Der rot-grüne Koalitionsvertrag

Vage Versprechen und Opfer von allen!

Drei Wochen, nachdem Kanzler Kohl mit großer Mehrheit abgewählt wurde, unterzeichneten Sozialdemokraten und Grüne einen Koalitionsvertrag, in dem unter der Überschrift "Aufbruch und Erneuerung" die "Leitlinien der kommenden Regierungspolitik" abgesteckt sind. Das 78 Seiten umfassende Vertragswerk bleibt aber in nahezu allen wesentlichen Fragen äußerst allgemein, vage und mehrdeutig, über weite Strecken eine Vereinbarung der leeren Worte.

Es erweckt den Eindruck, daß es nur dazu dient, eine Regierung zu inthronisieren, deren zukünftige Politik weder von Parteitags- oder Parlamentsbeschlüssen, noch von Koalitionsabsprachen bestimmt wird. Offensichtlich wollen sich die Regierungsmitglieder angesichts unberechenbarer Faktoren, wie der raschen Verschärfung der internationalen Wirtschaftskrise, den Handlungsspielraum in alle Richtungen offenhalten.

Auffallend an den recht zügigen Verhandlungen der vergangenen Tage war die Bereitschaft der Grünen, alles mitzumachen.

Entstanden aus einer Protestbewegung gegen die SPD-Regierung unter Helmut Schmidt und deren unsozialen Sparmaßnahmen vor zwanzig Jahren, standen sie ursprünglich nicht nur in ökologischen, sondern auch in demokratischen und sozialen Fragen links von der SPD. Oft stützten sie sich auf Bürgerinitiativen. Lange wurden sie als die "Alternativen" bezeichnet.

Inzwischen haben sie eine schier atemberaubende politische Wandlung vollzogen. Am Deutlichsten wurde das durch ihre Zustimmung zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr im Kosovo am Freitag vergangener Woche. Aber auch in den Koalitionsverhandlungen traten sie als Mittelstandspartei auf. Selbst in den klassischen Bereichen grüner Politik - Umweltschutz, Anti-AKW, Asylrecht und Staatsaufrüstung - hatten sie nichts Zukunftsweisendes zu sagen. Und als die SPD schließlich die befristete Aussetzung einiger der gravierendsten sozialen Angriffe der Kohlregierung vorschlug, meldeten sich die Grünen zu Wort und sprachen sich dagegen aus, daß die Rentenkürzungen zurückgenommen werden.

Die rapide Verwandlung der Grünen ist deshalb so bedeutsam, weil sie ein grelles Licht auf die Veränderungen und Umbrüche wirft, die gegenwärtig in allen Parteien stattfinden. Ohne programmatischen und sozialen Tiefgang reagiert diese Partei auf gesellschaftliche Veränderungen wie ein Blatt im Wind.

Bei der SPD nimmt diese Entwicklung etwas andere Formen an. Sie ist die älteste Partei in Deutschland und reagiert auf die wachsende soziale Polarisierung mit heftigen inneren Spannungen, Reibereien und Auseinandersetzungen. Vieles in diesem Koalitionsvertrag liest sich daher wie eine Übereinkunft der unterschiedlichen Standpunkte, die in dieser Partei existieren, sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner der SPD.

Aber werfen wir zunächst einen Blick auf die Fakten. Es wäre verfehlt hinter den vagen Andeutungen und eingeschränkten Ankündigungen keinen zusammenhängenden Gedanken zu erkennen.

Die Präambel der Vereinbarung beginnt mit den Worten: "Die Bundesrepublik Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Tiefgehende ökonomische, ökologische und soziale Veränderungen verlangen nach einer entschlossenen Reformpolitik."

Unausgesprochen verbirgt sich hinter dieser "entschlossenen Reformpolitik" ein verstärkter Abbau von sozialen und demokratischen Errungenschaften und Rechten. An anderer Stelle haben SPD und Grüne das immer wieder betont. Alle müßten Opfer bringen und sich von "gewohnten Besitzständen" lösen. Um aber Opfer zu fordern - so das Credo der neuen Regierung - müsse das gesellschaftliche Ganze in den Mittelpunkt gerückt werden. Niemand sei bereit, Opfer zu bringen, wenn andere in der Gesellschaft die Möglichkeit hätten, sich uneingeschränkt zu bereichern.

