allerdings auf.

So berichtet die Studie, daß Einstellungsentscheidungen wegen mangelnden Tatverdachts gegenüber Deutschen seltener als gegenüber Ausländern erfolgten. Offensichtlich war die Polizei in ihren Ermittlungen gegen ausländische Jugendliche übereifrig. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb auch bei den Verfahrenseinstellungen aufgrund des Bagatellcharakters der Straftat (Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit) diejenigen der ausländischen Jugendlichen überwiegen.

Wenn es jedoch darum ging, ein Verfahren trotz hinreichenden Tatverdachts zugunsten einer Ermahnung oder Weisung seitens des Gerichts einzustellen, überwogen die Einstellungen bei Deutschen. Beispielsweise sind 1996 in Hannover 29 Prozent aller Verfahren gegen deutsche Tatverdächtige in dieser Weise eingestellt worden, aber nur 18 Prozent bei Ausländern. Insgesamt überwiegen zwar die Tatverdächtigenzahlen der Ausländerjugend, aber da deren Verfahren überproportional häufig eingestellt werden, werden beispielsweise junge Türken oder Italiener im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil nicht häufiger verurteilt als deutsche Jugendliche.

Die "wachsende Ausländerjugendkriminalität", wie sich aus der PKS folgern läßt, ist also offensichtlich nicht real, sondern den diesbezüglichen Aktivitäten der Polizei geschuldet. Mansel und Hurrelmann, die sich auf Befragungen von Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen und Sachsen beziehen, bestätigen dies: "...etwa jeder zweite männliche junge Ausländer, der nach eigenen Angaben eine potentiell strafrechtlich relevante Handlung ausgeführt hat, muß damit rechnen, von der Polizei als Tatverdächtiger registriert zu werden, von den jungen Deutschen hingegen nur jeder Sechste."

Die Studie Pfeiffers versteht sich auch als Grundlage für Hilfen für jugendliche Opfer und Täter sowie für die Prävention von jugendlicher Kriminalität. Sie berücksichtigt daher auch soziale Aspekte und versucht, die Ursachen jugendlicher Gewalt aufzuspüren. Ihr Fazit einer Aktenanalyse in Hannover lautet: Kriminalität von Jugendlichen hat vor allem soziale Ursachen. Mehr als ein Drittel aller Tatverdächtigen weisen ein niedriges Bildungsniveau auf. Zunehmend steigt die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen unter den Angeklagten, die keine Schule mehr besuchen, von 38,2 Prozent im Jahre 1990 auf 60,4 Prozent 1996. Bei Jugendlichen ohne deutschen Paß ist sowohl ein niedriges Bildungsniveau als auch Arbeitslosigkeit noch stärker verbreitet.

In der von der Forschergruppe durchgeführten Schülerbefragung ergab sich zudem ein bedrückendes Bild über das häusliche Leben der Jugendlichen. Während 20 Prozent der Befragten angaben, im vergangenen Jahr mindestens einmal Täter eines potentiellen Gewaltdelikts gewesen zu sein, gaben mehr als das Doppelte (42,9 Prozent) an, Opfer von Gewalt ihrer Eltern gewesen zu sein. Je größer die sozialen und finanziellen Probleme der Familie waren (Arbeitslosigkeit und/oder Sozialhilfebezug), desto höher waren die Angaben zur elterlichen Gewalt. Ausländische Jugendliche, insbesondere türkische, waren von dieser Situation am häufigsten betroffen. Litt die Familie unter Arbeitslosigkeit oder dem Bezug von Sozialhilfe, berichtete fast jeder zweite türkische Jugendliche, daß er von seinen Eltern geschlagen wird.

Es bestätigte sich auch, daß unter den Opfern elterlicher Gewalt die Gewaltbereitschaft und -tätigkeit größer ist. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Jugendlicher, der Opfer schwerer elterlicher Gewalt ist, auch gewalttätig handelt, ist mehr als doppelt so hoch wie bei Jugendlichen, die niemals elterliche Gewalt erleben mußten.

Fassen wir noch einmal zusammen. Eine "dramatische" Entwicklung der Kriminalität von Kindern ist überhaupt nicht festzustellen. Die wachsende Kriminalität von Jugendlichen insbesondere von ausländischen Jugendlichen hat ihre Gründe vor allem in einer aktiveren Polizei und einer erhöhten Anzeigebereitschaft von Teilen der Bevölkerung.

Ausländische Jugendliche sind von den verstärkten Polizeiaktivitäten, eventuell auch von der erhöhten Anzeigebereitschaft - Jürgen Mansel will letzteres in einer zukünftigen Studie untersuchen -, aber besonders von sozialer Ungleichheit in stärkerem Maße betroffen als ihre deutschen Altersgenossen. Dennoch ist auch die Entwicklung der Kriminalität von Jugendlichen, gleich welcher Nationalität, nicht so dramatisch, wie in der Öffentlichkeit suggeriert wird. Die nicht enden wollende Kampagne gegen jugendliche Gewalttäter kann daher nur als Ausdruck der enormen sozialen Polarisierung verstanden werden. Sie dient einer Verschärfung der Gesetze und einer Stärkung des Staates, quasi als vorbeugende Maßnahme für Auseinandersetzungen mit Jugendlichen.

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