Opfer des Stalinismus protestiert gegen Drohung

Ein Brief von Nathan Steinberger an den RefRat der Berliner Humboldt-Universität

Am 5. Dezember führt die Hochschulgruppe für Soziale Gleichheit an der Berliner Humboldt-Universität eine öffentliche Gedenkveranstaltung für den kürzlich verstorbenen russischen Historiker Wadim Rogowin durch. Wie in solchen Fällen üblich, hatte sie auch den ReferentInnenrat der Hochschule (vergleichbar dem AStA) um seine Zustimmung ersucht. Dieser lehnte ab und begründete dies in einem provokanten Brief, unterzeichnet vom Finanzreferenten Mario Pschera. Er endete mit den Worten: "Ich hab noch einen Eispickel im Kühlschrank".

Prof. Dr. Nathan Steinberger, der selbst zwanzig Jahre in Stalinschen Lagern und Verbannung zubrachte und auf der Gedenkveranstaltung sprechen wird, hat mit dem folgenden Brief gegen die Haltung des RefRats protestiert.

Berlin, den 14. November 1998

Liebe Mitglieder des RefRates,

von der Hochschulgruppe für Soziale Gleichheit bin ich eingeladen worden zu einer Gedenkveranstaltung für den unlängst verstorbenen russischen Historiker Professor Wadim Rogowin.

Seine Werke stellen einen fundamentalen Beitrag zur Geschichte der Sowjetunion, insbesondere zur Geschichte der Ära Stalins und des Schreckensregimes der sogenannten Tschistka dar. Die Ereignisse dieser Periode sind durch das Erscheinen des "Schwarzbuches des Kommunismus" wieder in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion gerückt.

Da ich selbst das Stalinsche Regime miterlebt habe, Zeuge und Opfer jener Zeit geworden bin, kann ich mir das Urteil erlauben, daß die Schriften von Wadim Rogowin weit über das hinausgehen, was bisher zu diesem Thema veröffentlicht worden ist. Der grundlegende Fehler vieler dieser Schriften besteht darin, die Entwicklung der Sowjetunion von der Oktoberrevolution bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1991 als eine einheitliche Linie zu betrachten, die sich im Zeichen des "Sozialismus" vollzogen hätte.

Rogowin weist in seinem umfangreichen Werk detailliert nach, daß die Politik Stalins völlig dem entgegengesetzt war, was in den Jahren der Revolution und kurz darauf von den Bolschewiki begonnen worden ist, und daß Stalins Politik letztendlich das Schicksal der Revolution und der Sowjetunion selbst besiegelte. Stalins Politik und bürokratisches System widersprachen trotz aller orthodoxen Phraseologie in allen Elementen den Grundprinzipien des Sozialismus. Der krasseste Ausdruck dieses antisozialistischen bürokratischen Regimes war der Terror, der sich in erster Linie gegen die Verfechter des Sozialismus und die Aktivisten der Oktoberrevolution richtete. Von ihnen haben buchstäblich nur eine Handvoll die Stalinperiode überlebt.

Der Untergang der Sowjetunion war nicht ein Ergebnis der Niederlage des Sozialismus, sondern eine Folge der Unterdrückung aller sozialistischen Ideen und Bewegungen. Die Schriften Rogowins stellen nicht nur die Ehrenrettung für die von Stalin vernichteten Millionen Opfer dar, sie bilden auch den Ausgangspunkt für eine grundlegende Neubewertung dieser Periode.

Es gereicht der Hochschulgruppe für Soziale Gleichheit zur Ehre, daß sie mit einer Gedenkveranstaltung für Wadim Rogowin Anstöße geben will für ein objektives Studium dieser Geschichtsperiode. Um so verblüffender für mich war die Reaktion aus Ihrer Mitte, jedwede sogar formelle Unterstützung für diese Veranstaltung zu verweigern.

Haben Sie überhaupt den Schlußsatz im Ablehnungsschreiben von Herrn Pschera verstanden? Es handelt sich dabei um eine demonstrative Billigung der Ermordung der bedeutendsten Widerstandskämpfer gegen das Stalinregime. Eine Antwort auf diese Frage erwarte nicht nur ich persönlich von Ihnen, sondern alle, die zu dieser Gedenkveranstaltung kommen werden. Ich fordere, daß Sie die notwendigen Schlußfolgerungen aus diesem moralisch widerlichen und skandalösen Auftreten ziehen.

Mit freundlichen Grüßen,

Prof. Dr. Nathan Steinberger

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