Ausdrücklich heißt es einige Absätze weiter in der Präambel, die neue Bundesregierung werde "alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren" und bündeln, um die großen "wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Probleme in der Bundesrepublik Deutschland" zu lösen. Das viel beschworene "Bündnis für Arbeit" muß hier in einem breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang verstanden werden.

War die alte Regierung durch die wachsenden Gegensätze ihrer wirtschaftlichen und politischen Klientel blockiert, so beginnt die neue mit der Hervorhebung des gesellschaftlichen Ganzen. Die Steuerpolitik soll nicht mehr ausschließlich dazu dienen, die Reichen zu bereichern, sondern die gesellschaftliche Entwicklung als Ganze zu steuern.

"Mit der großen Steuerreform sorgen wir für mehr Gerechtigkeit sowie für eine Stärkung der Binnenkonjunktur und der Investitionskraft; mit der ökologischen Steuerreform senken wir die Lohnnebenkosten und belohnen umweltfreundliches Verhalten," heißt es im Koalitionsvertrag.

Das Kapitel "Große Einkommen- und Körperschaftssteuerreform" ist in der Tat bereits weitgehend ausgearbeitet und trägt eindeutig die Handschrift des künftigen Finanzministers Oskar Lafontaine. In drei Stufen soll der Eingangssteuersatz von gegenwärtig 25,9 Prozent auf 19,9 Prozent, der Spitzensteuersatz von 53 auf 48,5 Prozent gesenkt werden. Die Körperschaftssteuer für einbehaltene Gewinne soll von 45 auf 35 Prozent gesenkt werden.

Trotz steigender Energiepreise durch die geplante Ökosteuer, soll diese Veränderung vor allem in den unteren und mittleren Einkommen zu einer spürbaren Verbesserung führen. "Richtig ist", schreibt der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe "daß vor allem Kleinverdiener durch die rot-grünen Steuerpläne entlastet werden. Familien mit Kindern werden von bis zu einem Drittel ihrer Steuerlast befreit. Sie stehen allemal besser da als am Ende der Kohlschen Kanzlerschaft."

Die Gegenfinanzierung dieser Steuerentlastung hat einen wahren Proteststurm der Unternehmerverbände ausgelöst. Denn außer durch die Ökosteuer werden die Mittel vor allem dadurch aufgebracht, daß rund 70 legale Steuerschlupflöcher, Vergünstigungen und "Ausnahmetatbestände" gestrichen werden - vorwiegend zu Lasten der Unternehmer und Spitzenverdiener.

Seit anderthalb Jahrzehnten daran gewöhnt, daß Steuerpolitik nach dem Prinzip: "Bereichert die Reichen!" betrieben wird, reagierten einige Unternehmerfunktionäre wie von der Tarantel gestochen. Der designierte Wirtschaftsminister Jost Stollmann, ein typischer Vertreter dieser Schicht reicher Emporkömmlinge und Börsenspekulanten, warf das Handtuch und betonte gegenüber seinen Yuppie-Freunden, er sei von Lafontaine bitter getäuscht worden.

BDI-Chef Hans-Olaf Henkel bezeichnete die Steuerpläne als "Programm zur Vernichtung von Arbeitsplätzen", er werde "alles daran setzen, daß die Koalitionsvereinbarung so nicht umgesetzt wird", und warnte vor einer "aktuellen Bedrohung des Mittelstandes". Auch Hans-Eberhard Schleyer, Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, fürchtet, daß der Mittelstand zum "Zahlmeister der geplanten Steuerreform" wird. Und Hans Peter Stihl, Präsident des DIHT, warnte vor dem "Geist der Umverteilung". So könne die Koalition den Kampf gegen Arbeitslosigkeit nur verlieren.

Kanzler in spe Schröder, dessen Wirtschaftspolitik bisher darin bestand, den Unternehmern die Wünsche von den Lippen abzulesen, war angesichts dieser Schelte überrascht und wich sofort einen Schritt zurück. Eine Nachbesserung zugunsten der kleinen und mittleren Betriebe sei "durchaus vorstellbar". Lafontaine dagegen nutzt den Unmut der Unternehmerverbände, um sich als Mann des Volkes zu profilieren. Die "Reichen und Bonzen" (O-Ton Lafontaine) müßten jetzt auch mal ran. Es könne nicht angehen, daß diejenigen, die immer von Opfern sprechen und sie bei anderen einfordern, ungeschoren davon kommen.

