Pinochets Verhaftung löst diplomatische Krise aus

Aufgrund eines in Spanien ausgestellten Haftbefehls hat die britische Polizei am Freitag, den 16. Oktober, General Augusto Pinochet in der "London Clinic" verhaftet, wo er sich einer dringenden Rückenoperation unterzogen hatte. Seine Verhaftung führte zu einer diplomatischen Krise, die sich auf Großbritannien, Spanien, Chile und Amerika erstreckt.

Der britische Guardian schrieb am Dienstag: "Es sieht so aus, als ob die Vereinigten Staaten hinter den Kulissen die Fühler ausstreckten, wie sie verhindern könnten, daß der General nach Spanien ausgeliefert wird, wo ihm ein Prozeß wegen Folter und Völkermord droht. Sie befürchten wohl, es könnte ans Licht kommen, daß die USA selbst tief in den Putsch, der Pinochet an die Macht brachte, verstrickt waren." Der Guardian beleuchtet im folgenden die zentrale Rolle, die Amerika bei dem Putsch von 1973 gespielt hatte, und schreibt: "Die USA leisteten Beihilfe, indem sie 'Berater' schickten, die General Pinochet vor und nach seinem Staatsstreich unterstützten und ihm bei der darauf folgenden 'Aufstandsbekämpfung' tatkräftig unter die Arme griffen. Ungefähr 400 amerikanische 'Berater' standen General Pinochet zur Seite."

Der Besuch des chilenischen Diktators in Großbritannien erfolgte mit vollem Wissen und Billigung der Labour-Regierung. Der britische Botschafter in Santiago, Gwynne Evans, war über die Reise lang im Voraus informiert worden. Pinochet reiste mit einem Diplomatenpaß nach England und wurde am Londoner Flughafen als VIP empfangen. In einer Erklärung seines Anwalts heißt es: "Die Erlaubnis, dieses Land zu besuchen und sich darin aufzuhalten, ist in seinen Diplomatenpaß eingestempelt. In früheren Jahren ist General Pinochet mehrmals ungehindert und mit Billigung der Regierung Ihrer Majestät nach Großbritannien eingereist."

General Pinochet war oft und gerne zu Besuch in England, wo er sich häufig mit Margaret Thatcher traf. Mehrmals besuchte er Waffen- und Kriegsgeräte-Hersteller, die an Käufern interessiert waren. 1994 organisierte British Aerospace eigens für ihn eine Schau ihrer Raketenwerfer, und das Nationale Armeemuseum empfing ihn mit allen Ehren. Auch 1995 wurde er eine ganze Woche lang von Aerospace ausgehalten, nachdem sie einen Großauftrag vom chilenischen Waffenkonzern Famea erhalten hatten.

Ein offizieller Eintrag in den Unterlagen der chilenischen Botschaft hält fest, daß er im Oktober 1997 in England war. Damals fand gerade der Labour-Parteitag statt. Während der Zeit schloß er in seiner Funktion als Oberkommandierender der chilenischen Streitkräfte mehrere Verträge mit britischen Waffenherstellern ab. Letzte Woche erklärte Pinochet in einem Interview mit der Zeitschrift New Yorker, sein gegenwärtiger Besuch sei eine seiner "regelmäßigen Reisen" nach England. Er gab an, er sei als Chiles "Waffenkäufer" im Land.

Die Verhaftung scheint sowohl für die britische, als auch für die spanische Regierung überraschend gekommen zu sein. Ohne Pinochets Geschichte als brutaler Diktator auch nur mit einem Wort zu erwähnen, erklärte ein Sprecher des Premierministers Tony Blair: "Das ist ein rein juristischer Vorgang, und er wird seinen normalen Lauf nehmen." Innenminister Jack Straw folgte einer ähnlichen Linie, als er sagte: "Ich werde diesen Fall wie jeden andern behandeln, sozusagen auf der juristischen Ebene. Ich werde danach handeln, was die Fakten dieses Falles zeigen."

Der spanische Außenminister Abel Matutes erklärte: "Dies ist eine juristische Entscheidung, und die spanische Regierung wird die Entscheidung der Gerichte immer respektieren."

Die Nachricht von der Verhaftung traf während des Ibero-Amerikanischen Gipfels in Porto ein, an dem der spanische Ministerpräsident Aznar und der chilenische Präsident Eduardo Frei teilnahmen. Die chilenische Regierung reichte sofort eine offizielle Beschwerde gegen Pinochets Verhaftung ein und erklärte, er genieße diplomatische Immunität. In Santiago fanden Ausschreitungen von Pinochet-Anhängern vor der britischen Botschaft statt.

Ausgelöst wurde die Krise, als zu Beginn der vorletzten Woche zwei spanische Richter, Baltasar Garzón und Manuel García Castellón, Kontakt mit den britischen Behörden aufnahmen und darum baten, Pinochet verhören zu dürfen. Castellón sagte, er wolle Pinochet im Zusammenhang mit Folter und dem Verschwinden spanischer Bürger während des Putschs von 1973 befragen. Garzón führt eine Untersuchung über Menschenrechtsverletzungen in Chile und Argentinien durch. Am 14. Oktober schalteten die Richter INTERPOL in Madrid ein, die mit ihrer britischen Zweigstelle Verbindung aufnahm und einen Haftbefehl ausstellte, damit Pinochet festgenommen werden konnte.

