Kontroverse über die keltische Geschichte

Zu einer neuen Ausstellung im British Museum

Das British Museum wird gegenwärtig in großem Umfang reorganisiert. Als Teil dieser Neugestaltung sind vor kurzem drei neue Ausstellungsräume eröffnet worden, die thematisch dem Bronzezeitalter in Europa, dem keltischen Europa und dem römischen Britannien gewidmet sind. Dieser Zeitraum reicht etwa von 2 500 v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert nach Christus.

Es handelt sich dabei um ständige Ausstellungen, die für den Zeitraum einer Generation bestand haben und eine fachkundige Deutung von drei Jahrtausenden Geschichte geben sollen. Eine der Ausstellungen hat sich jedoch bereits als überraschend kontrovers entpuppt. Simon James, ein Kurator des Museums und leitender Angestellter der Universität Durham, hat die Bezeichnung Keltisches Europa in Frage gestellt: "Jeder hat schon von den Kelten gehört. Doch immer mehr Archäologen kommen zu dem Schluß, daß die Kelten des Altertums, wie wir sie bisher verstanden haben, niemals wirklich existiert haben", schreibt James. Deshalb, so fährt er fort, habe er E-Mails erhalten, die ihn der "ethnischen Säuberung" und des "Völkermords" bezichtigen.

Folgt man James, so wurden "die ‚Kelten des Altertums‘ weniger entdeckt als vielmehr von Generationen von Wissenschaftlern nach und nach erfunden". Hingegen gibt es Wissenschaftler, die argumentieren, die Kelten seien die Vorfahren der heutigen Iren, Waliser und Bretonen, und daß Versuche, dies zu leugnen, rassistisch seien. Die Auseinandersetzung hat sich so zugespitzt und ist so sehr ins Persönliche abgeglitten, daß Wissenschaftler, die in Fachzeitschriften publizieren, sich sogar aufgefordert fühlen, die ethnische Herkunft ihrer Großmutter zu erläutern. Läßt man diese Beschimpfungen einmal beiseite, so zeigt sich, daß ein vordergründig ziemlich klarer Streit zwischen zwei Seiten doch um einiges komplizierter ist.

Nur wenige Archäologen leugnen die Existenz der Kelten während der europäischen Eisenzeit, die etwa von der Mitte des 8. Jahrhunderts v.Chr. bis zur Eroberung durch die Römer reichte. Noch 1993 schrieb James selbst ein Buch, Exploring the World of the Celts("Erforschung der Welt der Kelten"). Die Beweise für ihre Existenz sind insgesamt bemerkenswert zahlreich für eine so frühe geschichtliche Periode. Griechische und römische Schriftsteller berichten von einem Volk, das sie mal Kelten, Gallier oder Galater nannten. Im 4. Jahrhundert v. Chr. berichten sie uns, daß die Kelten Rom einnahmen und Gesandte an den Hof Alexanders des Großen von Babylon schickten. Im dritten Jahrhundert nahm eine Gruppe keltischer Krieger Delphi ein, während drei Stämme sich in der heutigen Türkei niederließen. Ihre Nachfahren wurden immer noch Galater genannt, als der Heilige Paulus ihnen im ersten Jahrhundert n. Chr. schrieb. Die Römer kämpften über 300 Jahre lang in Norditalien, Spanien und Frankreich gegen die Kelten. Zu Zeiten, da sie nicht gegeneinander kämpften, so zeigen es die archäologischen Befunde, trieben sie Handel miteinander.

Mit der Eroberung ihrer Gebiete wurden die Kelten von der römischen Gesellschaft aufgesogen, während sie sich ihrer unterschiedlichen Identität bewußt blieben. Der römische Dichter Martial war stolz auf seine keltischen Vorfahren. Julius Cäsar, der keltische Stämme im heutigen Frankreich besiegte, hinterließ vergleichsweise detaillierte schriftliche Aufzeichnungen über ihre soziale und politische Organisation. Er macht darauf aufmerksam, daß zwischen Britannien und dem kontinentalen Europa enge kulturelle Beziehungen bestanden. Eine zunehmende Zahl von Inschriften, die auf dem Kontinent gefunden wurden, bestätigt diese Auffassung. Sie zeigen, daß in Spanien und Norditalien Sprachen gesprochen wurden, die dem heutigen Walisisch, Gälisch und Bretonisch verwandt sind. Darüber hinaus tragen einige Götter und religiöse Feste des heidnischen Irland die gleichen Bezeichnungen wie die der kontinentalen Kelten.