Wer allerdings erwartet, Lafontaine werde auch in Zukunft Arbeiterinteressen vertreten, wird alsbald eine Überraschung erleben, denn die Einschränkung der extremsten Form sozialer Ungleichheit dient vor allem dazu, ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft zu verhindern und einer sozialen Explosion zuvorzukommen. Schon bald werden mit dem Hinweis, daß einige Steuerschlupflöcher geschlossen worden seien, den Arbeitern neue Kürzungen und Einschränkungen aufgebürdet.

Viele der gummiartigen Formulierungen im Koalitionsvertrag weisen darauf hin. In der langen Liste von Themen, die ein "Bündnis für Arbeit" behandeln soll, stehen Flexibilisierung der Arbeitszeit und Teilzeitarbeit an erster Stelle. Gleichzeitig will die Regierung den Druck auf Arbeitslose erhöhen, um Billiglohnjobs durchzusetzen. Stärker als bisher sollen die Gewerkschaften und ihr Apparat eingesetzt werden, um Kürzungsmaßnahmen so zu gestalten, daß sie besser durchgesetzt werden können. Nicht zufällig wurde Walter Riester, der bisherige stellvertretende Vorsitzende der IG Metall, bereits vor Monaten als neuer Arbeitsminister nominiert.

Die Ökosteuer entpuppt sich als eine neue Massensteuer. Kraftstoff wird vom 1. Januar an sechs Pfennige je Liter teurer, Heizöl um vier Pfennige. Der Strompreis steigt um zwei Pfennige je Kilowattstunde und Gas wird um 0,32 Pfennige pro Kubikmeter teurer. Große Teile der Industrie - die besonders energieabhängigen, also Hauptenergieverbraucher - bleiben von dieser ersten Stufe der Energiesteuererhöhung ausdrücklich verschont.

Noch deutlicher wird der Charakter der neuen Regierung, betrachtet man die Vereinbarungen zur Inneren Sicherheit. Hinter der allgemeinen Formulierung: "...entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen" verbirgt sich die uneingeschränkte Fortsetzung der rechts-konservativen Politik des bisherigen Innenministers Manfred Kanther.

Der "Große Lauschangriff", mit dem vor Jahresfrist grundlegende demokratische Rechte eingeschränkt wurden, bleibt unverändert bestehen. Keine Einschränkung der Telefonüberwachung; keine Abschaffung des Kontaktsperregesetzes; keine Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes mit dem die verdachtsunabhängige Kontrolle in Zügen und Bahnhöfen eingeführt wurde; und keine, seit langem geforderte Reform des Strafvollzugs.

Zwar wird die doppelte Staatsbürgerschaft zugelassen, aber die Abschaffung des Asylrechts bleibt. Die Flüchtlings-Hilforganisation "Pro Asyl" kommentierte die Vereinbarungen über das künftige Ausländer- und Asylrecht mit den Worten: "...enttäuschend und absolut nicht ausreichend... Es ist beschämend, daß SPD und Grüne sich noch nicht einmal auf eine Härtefallregelung im Ausländergesetz geeinigt haben. Ein Politkwechsel darf nicht die Fortsetzung der Kantherschen Ausländerpolitik der Abwehr, Gleichgültigkeit und Ausgrenzung sein."

Was den geplanten "Ausstieg aus der Kernenergie" betrifft, der ohne jegliche Fristen und im Einvernehmen mit den Unternehmensleitungen der Betreiberfirmen angestrebt wird, so sei nur darauf hingewiesen, daß mit Bodo Hombach als Kanzleramtsminister und Werner Müller als Wirtschaftsminister zwei Spitzenmanager der beiden größten deutschen Energiekonzerne am Kabinettstisch Platz nehmen.

