Massaker in West-Papua

Ein Bericht aus erster Hand

Den Bemühungen von zwei australischen Entwicklungshelfern ist es zu verdanken, daß in den Medien allmählich Berichte über ein grauenvolles Massaker erscheinen, das das indonesische Militärregime am 6. Juli in der Stadt Biak auf West Papua verübt hat. Rebecca Casey und Paul Meixner waren am Tag des Schreckens in Biak, einer Stadt mit etwa 30.000 Einwohnern vor der Nordküste von West-Papua.

Etwa 150 Personen wurden getötet und sehr viele mehr verwundet, als Soldaten unter dem direkten Kommando des Befehlshabenden der indonesischen Streitkräfte und gleichzeitigen Außenministers General Wiranto mit Maschinengewehren das Feuer auf eine Menge eröffneten, die unter einer gehißten Unabhängigkeitsflagge West-Papuas schlief. Die Schüsse hielten für wenigstens vier Stunden an, während andere Bewohner aus ihren Häusern gezerrt wurden. Andere Opfer wurden gefoltert und in einigen Fällen vergewaltigt, bevor sie aus Kampfhubschraubern der Marine ins Meer geworfen wurden.

Kirchliche und Menschenrechtsgruppen berichteten am nächsten Tag erstmals über die Grausamkeiten. Sie teilten mit, daß am 6. Juli um ca. 05.30 Uhr von zwei Schiffen Marineinfanteristen im Hafen von Biak an Land gingen, während gleichzeitig etwa 130 Soldaten vom 733. Infanteriebataillon des regionalen Heereskommandos von Herkules-Hibschraubern abgesetzt wurden. Sie berichteten weiter, daß die Soldaten das Feuer ohne Vorwarnung eröffnet hätten. Anderen Berichten zufolge soll General Wiranto das Flaggenhissen in Biak als "Revolte gegen die Regierung" verurteilt und erklärt haben, daß die Armee diesen Protesten mit "entschlossenem Handeln" entgegentreten werde. Das World Socialist Web Site machte am 10. Juli auf einige dieser Berichte aufmerksam.

Doch die Habibie-Regierung in Indonesien vertuschte das Verbrechen. Sie behauptet, daß nur ein oder zwei Personen getötet worden seien, als Soldaten die Menge auseinandertrieben und die Flagge herunterholten. Die Howard-Regierung in Australien, die zu einem späteren Zeitpunkt im Juli einen Offizier des militärischen Geheimdienstes nach Biak entsandte, angeblich um Informationen zu sammeln, unterstützte diese Schönfärberei. Sie sagte nichts, und die internationale Presse zeigte kein Interesse.

Doch in den folgenden Tagen nahmen Casey und Meixner heimlich Interviews mit Augenzeugen auf Videoband auf und machten Fotos und Filmaufnahmen vom Ort des Geschehens, auf denen auch Aufnahmen von Einschußlöchern an dem Turm zu sehen sind, von dem die Flagge geweht hatte.

Casey berichtete dem WSWS, was an diesem Morgen geschehen war. Es war der vierte Tag, an dem die gestreifte "Morgenstern"-Flagge der Unabhängigkeitsbewegung West-Papuas von der Spitze eines 35 Meter hohen Wasserturmes am Landungssteg von Biak geweht hatte, beschützt von etwa 200 Menschen.

"Unsere Freunde sagten, wir sollten an diesem Tag zu Hause bleiben. Die meisten von ihnen wußten, daß ein Angriff bevorstand. Der Militärkommandeur hatte die Bewohner am Abend zuvor aufgefordert, das Areal um die Flagge zu verlassen.

Um 05.30 Uhr hörten wir Schnellfeuerschüsse - ein maschinengewehrähnliches Geräusch. Es hielt vier Stunden lang an, mit Unterbrechungen. Man hatte uns geraten, drei Tage im Haus zu bleiben, denn wir wären in Gefahr, sollte das Militär wissen, daß wir irgend etwas beobachtet hatten. Doch Menschen besuchten uns, manchmal heimlich, und beschrieben die Ereignisse.

Am 6. Juli schliefen die Menschen im Freien unter der Flagge. Was sich ereignete, war ein brutales Verbrechen. Die Soldaten eröffneten das Feuer ohne Vorwarnung. Die Leute wurden wie Tiere abgeknallt, ob sie nun wegrannten oder sitzenblieben. Den meisten wurden in die Beine geschossen, aber manchen auch in den Oberkörper.