Letzten Monat vor genau 25 Jahren wurde in Chile die Volksfrontregierung von Salvador Allende durch einen blutigen Putsch gestürzt. Damals bombardierten Hawker-Düsenjäger, die in England hergestellt waren, den Präsidentenpalast, in dem Allende ermordet wurde. Amerikanisches Geld und CIA-"Berater" sicherten Pinochet den Sieg. Armee, Polizei und faschistische Mörderbanden brachten allein am Tag des Putsches mindestens dreitausend Menschen um. Weitere Tausende wurden in improvisierte Konzentrationslager getrieben, wo massenhaft gefoltert wurde und Erschießungen am laufenden Band stattfanden. Die Tötungen hörten 17 Jahre lang nicht auf, solange Pinochet an der Macht war. Aus einer Bevölkerung von nur zehn Millionen Menschen wurden mindestens 50.000 Oppositionelle ermordet.

Ausländische Konzerne erhielten ihre Besitztümer zurück, die unter Allende verstaatlicht worden waren. In Chile wurden eine rücksichtslose monetaristische Politik und ein Wirtschaftsmodell des freien Marktes ausgetestet, das später auch in London, Madrid und Washington zum Einsatz kam. Margaret Thatcher bewunderte Pinochet. Er unterstützte Großbritannien im Krieg gegen Argentinien um die Malwineninseln.

Journalisten verweisen oft darauf, daß in Chile ja nach Pinochets Rücktritt 1990 wieder "demokratische" Verhältnisse eingekehrt seien. Der Militärapparat übt jedoch nach wie vor große Macht aus, und ein Gesetz von 1978 garantiert den Obristen Straffreiheit für Verbrechen, die sie während der Diktatur verübt hatten. Pinochet genießt aufgrund einer besonderen Klausel in der Verfassung persönliche Immunität als Senator auf Lebenszeit. Seinen Posten als Oberkommandierender der Armee übergab er erst dieses Jahr an einen seiner engsten Spießgesellen.

Der Zynismus der bürgerlichen Politik wird an dem Nachdruck sichtbar, mit dem die britische und spanische Regierung darauf bestehen, daß die "Pinochet-Affäre" einen ausschließlich juristischen Charakter habe. In England wurde eine voreilige Bemerkung von Minister Peter Mandelson, Pinochet sei "ein brutaler Diktator", im Kabinett schleunigst korrigiert und als "wenig hilfreich und emotional" bezeichnet.

Die imperialistischen Regierungen in Europa und Amerika sind äußerst wählerisch, wenn es um die Verurteilung von Diktaturen und Regimen geht, die Menschenrechte verletzen. Die Verhaftung von Pinochet, einem Massenmörder, der mit aktiver Beteiligung der USA und Unterstützung des "demokratischen" Westens an die Macht kam, entlarvt ihre Heuchelei. Sie denunzieren Saddam Hussein und Muammar Ghaddafi als Monster, die geächtet, wenn nicht vom Erdboden gebombt werden müssen. Für politische Feinde wie Karadzic in Bosnien fordern sie ein Kriegsverbrechertribunal. Aber Militärherrscher wie Indonesiens Suharto und Chiles Pinochet, die westliche Investitionen verteidigten, indem sie die Opposition der Arbeiter im Blut ertränkten, werden als hochgeschätzte und vertraute Verbündete behandelt.

Die Opfer der chilenischen Diktatur begrüßen den Vorstoß der spanischen Richter und hoffen, daß endlich einer der lateinamerikanischen Tyrannen für seine Verbrechen vor Gericht gestellt wird und Rechenschaft ablegen muß. Gleichzeitig haben viele aufrichtige Demokraten berechtigte Zweifel, daß man von einem System Gerechtigkeit erwarten kann, das Pinochet immer gefeiert hat, an seinen Investitionen in teures Kriegsgerät verdient und davon profitiert hat, daß er den transnationalen Konzernen Chile als Billiglohnland öffnete.

Die spanischen Behörden müssen innerhalb der nächsten vierzig Tage ihre Gründe für eine Auslieferung darlegen. Die erste Anhörung wird vor dem Magistratsgericht in London stattfinden. Pinochet ließ wissen, er werde sich einem Prozeß resolut widersetzen, und er hat die Möglichkeit, durch alle Instanzen bis hinauf zum britischen Oberhaus Berufung einzulegen. Die letzte Entscheidung fällt jedoch dem britischen Innenminister Jack Straw zu. Falls es Pinochet gelingen sollte, seinen diplomatischen Status durchzusetzen, dann kann er das Land als freier Mann verlassen und nach Chile zurückzukehren.

Die Verhaftung mit ihren Konsequenzen wirft Licht auf die unterschwelligen Spannungen und Krisen der herrschenden Kreise. Das Auslieferungsbegehren bringt diesseits und jenseits des Atlantik die üblichen diplomatischen und politischen Beziehungen ins Stocken. Ein öffentlicher Prozeß für Pinochets Taten seit 1973 könnte eine breite soziale Bewegung gegen jene Machthaber in Chile auslösen, die bis heute ungestraft geblieben sind. Washington kann einer Einmischung in das Gebiet, das es immer als seinen "Hinterhof" betrachtet hat, keinesfalls passiv zuschauen - besonders wenn die Verstrickung der USA in den Putsch von 1973 und die folgenden schrecklichen Zustände dabei aufs Tapet kommen. Pinochets Verhaftung hat eine Lawine losgetreten, die möglicherweise schwer zu stoppen sein wird.

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