Washington schweigt

Die USA und der Prozeß gegen Pinochet

Beinahe zwei Monate nach der Verhaftung von General Augusto Pinochet in London hat die US-amerikanische Regierung noch nicht öffentlich erklärt, welche Haltung sie zur Festnahme des ehemaligen chilenischen Diktators bezieht und wie sie zu seiner Auslieferung an Spanien und zur Eröffnung eines Prozesses wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit steht.

Mehrere europäische Regierungen haben sich bereits für ein solches Gerichtsverfahren ausgesprochen, und einige - Frankreich und die Schweiz etwa - verlangen inzwischen ebenfalls die Auslieferung Pinochets, um ihn wegen Mordes an Staatsbürgern ihrer Länder zur Rechenschaft zu ziehen. Die Clinton-Regierung hat keine solchen Wünsche verlauten lassen.

Der Sprecher des Außenministeriums James Rubin erklärte, man sei "noch nicht bereit, unsere Ansichten über die jurististischen Vorzüge" eines solchen Verfahrens zu äußern. "Wir sehen uns weiterhin die Meinungen dazu an."

Die einzige ausdrückliche Stellungnahme zur Pinochet-Affäre stammt von Außenministerin Madeleine Albright persönlich, die sich über "die Demokratie und rechtsstaatliche Ordnung in Chile" besorgt zeigte. Sie fuhr fort: "Wir glauben, so meine ich, daß in Chile die Bürger eines demokratischen Staates das sehr schwierige Problem zu meistern versuchen, wie das Bedürfnis nach Gerechtigkeit mit den Erfordernissen der Versöhnung in Einklang gebracht werden kann. Ich bin der Ansicht, daß ihre Entscheidungen großen Respekt verdienen werden."

Diese Aussage bedeutete praktisch eine Unterstützung für die Position der chilenischen Regierung, daß Pinochet auf freien Fuß gesetzt und nach Chile zurückgebracht werden sollte. Während die US-Medien die Frage weitgehend unter den Teppich fegen, berichtet die europäische Presse, daß sich das amerikanische Außenministerium bei der britischen Regierung intensiv für eine solche Lösung einsetzt.

Auf keiner Seite des Atlantik wird allerdings hinterfragt, was genau die Begriffe "Demokratie" und "Versöhnung" im Zusammenhang mit Chile bedeuten sollen. Es geht um die Versöhnung zwischen den Henkersknechten der Pinochet-Diktatur und den Angehörigen ihrer Opfer, zwischen den Folterern und den Gefolterten. Es geht um eine "Demokratie", die hinnimmt, daß das Militär über allen Gesetzen steht und ungestraft Massenmord an Zivilisten begehen konnte. Kurz, es geht um die Akzeptanz einer Gesellschaft, in der die herrschende Klasse einen Knüppel über den Köpfen der Arbeiter schwenkt und droht, ihn jederzeit niedersausen zu lassen, wenn politische oder wirtschaftliche Entwicklungen ihre Macht und ihren Reichtum gefährden.

So sieht der "demokratische" Staat aus, den die Clinton-Regierung unbedingt erhalten möchte. Ähnliche Regime findet man in ganz Lateinamerika, wo immer behauptet wurde, der Übergang von Militärjuntas zu von Zivilisten geführten Regierungen bedeute die Einführung der Demokratie. Überall wurden Amnestie- und "punto final"- ("Schlußstrich")-Gesetze verabschiedet, die dafür sorgten, daß der von den USA ausgebildete und ausgerüstete Militärapparat bestehen blieb. Diese Gesetze schützen das Militär vor jeglicher juristischer Verfolgung wegen den Massenhinrichtungen in Stadien, wegen der Folter Hunderttausender, wegen des Raubes von Kindern, deren Eltern ermordet wurden, und zahllosen anderen brutalen Vergehen, die in erster Linie die Arbeiterklasse trafen.

Die USA hätten juristisch gesehen allen Grund, die Auslieferung und gerichtliche Verfolgung des Schlächters von Santiago zu fordern. Pinochets Regierung trägt nicht nur die Verantwortung für den Tod der US-Bürger Charles Horman und Frank Teruggi, die während Pinochets Staatsstreich 1973 hingerichtet wurden, sondern auch für den einzigen politischen Mordanschlag in den Straßen Washingtons, der überhaupt jemals erwiesenermaßen von einer ausländischen Macht angeordnet und durchgeführt worden ist.

Im Jahr 1976 tötete eine Autobombe, die der in den USA geborene chilenische Geheimdienstagent Michael Vernon Townley gelegt hatte, Orlando Letelier, einen ehemaligen Minister der Regierung Allende, und seinen amerikanischen Gehilfen Ronni Moffit. Townley gestand dieses Verbrechen ebenso wie andere politische Morde und Mordversuche an Gegnern des Pinochet-Regimes von Rom bis Buenos Aires und Mexico City. Er belastete allerdings auch eine Gruppe von Exilkubanern - Castro-Gegner, die an früheren CIA-Operationen beteiligt gewesen waren - und verriet Oberst Manuel Contreras, den Chef der chilenischen Geheimpolizei DINA. Als Gegenleistung erhielt Townley in einer Art Kronzeugenregelung einen Strafnachlaß und eine neue Identität.