Natürlich ist es schwierig, die Zusammenhänge zwischen den sprachlichen, archäologischen und schriftlichen Zeugnisse herzustellen. Für so einen frühen Zeitraum der europäischen Geschichte bestehen wie erwartet weiterhin große Lücken in unserem Wissen, und einige Fragen werden nie mit Sicherheit beantwortet werden können. Doch über die Existenz oder Nicht-Existenz der Kelten zu streiten, ist nicht wirklich eine historische Kontroverse. Daß sie mit solcher Leidenschaft geführt wird, läßt erahnen, daß sich unausgesprochene Fragen größerer Tragweite hinter dem öffentlichen Streit verbergen.

Der Streit geht nicht wirklich darum, ob die Kelten existierten oder nicht, sondern darum, was Geschichte und was das Wesen historischer Fakten ist. Er geht darum, ob die Geschichte wissenschaftlich oder mystisch sein soll. Der Archäologe Vere Gordon Childe befaßte sich mit dieser Frage im ersten Kapital seines Buches Man Makes Himself von 1936.

Childe schrieb in einer Zeit, in der die Folgen des Ersten Weltkriegs und der Großen Depression noch spürbar waren und ein weiterer Weltkrieg sich bereits abzeichnete. Er erkannte, daß der optimistische Glaube an den Fortschritt, der im neunzehnten Jahrhundert so dominierte, geschwunden war. Eine neue Stimmung des Mystizismus und Obskurantismus beeinflußte die Gesellschaft als Ganze sowie das Studium der Geschichte. Er machte sich daran, den Fortschritt während der prähistorischen Periode nachzuweisen, als Gegengift gegen die faschistische Ideologie, die Archäologen nach den Ursprüngen der Nazi-Herrenrasse suchen ließ, und gegen die sentimentale Sehnsucht nach der vorindustriellen Vergangenheit, die das sich in dieser Zeit mit liberalem und linkem Gedankengut vermischte.

Zu seinen Lebzeiten wurde Childe von anderen Archäologen wegen seiner marxistischen Überzeugung angegriffen. Nach seinem Tod 1957 wurde er von linksgerichteten Radikalen angegriffen, die vom Strukturalismus und der Frankfurter Schule beeinflußt waren und - als Reaktion auf die Verbrechen des Faschismus und insbesondere des Stalinismus - die Vorstellung eines geschichtlichen Fortschrittes zurückwiesen. Childes Versuch, die marxistische Theorie der Entwicklung der Gesellschaft auf die Archäologie anzuwenden, wurde von links und rechts vereint verurteilt, doch war sein wissenschaftlicher Beitrag zu gewichtig, als daß er hätte ignoriert werden können. Sein Verständnis der Archäologie als eines objektiven, wissenschaftlichen Herangehens an die Kulturgeschichte, insbesondere die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, mit besonderem Augenmerk auf der Lebensweise der Menschen, ihrer Technik und ihrer sozialen Organisation, wurde zur anerkannten Form der Archäologie.

Das Bemerkenswerte an der Ausstellung des British Museum, auch wenn es bei der ganzen Kontroverse über die Kelten unbemerkt blieb, ist das Ausmaß, in welchem sie sich von diesem Ansatz entfernt hat und zurück zu einem antiquarischen, sammlerhaften Stil gegangen ist, wie er vor Childes Zeit gängig war. In den Vitrinen glänzen wertvolle Metalle. Die Ausstellung blendet das Auge, doch der Verstand geht leer aus. Der Besucher erfährt nicht, wodurch dieser Reichtum zustande kam und welche gesellschaftliche Beziehungen es möglich machten, daß wenige Leute ihn sich aneignen konnten.

Die Deutung der europäischen Eisenzeit, die das British Museum anbietet, ist ein Schritt weg von der Wissenschaft. Im Kern dieses unwissenschaftlichen Herangehens steht die Betonung der Volkszugehörigkeit (Ethnizität). Das Problem mit dieser Ausstellung ist nicht einfach, daß sie die Kelten hervorhebt auf Kosten der Tartesser, der Ligurer, der Iberer und aller Völker der europäischen Eisenzeit, die wir nicht aufzählen können, sondern daß sie die ethnische Zugehörigkeit als geeignetsten begrifflichen Ausgangspunkt für das Studium der Geschichte darstellt. Doch Ethnizität ist keine geeignete Kategorie der historischen Analyse, weil sie uns nichts über die betreffenden Völker sagt. Sie sagt nicht aus, welche Form der Landwirtschaft sie vielleicht betrieben. Sie sagt uns nicht, welche Werkzeuge und Ausrüstung sie hatten, und ebensowenig, wie ihre Gesellschaft organisiert war. Sie sagt uns nicht einmal etwas darüber, wie ihre Beziehungen zu anderen ethnischen Gruppen aussahen.

