Europa unter sozialdemokratischer Führung

editorial der Zeitschrift "gleichheit"

In dieser Woche wird die November-Ausgabe der Zeitschrift "gleichheit" ausgeliefert. Wir dokumentieren im Folgenden das editorial.

Mit der Vereidigung der rot-grünen Minister in Bonn nimmt nun endgültig die Sozialdemokratie in Europa das politische Zepter in die Hand. In den fünfzehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft geben elf sozialdemokratische Regierungschefs den Ton an und in zwei weiteren sind sie auf einflußreichen Ministerposten an der Regierung beteiligt (Belgien und Luxemburg). Nur in Spanien und Irland sind sie nicht in der Regierung vertreten, aber auch dort stützen sich die Regierungschefs auf eine enge Zusammenarbeit mit der sozialdemokratischen Opposition.

Wenn in zwei Monaten der Euro eingeführt und mit dieser gemeinsamen Währung ein neuer Abschnitt der europäischen Zeitrechnung beginnt, werden der SPD-Kanzler Schröder und sein grüner Außenminister Fischer den turnusmäßigen Vorsitz der Union führen.

Doch wohin steuert Europa unter sozialdemokratischer Führung?

Eine solche Vorausschau erfordert einen Blick zurück. Es ist nicht zum erstenmal in der Nachkriegsperiode, daß sozialdemokratische Parteien in Europa starken politischen Einfluß ausüben. Vor 25 Jahren war das schon einmal der Fall. Doch die Situation war sehr unterschiedlich.

Damals wurden die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien durch eine starke Bewegung der Arbeiterklasse an die Macht getragen. Ausgehend von umfassenden Studentenprotesten, Streiks und Fabrikbesetzungen im Frühsommer 1968 in Frankreich erschütterte eine Welle von großen Klassenkämpfen ein Land nach dem anderen und hielt bis weit in die siebziger Jahre hinein an. In Deutschland feierten Arbeiter die Regierung unter Willy Brandt als ihren Sieg, in Portugal und Griechenland, später auch in Spanien wurden militärisch-faschistische Diktaturen gestürzt, in Großbritannien zwangen die streikenden Bergarbeiter 1974 die konservative Heath-Regierung zum Rücktritt, und in Frankreich löste - mit etwas Verspätung - die Wahl des Sozialisten Mitterrand zum Staatspräsidenten Triumphfeiern auf den Straßen aus.

Die Hoffnungen, die in diese Regierungen gesetzt wurden, waren groß, die Illusion, sie würden einem allmählichen und friedlichen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus den Weg ebnen, weit verbreitet. Doch die Sozialdemokratie betrachtete es als ihre wichtigste Aufgabe, die Mobilisierung der Arbeiterklasse zu zügeln. Als die Weltwirtschaft Mitte der siebziger Jahre zunehmend aus den Fugen geriet, leitete sie einen scharfen Rechtsschwenk ein, der den Arbeitern ihre Hoffnungen raubte und den Konservativen den Weg zurück an die Macht ebnete.

Mit der Regierungsübernahme von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA begann Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre eine neue Periode, die durch ein wahres Trommelfeuer auf alle Sozialstaatseinrichtungen gekennzeichnet war. "Deregulierung", "Flexibilisierung" und "Privatisierung" lautete nun der Schlachtruf, den eine Regierung nach der anderen übernahm. Wirtschaftspolitisch bestand ihre Weisheit darin, die schnell wachsenden Kapitalmärkte von jeglicher Kontrolle und Verantwortung zu befreien.

Von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften im Stich gelassen, stand die Arbeiterklasse diesen Angriffen weitgehend hilflos gegenüber. Als dann auch noch die Sowjetunion zusammenbrach, hatte die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus scheinbar endgültig jede Grundlage verloren. Dem "Triumph der Marktwirtschaft" mit allem, was er mit sich brachte - Arbeitslosigkeit und Armut am einen, sagenhaften Reichtum am anderen Pol der Gesellschaft - schienen keine Grenzen mehr gesetzt.