Die Soldaten gingen dann daran, Häuser im Hafengebiet zu umzingeln und zerrten die Menschen heraus. Andere Personen, die von umliegenden Inseln am Landungssteg ankamen, wurden ebenfalls festgehalten. Hunderte von Leuten wurden zusammengetrieben - Demonstranten und Unbeteiligte, Verwundete und nicht Verwundete.

Man zwang sie, sich auf den Boden zu legen, mit dem Gesicht nach oben, in die brütende Sonne. Die Soldaten stiegen über sie, traten sie, einige Stunden lang. Dann zwangen sie die Menschen, entlang der Straße zum Gefängnis zu kriechen, während sie sie mit Gewehrkolben schlugen.

Etwa 200 Menschen wurden in Zellen eingeschlossen - 28 in einer Zelle - mit nur einem 200-Liter-Wasserbehälter. Viele erkrankten. Als Nahrung erhielten sie nur alten Reis und Gemüse. Einige wurden freigelassen, doch nur unter der Bedingung, als Informant zu arbeiten, herauszufinden, wer die Flagge gehißt hatte, wer den Protestierenden Essen gebracht hatte und wer eine zweite Flagge angefertigt hatte.

Wir glaubten, daß mindestens 20 Leute erschossen und über 100 verwundet worden waren, doch es hat sich gezeigt, daß bis zu 150 getötet wurden. Viele der Verwundeten mußten ohne ärztliche Behandlung in ihre Dörfer zurückgehen, weil das Krankenhaus sich weigerte, sie zu behandeln. Viele wurden vermisst und viele werden es noch heute.

Wir hörten, daß Opfer von Marineschiffen ins Meer geworfen wurden. Bevor wir Biak sieben Tage später verließen, waren bereits zwei Leichen an der Küste angeschwemmt worden. Seither wurden viele weitere angespült. Die indonesischen Behörden behaupteten, es seien Opfer des Tsunami-Flutwelle in Papua-Neuguinea, doch der Tsunami ereignete sich erst zwei Wochen nach den Morden."

Casey erklärte den Hintergrund des Flaggenhissens in Biak. "Als Suharto im Mai zurücktrat, wurde viel darüber diskutiert, daß es dem Volk von West-Papua endlich gelingen könnte, sich von der Herrschaft Indonesiens zu befreien. Die Leute glaubten, daß sie nach dem Völkerrecht die Unabhängigkeit erlangen würden, falls sie die Flagge-West Papuas 72 Stunden lang gehißt hielten. Sie glaubten auch an Unterstützung aus Washington aufgrund entsprechender Verlautbarungen von dort.

Die Bedingungen unter indonesischer Herrschaft sind äußerst schlimm. Es gibt keine angemessene Versorgung mit Nahrungsmitteln oder Gesundheitseinrichtungen. Viele Leute sterben unnötig in jungen Jahren an Malaria oder anderen Krankheiten. Die Wirtschaftskrise hat die Lage noch verschlechtert und den Preis für Reis verdreifacht.

Die Menschen von West-Papua sind seit Jahrzehnten Bürger zweiter Klasse. Von dem Reichtum aus der Kupferproduktion in Freeport und der Holzindustrie, betrieben von Unternehmen, die mit dem Militär verbunden sind, bekam das Volk nichts ab."

Casey sagte, sie und Meixner hätten bei ihrer Rückkehr nach Australien ihre Informationen an einige Organisationen gegeben, in der Hoffnung, daß daraufhin etwas geschehe. "Ich kann einfach nicht glauben, daß sich niemand über diese Ereignisse empört hat", sagte sie.

Aus einer Darstellung, die ein örtlicher Rechtsanwalt einem zu Besuch weilenden australischen Studenten gab, weiß man inzwischen, daß nach dem ersten Massaker in Biak 139 Menschen, darunter Frauen und Kinder, mit zwei Marinebooten aufs Meer hinaus gebracht wurden. Zwei Überlebende berichteten, Frauen seien vergewaltigt worden und mehrere Leichen seien zerstückelt und in Säcke gepackt worden. Kirchen dokumentierten die Entdeckung von 23 Leichen in Fischernetzen vor der Küste am 11. Juli, sechs Tage vor der Sturmflut im benachbarten Papua-Neuguinea. Insgesamt haben Beauftragte der Kirchen inzwischen die Entdeckung von 70 Leichen dokumentiert.

