Der Kurs der neuen Regierung zeichnet sich ab

Zwei Wochen nach der Amtsübernahme hat die Regierung Schröder erste Gesetzesentwürfe vorgelegt, die die Richtung ihrer zukünftigen Steuer- und Sozialpolitik anzeigen. Zusammengenommen ergeben sie ein höchst verwirrendes und widersprüchliches Bild.

Zum einen ist ihnen der Schock über den unerwartet hohen Wahlsieg und die damit verbundenen Erwartungen anzumerken, die Politik der neuen Regierung werde sozial gerechter sein. Die rot-grüne Koalition ist offensichtlich bemüht, diese Hoffnungen nicht von vornherein zu enttäuschen, um nicht als Wahlbetrüger dazustehen. Deshalb werden einige der herausragendsten sozialen Grausamkeiten der Kohl-Regierung mit Wirkung ab 1. Januar zurückgenommen.

Die Zugeständnisse an die Erwartungen der Wähler sind allerdings in den meisten Fällen mehr symbolisch als real. Entweder berühren sie die vorangegangenen Verschlechterungen kaum - wie die Zuzahlung zu Arzneimitteln, die jetzt um wenige Prozentpunkte gesenkt wird, nachdem sie zuvor bis um das Siebenfache erhöht worden war. Oder sie werden an anderer Stelle wieder einkassiert - wie das erhöhte Kindergeld und die Entlastung bei der Lohn- und Einkommenssteuer, die durch die neue Ökosteuer weitgehend aufgehoben werden.

Zum anderen will die Regierung ihre Wirtschaftsfreundlichkeit unter Beweis stellen - oder anders ausgedrückt, es allen Recht machen. In den ersten beiden Amtswochen bot sie deshalb das Bild eines heillosen Durcheinanders, das ihr schnell die anfänglichen Vorschußlorbeeren kostete. Von einem "Fehlstart", "Mangel an Visionen" und "fehlendem Mut" war die Rede. Schröders Regierungserklärung wurde mit dem "Katalog eines Versandhauses" verglichen.

Zwei Wochen lang war es nahezu unmöglich nachzuvollziehen, was die Regierung nur vorgeschlagen, bereits beschlossen oder schon wieder zurückgenommen hatte. Auf jede Kritik der Wirtschaftslobby reagierte sie sofort. Der Koalitionsvertrag war kaum veröffentlicht, da wurden Teile davon - allen voran von Schröder selbst - wieder dementiert. Oft verkündete der Kanzler das Gegenteil von dem, was seine Minister eben noch gesagt hatten.

Auch die Grünen traten als Interessenvertreter der Wirtschaft hervor. Ihr Haushaltsexperte Oswald Metzger bemüht sich, in die Rolle eines Guido Westerwelle zu schlüpfen. Wie der FDP-Generalsekretär in der alten, betätigt er sich in der neuen Koalition als Sprachrohr des Neoliberalismus. Im Spiegel forderte er "schmerzhafte Einschnitte" bei der Sozialversicherung, ein langsameres Wachstum der Renten und die Reduzierung der Neuverschuldung auf Null. Finanzminister Lafontaine beschimpfte er als "Umverteiler", der das Land mit seinem "Vulgärkeynesianismus" ins Unglück treibe.

Was bei diesem Gezerre schließlich herauskam, macht die neue Ökosteuer deutlich. Aus dem Paradeprojekt der Grünen, das die Kosten der Arbeit senken, die Kosten der Energie erhöhen und so der zunehmenden Umweltzerstörung entgegenwirken sollte, ist eine Massensteuer geworden, die wie die Steuerreformen der Kohl-Regierung nur eines bewirkt: Die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben.

Die größten Energieverbraucher in der Industrie sind von der neuen Steuer völlig ausgenommen, während sie gleichzeitig von der Senkung der Lohnnebenkosten profitieren, die durch die Ökosteuer finanziert wird. Das restliche verarbeitende Gewerbe zahlt höchstens 25 Prozent. Die kleinen Verbraucher dagegen werden durch höhere Benzin-, Strom- und Gaspreise voll zur Kasse gebeten.