Doch der "Triumph der Marktwirtschaft" untergrub auch die soziale Grundlage der Konservativen. Solange die Mittelschichten vom Angriff auf die Arbeiterklasse profitierten und in allen Lebensfragen weitgehend versorgt waren, schien ihre Macht unerschütterlich. Inzwischen hat die Vorherrschaft der internationalen Kapitalmärkte und die damit verbundene Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich auch die Mittelschichten auseinandergerissen. Ein kleiner Teil stieg in die Reihen der Spekulanten und Einkommensmillionäre auf, während der größere Teil auf das Niveau von Angestellten, Scheinselbständigen und nicht selten Arbeitslosen absank.

Als Folge verloren die konservativen Parteien nicht nur die Macht, sie brachen auch auseinander und verschwanden teilweise völlig von der Bildfläche. In Italien ist von der Democrazia Cristiana, die fünfzig Jahre lang die Regierungspolitik beherrschte, kaum etwas übrig geblieben. In Frankreich befindet sich die bürgerliche Rechte in einem scheinbar endlosen Zerfleischungsprozeß. In Großbritannien steckt die traditionsreiche Tory-Partei in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Auch in Deutschland droht die CDU nach dem Ende der Ära Kohl in alle Richtungen auseinanderzubrechen.

Die Ideologie des ungehemmten Marktes hat spätestens seit dem Zusammenbruch der asiatischen Tigerstaaten, die stets als Musterbeispiel für dessen Effizienz galten, einen schweren Dämpfer erlitten. Die Krise in Rußland und Lateinamerika und der damit verbundene Einbruch an den Börsen hat ihr endgültig den Garaus gemacht.

"Die Lage ist so ernst", schreibt Le Monde diplomatique in ihrer jüngsten Ausgabe unter der Überschrift "system error", "daß sie den Untergang einer orthodoxen Wirtschaftstheorie zur Folge haben wird, die seit nunmehr zwanzig Jahren in aller Welt eifrig angewendet wird. Schon jetzt werden die Deregulierung der Kapitalströme und der monetaristische Fanatismus in Frage gestellt... Lange ist alles gutgegangen. Der Abstand zwischen Arm und Reich klaffte zwar immer weiter auseinander. Aber das war eben der Preis für Effizienz... Die liberale Gegenreform war auf dem Vormarsch und offerierte den Aktionären - das heißt den ohnehin Reichen - immer saftigere Stücke aus den öffentlichen Fleischtöpfen. Im Dezember 1996 hatte der Dow Jones Index der New Yorker Börse 6400 Punkte erreicht, danach stieg er noch weiter... Am 17. Juni 1998 kletterte der Dow Jones auf 9337 Punkte. Dann stürzten die Kurse überall. 1997 hatte die Moskauer Börse die weltweit höchsten Gewinne zu verzeichnen, heute gibt es keine Börse, der es schlechter ginge." Die Ideologie der Marktliberalen sei mit dem Eisberg der Realität kollidiert und habe irreparabel Schaden genommen. ( Le Monde diplomatique vom 16. 10. 1998)

Die Sozialdemokratie verdankt ihre Rückkehr an die Spitze der europäischen Regierungen in erster Linie der Krise ihrer konservativen Vorgänger und der breiten Ernüchterung über deren neoliberale Politik. Von einer Antwort auf die soziale Krise, oder gar einer neuen gesellschaftlichen Vision ist dagegen nichts zu spüren.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß der neue deutsche Finanzminister Lafontaine und sein französischer Kollege Strauss-Kahn sich für eine stärkere internationale Kontrolle der Kapitalmärkte stark machen und eine gemeinsame Finanzpolitik der Europäischen Gemeinschaft in dieser Richtung anstreben. Selbst konservative Experten sind inzwischen der Auffassung, die Liberalisierung der Finanzmärkte könne nicht wie bisher fortgesetzt werden. So fordert Claus Köhler, ehemaliges Mitglied des Bundesbank-Direktoriums, eine sogenannte "Wechselkurs-Lösung", wonach möglichst viele Staaten "feste Austauschverhältnisse definieren und diese bei Bedarf, nach festgelegten Regeln anpassen" sollen.

Die Beschneidung der wildesten Auswüchse der Spekulation, die das internationale Finanzsystem bedrohen, würde nichts an dem grundlegenden Prozeß ändern, der die Weltwirtschaft in den letzten beiden Jahrzehnten geprägt hat: der Globalisierung der Produktion. Die moderne Wirtschaft wird von transnationalen Konzernen dominiert, die die Produktion weltumspannend planen und organisieren. Ihre Vorherrschaft über alle Bereiche des wirtschaftlichen Lebens hat der Politik des sozialen Ausgleichs, die Europa in der Nachkriegszeit prägte, den Boden entzogen.