Das Massaker brachte den Widerstand gegen die indonesische Herrschaft nicht zum Erliegen. Im Oktober fanden in ganz West-Papua eine Reihe weiterer Demonstrationen für die Unabhängigkeit statt. Nach Berichten sind viele Regierungsgebäude niedergebrannt worden. Bis zu 20 Menschen, darunter Dr. Philip Karma, der während des Massakers in Biak verhaftet wurde, sind der Rebellion oder des Verrats angeklagt worden und sehen lebenslangen Haftstrafen entgegen.

Weitverbreitete Opposition gegen die indonesische Herrschaft

Biak ist die Hauptstadt und Handelshafen einer gleichnamigen Insel vor der Nordküste von West-Papua oder Irian Jaya, wie das Suharto-Regime die westliche Hälfte von Neuguinea benannte. Das Biak-Massaker war Teil eines weiterreichenden Angriffs, den die Habibie-Regierung Anfang Juli gegen Studenten und Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung in ganz West-Papua führte.

Einen Monat zuvor hatte es zahlreiche Proteste gegen Übergriffe des Militärs und für die Unabhängigkeit gegeben, teilweise ausgelöst durch einen Brief, den 15 Abgeordnete des US-Kongresses am 22. Mai an Präsident Habibie gesandt hatten. Der Brief, der in West-Papua überall verbreitet wurde, drängte Habibie, einen "direkten vertrauensvollen Dialog mit den Völkern Osttimors und Irian Jayas über Menschenrechte und eine gerechte Lösung ihres politischen Status zu führen".

Am 22. Juni demonstrierten etwa 100 Mitglieder einer Gruppe, die sich Communications Forum of the Younger Generation of Irian Jaya (Kommunikationsforum der Jungen Generation von Irian Jaya) nennt, vor dem Justizministerium in Jakarta, der indonesischen Hauptstadt. Sie forderten die Freilassung aller politischen Gefangenen aus West-Papua. Justizminister Muladi ließ die Gruppe ein, um über diese Frage zu diskutieren. Doch er sei nicht befugt, sagte er, die Freilassungen anzuordnen. Er würde ihr Anliegen dem nächsten Treffen der für Sicherheit und politische Fragen zuständigen Kabinettsmitglieder vortragen.

Zwischen dem 1. und 3. Juli fanden in der Provinzhauptstadt Jayapura und den Städten Sorong, Nabire und Biak Demonstrationen für die Unabhängigkeit West-Papuas statt. Am 1. und 2. Juli strömten Hunderte von Demonstranten vor dem Gebäude des Provinzparlaments in Jayapura zusammen, wo sie von Polizei gewaltsam auseinandergetrieben wurden, nachdem die Abgeordneten sich geweigert hatten, sie zu empfangen. Am zweiten Tag wurden 41 Personen festgenommen, nachdem mehrere Gebäude mit Steinen beworfen worden waren. Am darauffolgenden Tag wurden zwei Studenten nahe der Cenderawasih-Universität erschossen, als Soldaten das Feuer auf eine Menge eröffneten, nachdem Studenten einen Polizeiagenten verprügelt hatten.

Ebenfalls zu gewaltsamen Zusammenstößen kam es in Sorong am 2. Juli, nachdem Tausende von Studenten, die sich Reformforum der Studenten und Menschen von Sorong nennen, neun Unabhängigkeitsforderungen an die Bezirksversammlung gerichtet hatten. Als ihre Forderungen unbeachtet blieben, brannten sie das Gebäude der Bezirksversammlung, mehrere Kaufhäuser und ein Auto nieder, das dem Bezirksvorsteher gehörte. Als Soldaten auftauchten, wurden Berichten zufolge fünf Menschen erschossen.

Der australische Außenminister Alexander Downer wußte von diesen Ereignissen, als er wenige Tage nach den ersten Berichten über die Erschießungen in Biak in Jakarta mit Habibie zusammentraf. Sein Sprecher behauptete, Downer sei "tief besorgt" über die Berichte und würde darüber mit Habibie sprechen. Doch diese Sorgen wurden niemals öffentlich gemacht.

Flaggenhissen, wie in Biak geschehen, ist schon seit einigen Jahren ein Symbol des Widerstands gegen die indonesische Herrschaft, wiewohl der Sturz von Suharto und die folgende Verbreitung des Briefes des US-Kongresses den Aufschwung der Unabhängigkeitsbewegung initiiert hatten. So wurden im Dezember 1988 60 Menschen verhaftet, nachdem sie im Mandala-Sportstadion in Jayapura die Flagge gehißt hatten. Im Lauf des darauffolgenden Monats wurden 37 von ihnen subversiver Tätigkeit für schuldig erklärt und zu Gefängnisstrafen zwischen 2 und 20 Jahren verurteilt.