Für Durchschnittsverdiener hebt dies die Ersparnis aus der Lohnsteuersenkung wieder auf. Niedrigverdiener, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, die nicht lohnsteuerpflichtig sind, müssen die Ökosteuer in Form teurerer Heizungs- und Stromkosten voll tragen.

Um die Absurdität voll zu machen, wird die Steuer auch auf umweltfreundliche Energien wie Wind- und Solarstrom erhoben. Der Verdacht, sie habe etwas mit der Umwelt zu tun, kann so gar nicht erst aufkommen.

Sinngemäß gilt hier dasselbe, was Außenminister Fischer kürzlich der Zeit zu seinem Verantwortungsbereich zu Protokoll gab. Auf die Frage "Aber was wollen sie ändern, Herr Minister?" antwortete Fischer: "Die wichtigste Veränderung ist, daß sich nichts verändert in den Grundlagen der deutschen Außenpolitik."

Schröder und Lafontaine

Die Presse versucht die Gegensätze in der neuen Regierung an den Personen Schröders und Lafontaines festzumachen, am Kanzler und am SPD-Vorsitzenden und Finanzminister.

Schröder wird als wirtschaftsfreundlicher, pragmatischer Macher dargestellt, Lafontaine als Sozialpolitiker der alten Schule, der selbst vor der heiligsten aller heiligen Kühe des Kapitals, vor der Unabhängigkeit der Bundesbank nicht zurückschreckt. Diese Darstellung ist nicht nur stark vereinfacht, sie ist auch irreführend.

Es gibt sicherlich politische Unterschiede zwischen Schröder und Lafontaine, aber sie erstrecken sich nicht auf die Nähe zur Wirtschaft oder zu den Interessen der Arbeiter. Lafontaine pflegt ebenso wie Schröder vielfältige Kontakte in Wirtschaftskreisen und hat in der Vergangenheit immer wieder durch spektakuläre Vorstöße gegen soziale Errungenschaften von sich reden gemacht. Wenn ihn etwas vom Kanzler unterscheidet, dann seine größere politische Weitsicht.

Lafontaine weiß aus leidvoller Erfahrung, daß man ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit braucht, um unpopuläre Maßnahmen durchsetzen. Er ist auch der Ansicht, daß man einzelne Vertreter der Wirtschaft manchmal ruppig anfassen muß, um deren Gesamtinteresse besser zu vertreten. Daher sein Gepolter gegen die Bundesbank und seine soziale Demagogie, deren Resonanz in der Presse er in sein Kalkül einbezieht.

Schröder dagegen und die rechte Truppe, die ihn umgibt, handeln nach dem Motto: "Was gut ist für die Wirtschaft, ist auch gut für Deutschland". In ihrem Bemühen, auf jeden Wink der Wirtschaftslobby sofort zu reagieren, verlieren sie oft die längerfristigen politischen Folgen ihres Handelns aus den Augen.

Es ist bezeichnend, daß die beiden SPD-Politiker, die Schröder in dieser Hinsicht am nächsten stehen - Kanzleramtsminister Hombach und NRW-Ministerpräsident Clement - sich noch nie selbst in einer Wahl bewähren mußten. Sie gelten beide als unpopulär und verdanken ihren Aufstieg dem konservativen SPD-Apparat und ihren Beziehungen zur Energiewirtschaft. Schröder selbst hat in Niedersachsen, wo VW der wichtigste Arbeitgeber ist, dank seinem Image als "Automann" Einfluß gewonnen.

Lafontaines Aufstieg dagegen verlief unter wesentlich schwierigeren Umständen. Er verwandelte das einst tiefschwarze Saarland in eine SPD-Hochburg, während die traditionellen Industrien - Bergbau und Stahl - nahezu vollständig verschwanden. Es gelang ihm sogar, den damit verbundenen gewaltigen Arbeitsplatzabbau fast geräuschlos über die Bühne zu bringen.