Die Ironie der Geschichte will es, daß sich 1968 viele der heutigen Regierungschefs und Minister am linken Flügel der Sozialdemokratie befanden oder - wie der grüne Außenminister Fischer - sich sogar "Revolutionäre" nannten. Aber sie sind seither nicht nur älter und wohlhabender geworden, sie haben sich auch gründlich zum Kapitalismus bekehrt. Und wie die Erfahrung lehrt, sind spät Bekehrte oft die fanatischsten Verteidiger einer Lehre. Ein grundlegender politischer Kurswechsel jedenfalls ist von der Sozialdemokratie nicht zu erwarten.

Unter dem Druck der Ereignisse sieht sie sich zwar gelegentlich gezwungen, die soziale Gerechtigkeit zu betonen und den Reichen einige Opfer abzuverlangen. Aber das dient dazu, die Gesellschaft zusammenzuhalten, um dann im Namen des gesellschaftlichen Ganzen noch größere Opfer von den Armen zu fordern. "Reformen fordern Opfer", lautet die neue Devise.

Finanzminister Lafontaine hat dies drastisch vor Augen geführt. Das Protestgeheul aus dem Unternehmerlager über seine Steuerpläne, die einige Schlupflöcher für die Wohlhabenden stopfen, war noch nicht verstummt, da rückte er bereits mit einem neuen Vorschlag heraus, der selbst den Sozialpolitikern im konservativen Lager den Atem stocken ließ: der Abschaffung der Arbeitslosenversicherung. Arbeitslosenunterstützung und Pflegeleistungen sollen nur noch an Bedürftige bezahlt werden, schlug er dem verdutzten SPD-Parteitag vor, der eigentlich den Koalitionsvertrag absegnen sollte.

Die sozialdemokratischen Parteien, die über Jahrzehnte hinweg als Organisationen des sozialen Ausgleichs fungierten, machen sich nun daran, die Sparprogramme durchzusetzen, an denen ihre konservativen Vorgänger gescheitert sind. Das eröffnet eine Periode heftiger politischer Auseinandersetzungen und Konflikte. Die sozialdemokratische Herrschaft in Europa leitet eine Zeit großer politischer Instabilität ein. Die medienwirksame Zurschaustellung der Geschlossenheit kann nicht über die tiefe innere Zerrissenheit und Schwäche dieser Regierungen hinwegtäuschen. Sie haben keine zukunftsweisenden Antworten auf die komplexen Probleme der Gesellschaft.

Wie lange diese Instabilität andauert und in welcher Richtung sie überwunden wird, hängt stark von der kommenden politischen Entwicklung der Arbeiterklasse ab. Seit den siebziger Jahren und den großen Hoffnungen, mit Hilfe der sozialdemokratischen Parteien einen gesellschaftlichen Wandel durchzusetzen, hat tiefe politische Ernüchterung um sich gegriffen.

Eine neue Generation in den Werkshallen und Büros tritt der offiziellen Politik, egal welcher Couleur, mit tiefer Verachtung und Ablehnung gegenüber. Die Tatsache, daß Kohl und seine verhaßte Regierung nur durch eine Stimmabgabe für die SPD aus dem Amt geworfen werden konnte, ändert an dieser Haltung nichts. Jetzt muß die kritische Opposition vieler Arbeiter durch eine eigenständige politische Perspektive ergänzt werden. Es ist dringend nötig, daß die Arbeiterklasse als unabhängige gesellschaftliche Kraft in die politische Entwicklung eingreift. Ein solches selbständiges politisches Handeln erfordert vor allem ein klares und unvoreingenommenes Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung.

Diesen eigenen und unverstellten Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen, hat sich das World Socialist Web Site, die Tageszeitung der Vierten Internationale im Internet, zum Ziel gesetzt. Durch gewissenhafte Recherchen, grundlegende Analysen und Kommentare, nicht nur der Entwicklung in Deutschland und Europa, sondern weltweit, wird es wesentlich zur politischen Meinungsbildung beitragen und ein neues Kapitel in der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse aufschlagen. In der gleichheit werden ab dieser Ausgabe die wichtigsten Beiträge aus dem World Socialist Web Site zusammengefaßt.

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