Seit 35 Jahren ist die Herrschaft Indonesiens unter Sukarno, Suharto und Habibie gekennzeichnet durch die Brutalität des Militärs und soziale Entbehrung. Die Zustände im Sozial-, Gesundheits- und Bildungssystem in West-Papua, das etwa 1,8 Millionen Menschen zählt, gehören mit zu den schlimmsten der Welt. Ein Fünftel der Bevölkerung, darunter die Hälfte der unter Fünfjährigen, leidet an Unterernährung. Die jährlichen staatlichen Gesundheitsausgaben pro Kopf der Bevölkerung betragen 1 Dollar, womit West-Papua die schlechteste gesundheitliche Versorgung der 27 indonesischen Provinzen aufweist. Hinzu kommen die höchste Kinder- und Müttersterblichkeitsrate. Die Kindersterblichkeit pro 1000 Bewohnern liegt zwischen 70 und 200. Der Anteil an Analphabeten - 30,5 Prozent, im Hochland sogar 81,5 Prozent - ist doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. Die Vereinten Nationen stufen Indonesien insgesamt als das Land in Südostasien mit dem niedrigsten Gesundheits- und Bildungsniveau ein.

An diesem Zustand hat sich nichts geändert, obwohl West-Papua seit vielen Jahren Öl in großen Mengen für die englisch-niederländische Shell und andere Konzerne fördert. Auch befinden sich auf seinem Gebiet eine der ergiebigsten Kupfer- und Goldminen der Welt - die 40 Milliarden-Dollar-Mine Freeport, die im Gemeinschaftsbesitz der amerikanischen Freeport McRoRon Gesellschaft, der englischen Rio Tinto und des Regimes in Jakarta ist. Von den 41,5 Millionen Hektar Wald in West-Papua sind beinahe 30 Millionen Hektar für die Holzwirtschaft reserviert - der Großteil davon ist bereits geschlagen.

Kolonialmächte und Großunternehmen plündern das Volk und die Bodenschätze West-Papuas seit mehr als einem Jahrhundert aus. 1883 wurde die Insel von drei europäischen Mächten aufgeteilt. Die holländische Regierung beanspruchte die Westhälfte als Teil der niederländischen East Indies (Ostindischer Archipel), während die deutsche und britische Regierung die Osthälfte in Deutsch-Neuguinea im Norden und British Papua im Süden aufteilten. Australien nutzte den Ersten Weltkrieg und die Niederlage Deutschlands, um die Kontrolle über die Osthälfte zu bekommen.

Als die Niederlande 1949 Indonesien die Unabhängigkeit gewähren mußten, behielten sie West-Papua mit der Begründung, sie wollten die Insel auf ihre eigene Unabhängigkeit vorbereiten. Indonesiens Präsident Sukarno pochte weiterhin auf die Souveränität seines Landes und verwies auf die durch die koloniale Aufteilung entstandenen Grenzen. Die australische herrschende Klasse hoffte ebenfalls darauf, das Gebiet dem ihren angliedern zu können, um ihre Kolonie in Papua-Neuguinea zu vergrößern. Doch 1962 mischten sich die USA ein und beharrten darauf, daß die Holländer das Feld räumten zugunsten des indonesischen Militärs, zu dem sie enge Beziehungen geknüpft hatten.

Im August 1962 schlossen die Holländer ein Abkommen mit Indonesien, die Souveränität an die UN abzutreten und machten damit den Weg frei für den Einzug des indonesischen Militärs 1963. 1969 führte das damals von Suharto geführte indonesische Regime eine Schein-Volksabstimmung durch, bei der die UN eine Abstimmung von 1025 handverlesenen Wählern billigte, die für den "Verbleib bei Indonesien" stimmten.

Die indonesische Herrschaft dient seither als Mittel für die extreme Ausbeutung des Volkes von West-Papua im Interesse der Unternehmensprofite. West-Papuas leidvolles Schicksal ist auch Beleg für die umfassende zerstörerische Wirkung des Kapitalismus auf das Leben der Völker in der ganzen Region. Ein sehr ähnliches Bild der sozialen Misere bei gleichzeitigem Reichtum der Unternehmen bietet sich nämlich auch in der früheren australischen Kolonie Papua-Neuguinea. Die formale Unabhängigkeit seit 1975 hat hier nicht zu einer Erhöhung des Lebensstandards geführt, außer für eine kleine herrschende Elite, die den Interessen von Rio Tinto, BHP, BP und anderen großen Gesellschaften dient.

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