Vor allem aber sagt sie uns nichts darüber, wie die Volksgruppe sich im Laufe der Zeit veränderte. Stattdessen stülpt sie der Vergangenheit eine zeitlose Qualität über, die ahistorisch ist. Beispielsweise verehrten die Kelten von Lugdunensis, dem heutigen Lyon in Südfrankreich, den Gott Lugh, dessen Fest, Lugnasad, am 1. August war. Derselbe Gott wurde in Irland bis zur Ankunft des Christentums im fünften Jahrhundert nach Christus verehrt und dasselbe Fest wurde hier begangen. Doch wir können nicht davon ausgehen, daß der Gott oder das Fest für die vergleichsweise hochentwickelte und selbst vor der Ankunft der Römer zunehmend verstädterte Bevölkerung des südlichen Frankreich die gleiche Bedeutung hatten wie für die Einwohner des ökonomisch rückständigen Irland, wo sich erst im frühen Mittelalter Städte entwickelten. Es mag sich hier und dort um Kelten gehandelt haben, doch sie lebten in sehr verschiedenen Welten.

Im Vergleich zu manchen Archäologen wagt sich das British Museum nur wenige Schritte auf das Terrain der ethnischen Geschichtsauffassung vor. Die entschiedensten Verfechter dieser Richtung sind Vincent und Ruth Megaw von der Flinders University in Australien, die sich auf das Studium der keltischen Kunst spezialisiert haben. Passenderweise haben sie ihren ethnischen Ansatz des Geschichtsstudiums auf einer Archäologie-Konferenz in Slowenien verteidigt, Teil des ehemaligen Jugoslawien. Dort schlugen sie eine willkürliche und subjektive Definition von Ethnizität vor, die in sich widersprüchlich und wissenschaftlich wertlos ist.

Sie argumentierten, Ethnizität könne nicht genetisch definiert werden, ebensowenig auf der Grundlage von Kultur und Sprache; vielmehr sei sie Teil einer "Landkarte des Geistes". Sie führten das Beispiel einer befreundeten australischen Aborigines-Künstlerin an, deren Abstammung auf die Aborigines, auf irische und auf deutsche Vorfahren zurückgeht. Sie identifiziere sich manchmal über die örtliche Aborigines-Gruppe, aus der ihr Vater stammt, manchmal über die größere Gruppe der südostaustralischen Aborigines, und in anderen Situationen nur als australische Aborigines-Angehörige. Ethnizität, so die Megaws, sei eine subjektive Kategorie, durch die die Vergangenheit selektiv erinnert werde und in der Symbole - oft mit religiöser Bedeutung wie in Bosnien und Nordirland - benutzt werden, um Identität zu definieren. Den Glauben einer Person in ihre ethnische Identität abzulehnen, ist ihrer Meinung nach implizit rassistisch.

Entsprechend ihres ethnischen Ansatzes betiteln die Megaws ihre Gegner als englische Archäologen, die die Existenz der Kelten aufgrund der "Ethnographie der Archäologen-Zunft" in England bestreiten wollen. Hier kommt dann die Großmutter ins Spiel. In den Augen der Megaws können Engländer nicht über Geschichte schreiben, falls darin Kelten vorkommen.

Englische Archäologen, erklären sie, seien von einer ideologischen Krise erfaßt, die mit einer Neudefinition englischer Identität nach dem Ende des britischen Empire zusammenhänge. Britannien sei zu einer multikulturellen Gesellschaft geworden, und Sorgen um die Auswirkungen dieser Umwandlung, die nicht offen ausgedrückt werden könnten, tauchten in verzerrter Form in der Wissenschaft auf. Gleichzeitig sei die britische Souveränität bedroht: im Innern durch die Devolution (mehr Selbständigkeit für Schottland, Wales und Nordirland) und von außen durch die Europäische Union. Für das "englische Empfinden" seien die Kelten zu einem Symbol der Bedrohung durch innere Zerrissenheit und externe Beherrschung geworden. Auf diese Weise konstruieren die Megaws ein Stereotyp des englischen Archäologen: ein weit rechts stehender, europafeindlicher Tory, der die englische Flagge schwenkt und seinen Haß auf Asiaten und Inder nur notdürftig hinter seiner Weigerung versteckt, die Existenz der Kelten anzuerkennen.