Von allen Mitgliedern der neuen Regierung hat Lafontaine den bisher weitgehendsten Vorschlag zum Sozialabbau gemacht. Er verblüffte den SPD-Parteitag, der eigentlich über den Koalitionsvertrag abstimmen sollte, mit dem Vorschlag, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung abzuschaffen und entsprechende Gelder nur noch an Bedürftige zu zahlen. Der Pragmatiker Schröder hätte einen solchen Vorschlag nicht gemacht, weil er ihn nicht für mehrheitsfähig hält. Lafontaine wirft ihn in die Diskussion - und wartet ab. Er weiß, daß die Zeit für ihn arbeitet.

In diesem Zusammenhang ergibt sogar das gegenwärtige Durcheinander in der Regierungsarbeit einen gewissen Sinn. Nicht das es beabsichtigt oder geplant wäre. Die Gegensätze in der Regierung sind real und bergen noch manche Überraschung und Krise in sich. Aber je länger die Regierungsarbeit orientierungslos vor sich hin dümpelt und durch die vielfältigen auf sie einwirkenden Interessen gelähmt wird, desto mehr wird unter den widerstrebenden Flügeln von SPD und Grünen die Bereitschaft wachsen, auch drastische Maßnahmen mit zu tragen.

Drastische Maßnahmen

Schröder wie Lafontaine wissen, daß solche Maßnahmen unausweichlich sind. Die Auswirkungen der Asien- und Rußlandkrise und die Baisse an den Börsen wirken sich immer bedrohlicher auf die deutsche Wirtschaft aus. Die Wachstumsprognosen werden seit Wochen nach unten korrigiert. Die Arbeitslosigkeit - immer noch über vier Millionen - droht angesichts einer neuen Krise in der Autoindustrie wieder anzusteigen.

Schröder hat dann am Anfang seiner Regierungserklärung auch gleich einen "entschlossenen Konsolidierungskurs" angekündigt. "Wir werden um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand," sagte er.

Die gegenwärtigen Zugeständnisse an die Wähler der SPD sind daher nur ein Vorgeplänkel, dem bald böse Überraschungen folgen werden. Die Weichen dafür sind bereits gestellt.

Das "Bündnis für Arbeit", das im Dezember seine Arbeit aufnehmen wird, soll viel weiter gehen als die unverbindlichen Kamingespräche, die Schröders Vorgänger unter diesem Namen veranstaltet hatte. Lohnhöhe, Arbeitszeiten, Kündigungsschutz, Renten und Steuersystem sollen dort zur Disposition gestellt und über die Köpfe der Betroffenen hinweg neu geordnet werden. Er erwarte, sagte Schröder in seiner Regierungserklärung, "daß die Gesprächspartner sich vom Denken in angestammten Besitzständen und von überkommenen Vorstellungen lösen."

Vorbild ist das holländische Modell. Im nordwestlichen Nachbarland sind in den vergangenen fünfzehn Jahren die Löhne massiv gesenkt, die Steuern für Unternehmer vermindert und massenweise Teilzeitjobs eingeführt worden. Möglich war dies dank der intensiven Zusammenarbeit von Unternehmern und Gewerkschaften. Die offizielle Arbeitslosenrate ist dadurch gesunken, die Zahl der Armen dagegen stark gestiegen. Jeder sechste Haushalt muß inzwischen mit einem Einkommen an oder unter der Armutsgrenze auskommen.

Im kommenden Jahr will die neue Regierung außerdem eine grundlegende Renten- und Gesundheitsreform ausarbeiten, nachdem sie einige Kürzungen der Kohl-Regierung vorerst zurückgestellt hat.

Die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Thea Dückert, drohte bereits viel weitergehendere Kürzungen an. Die gesetzliche Standardrente, sagte sie, sei eine "unerreichbare Fiktion" geworden. Es müsse klar werden, daß es ohne eine "ausgewogene Beteiligung der Rentnergeneration" an den Kosten der zunehmenden Alterung der Bevölkerung nicht gehe.

Und Schröder will die zukünftige Altersversorgung neben der gesetzlichen Rentenversicherung auf drei weitere Säulen stellen: die betriebliche Altersvorsorge, die private Vorsorge und die Beteiligung von Arbeitnehmern am Produktivkapital.

Über die Gesundheitsreform kursieren vorläufig nur Gerüchte. Aber auch sie verfolgt das Ziel, die Ausgaben für die Versorgung der Kranken drastisch zu reduzieren.

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