Gerade weil die neue Regierung davon ausgeht, daß auch in Zukunft über weitere Kürzungen und Sparmaßnahmen heftige Spannungen und Konflikte zu erwarten sind, versucht sie sich als Interessensvertreterin der großen Mehrheit darzustellen und kündigt einige unmittelbare Verbesserungen für viele an - die aber allesamt ausdrücklich unter "Finanzierungsvorbehalt" gestellt wurden. Das Kindergeld steigt von jetzt 220 auf 250 Mark und in drei Jahren um weitere 10 Mark. Die von der alten Regierung beschlossene Senkung des Rentenniveaus ab kommenden Jahres von derzeit 70 auf 64 Prozent wird ausgesetzt, ebenso die Kürzungen bei Invalidenrenten. Das jährliche 20-Mark-Notopfer für Krankenhäuser fällt ab sofort weg. Chronisch Kranke und Ältere werden bei der Arzneimittelzuzahlung entlastet. Auch die Streichung des "Schlechtwettergeldes" wird rückgängig gemacht und das Bafög für Studenten geringfügig erhöht.

Die Betonung des gesellschaftlichen Ganzen durch die neue Regierung geht Hand in Hand mit einer Minderung der Rolle des Parlaments. Was Lafontaine und Schröder bereits im Wahlkampf praktizierten, das Fassen von Beschlüssen im engsten Kreis, die dann von der Partei nur noch abgenickt werden, setzt sich jetzt in der Beziehung zwischen Regierung und Parlamentsfraktion fort. Nicht Debatte und Beschlußfassung der sogenannten Volksvertreter bestimmen die Regierungspolitik, sondern umgekehrt, die Regierung legt fest, was im Parlament debattiert wird, läßt ihre Politik absegnen und durch die Parlamentarier nach außen tragen.

In diesem Zusammenhang steht der vielleicht schärfste Konflikt, der im Laufe der Koalitionsverhandlungen aufkam: Die Auseinandersetzung um die Rolle des dritten Manns in der einstigen "Troika" an der Spitze der SPD, Rudolf Scharping. Lafontaine wollte unter allen Umständen verhindern, daß mit Scharping an der Spitze der Fraktion ein drittes Machtzentrum neben dem Kanzleramt und dem Finanzministerium entsteht. Scharping mußte sich fügen. Er wurde ins Verteidigungsministerium abgeschoben. Die Fraktion wird von Peter Struck geführt, einem fügsamen Parteifunktionär. "Die wirkliche Niederlage dieser Tage haben neben Scharping vor allem die Fraktion und damit das Parlament erlitten," kommentierte Die Zeit. "Den Abgeordneten ist vorexerziert worden, praktisch am ersten Tag, daß sie an Stellenwert verlieren."

Die Stärkung der Regierung auf Kosten des Parlaments wurzelt in der Entfremdung des gesamten politischen Establishments von der breiten Masse der Bevölkerung. In dem Maße, wie die Parteien die bewußte Anhängerschaft und aktive Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten verloren haben, werden die demokratischen Strukturen zu brüchigen Schalen ohne Inhalt. Je mehr die Mitglieder der Parlamentsfraktionen ihren Charakter als "Volksvertreter" einbüßen, desto weniger Gewicht können sie gegenüber der Exekutive auf die Waagschale bringen.

Vorläufig nimmt die Konzentration der Macht in den Händen der Regierung die Form einer Doppelspitze von Kanzler Schröder und Finanzminister Lafontaine an, der die Kompetenzen seines Ressorts stark erweitert hat. In den vergangenen Tagen wurde viel darüber spekuliert, wer nun die Richtlinien der Politik bestimme, der Kanzler, der formal über die Richtlinienkompetenz verfügt, oder der Superminister im Finanzministerium.

Schröder, der seinen Aufstieg in die Spitze der Partei dem starken Einfluß neoliberaler Politik verdankt, der auch auf die SPD wirkte, und dessen politische Weisheit sich darin erschöpft, den Unternehmern und Finanzmärkten freie Bahn zu schaffen, steht vor dem Problem, daß diese Politik weltweit an ihre Grenzen stößt. Mit jedem Tag, an dem das Chaos an den Finanzmärkten zunimmt und die Forderungen nach politischer Kontrolle lauter werden, wächst der politische Einfluß von Lafontaine. Der Konflikt zwischen beiden birgt noch manche überraschende Entwicklung in sich.

Gegenwärtig bildet ihre Zusammenarbeit ein Spannungs- bzw. Kraftfeld, mit dem sie versuchen, die SPD vollständig zu dominieren und der Regierung unterzuordnen.

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