Ein Artikel, der sich auf ihren Vortrag in Ljubljana stützte, wurde in Antiquity veröffentlicht, einer der führenden britischen archäologischen Fachzeitschriften. Es gelang ihnen damit, die Atmosphäre des Streits anzuheizen und jeden Archäologen, der über die Kelten schreibt, in die Defensive zu drängen. Inzwischen versehen Archäologen ihre Artikel mit einem Vorwort, in dem sie ihre ethnische Herkunft offenlegen und dem Leser versichern, daß sie progressiven Anliegen wohlwollend gegenüberstehen.

Dies ist eine gefährliche Wendung der Ereignisse. Wenn man davon ausgeht, daß nur Angehörige einer ethnischen Gruppe über sie schreiben können, bedeutet das, das Studium der Geschichte zu unterhöhlen. Ebenso schädlich ist es, zu suggerieren, daß nur Personen mit einer bestimmten politischen Weltanschauung gut über Geschichte schreiben können. Die Interpretationen können weit voneinander abweichen, doch historische Fakten haben eine gewisse objektive Gültigkeit, die von jedem erkannt werden kann, der sich aufrichtig und mit kritischem Verstand der Sache nähert. Die Megaws haben den Grundsatz angegriffen, daß Geschichte ein objektives Studium der Vergangenheit darstellt. Darin befinden sich wohl viele Archäologen und Historiker von heute auf einer Linie.

Simon James‘ ungewöhnliches Leugnen der Existenz der Kelten scheint teilweise von dem Wunsch beseelt zu sein, diesem ethnischen Ansatz des Studiums der Geschichte entgegenzutreten. Doch gleichzeitig stimmt er mit den Megaws darin überein, daß Geschichte etwas völlig Subjektives sei. Er behauptet, die Kelten seien lediglich ein subjektives Konstrukt, das frühere Generationen von Historikern aus eigenen ideologischen Beweggründen geschaffen hätten. Sie seien daher nicht realer als die mythischen Stämme der Zentauren und Amazonen, die nach Ansicht der Griechen auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres lebten.

Dieses Argument ist oberflächlich und wird nur aufgrund eines allgemeinen Verfalls des geistigen Niveaus akzeptiert. Die Hellenen verfügten in der Tat über eine schöpferische Phantasie. Sie bevölkerte wenig bekannte Gegenden mit fabelhaften Stämmen. Doch die Kelten gehören nicht dazu. Paulus hatte nie die Gelegenheit, einen Hirtenbrief an die Amazonen oder Zentauren zu schreiben. Die Kelten sind eine historische Tatsache. Die Vorstellung, daß unterschiedliche Deutungen der Geschichte durch unterschiedliche Historiker bedeuten, daß es keine historische Tatsache gebe, ist ein charakteristisches Kennzeichen des Postmodernismus. Damit wird das Studium der Geschichte auf ein sinnloses Unterfangen reduziert, das nichts wirklich Wichtiges über die menschliche Gesellschaft aussagen kann.

In der Ankündigung seiner neuen Ausstellungsräume weist das British Museum darauf hin, daß es tunlichst jeden Hinweis vermeiden wollte, daß man in der Vorgeschichte einen Prozeß menschlichen Fortschritts durch die Organisation der Gesellschaft erkennen könnte. Childe hatte mehr als irgendjemand sonst versucht, eine Theorie des gesellschaftlichen Entwicklung auf die Archäologie anzuwenden. Indem sie dies zurückweisen, berauben sich Archäologen selbst einer wissenschaftlichen Basis für ihre Disziplin und machen sich für Attacken wie die der Megaws verwundbar.

Die Überreste von Childes Ansatz, die in Form einer Archäologie überleben, welche sich auf die Kulturgeschichte stützt und sich mit Fragen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation befaßt, bringen noch immer einige der besten Studien hervor. In diese Kategorie fällt Barry Cunliffes kürzlich erschienenes Buch The Ancient Celts(Die Kelten des Altertums). Cunliffe, der nicht der Evolutionstheorie huldigt und kein Marxist ist, bietet eine ernstzunehmende Studie der keltischen Gesellschaft an. Der Leser mag Teile seiner Analyse ablehnen oder befürworten; in allen Fällen stützt sie sich auf Tatsachen. Das British Museum hofft, daß seine Interpretation des vorgeschichtlichen Europa die Leitlinie für die nächste Generation vorgibt. Doch angesichts der ominösen und rätselhaften Ungereimtheiten des Postmodernismus werden sich viele Studenten angewidert vom Studium der Geschichte abwenden. Diejenigen, die dabeibleiben und der vorgeschichtlichen Vergangenheit einen Sinn abgewinnen wollen, sei ein Studium der Schriften Childes empfohlen.

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