Contreras, der in Chile später zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, um den Fall zum Abschluß zu bringen, sagte aus, daß alles, was er getan habe, auf direkten Befehl Pinochets hin geschehen sei.

Washington fordert ständig die Auslieferung von Leuten, denen es die Anordnung oder Durchführung von Terroranschlägen zur Last legt, bei denen US-Bürger ums Leben kamen - auch, wenn sich diese im Ausland ereigneten. Es gelang der Regierung, ausländische Staatsbürger in den USA vor Gericht zu bringen, denen die Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Dar es Saalam vom letzten August zur Last gelegt werden, obwohl die Mehrheit der Opfer keine US-Staatsbürger waren. Doch die Sache sollte nicht den kenianischen oder tansanischen Gerichten anvertraut werden. Auch fordert sie seit geraumer Zeit die Auslieferung der libyschen Staatsbürger, die sie für den Bombenanschlag auf den Pan-American-Flug 103 über dem schottischen Lockerbie verantwortlich macht.

Im Jahr 1989 ließ die Bush-Regierung Truppen in Panama einmarschieren, nahm den Staatschef Manuel Noriega fest, brachte ihn in die USA, machte ihm wegen Drogenhandels den Prozeß und steckte ihn ins Gefängnis.

Weshalb also haben die USA kein Interesse daran, einen so bekannten Betreiber des internationalen Staatsterrorismus wie Pinochet seiner gerechten Strafe zuzuführen?

Die Bewahrung des gegenwärtigen politischen und militärischen Establishments in Chile und im übrigen Lateinamerika spielt dabei sicherlich eine gewichtige Rolle. Doch es gibt noch bedeutendere Sorgen, die Washington von einem eigenen Gerichtsverfahren gegen Pinochet zurückschrecken lassen: Bekannte US-Politiker von gestern und heute würden mit auf der Anklagebank sitzen.

Drei solche Persönlichkeiten könnten sofort zu Zeugenaussagen herangezogen werden und müßten mit möglichen Anklagen rechnen:

* Henry Kissinger, der im Jahr 1970 hinsichtlich Chiles äußerte, er sehe nicht ein, weshalb die USA "ein Land wegen der Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes dem Kommunismus anheimgeben" sollten. Nachdem es nicht gelungen war, die Wahl Salvador Allendes zu verhindern, hatte Kissinger die CIA Operation "Track II" angeordnet. Dabei handelte es sich um die Vorbereitung und Durchführung des Militärputsches, der Pinochet an die Macht brachte und den Tod, die Folterung und die Verschleppung Zehntausender Chilenen nach sich zog.

* Richard Helms, der von Nixon Anweisung erhielt, "Chile zu retten", und der seinen eigenen Worten nach einen "Marschallstab" erhielt, nach freiem Ermessen jegliche verdeckte Operationen durchzuführen, die er zum Sturz der Allende-Regierung für erforderlich halten mochte.

* General Vernon Walters, der ehemalige stellvertretende Direktor der CIA, der im August 1975 seinen chilenischen Amtskollegen, General Manuel Contreras, Vorsitzender der DINA, zu ausführlichen Gesprächen nach Washington lud. Walters, ein fanatischer Antikommunist, soll auch den brasilianischen Militärputsch von 1964 dirigiert haben. Unter den Regierungen Reagan und Bush blieb er aktiv an den konterrevolutionären Operationen der USA in Lateinamerika und anderswo beteiligt. Es ist geradezu unvorstellbar, daß er über das Vorgehen der Pinochet-Junta bei konterrevolutionären Aktivitäten und staatlich gelenkten Terroranschlägen außerhalb Chiles, die unter dem Codenamen Operation Kondor stattfanden, nicht unterrichtet gewesen wäre.

* George Bush, der 1976 die Leitung der CIA übernahm und den Geheimdienst nach den vernichtenden Enthüllungen im Zusammenhang mit der Watergate-Krise wiederaufbaute. Bushs Schadensbegrenzung bei der CIA beinhaltete zweifellos auch, daß die Beteiligung der CIA an den Verbrechen der Pinochet-Diktatur vertuscht wurde.

Es gibt ohne Zweifel Hunderte weniger bekannte jetzige und ehemalige US-Staatsbeamte, Geheimagenten und Militäroffiziere, die am Putsch in Chile und an den folgenden Greueltaten beteiligt waren.

Das Außenministerium der USA erklärte kürzlich, es werde "so viele Dokumente wie möglich" über Pinochets Verbrechen freigeben. Man darf sicher sein, daß jegliches solches Material sorgfältig gesichtet und gefiltert werden wird, um alle Stellen zu streichen, die möglicherweise Aufschluß über "Methoden und Quellen" der CIA und anderer US-Geheimdienste geben könnten. Mit anderen Worten, Unterlagen werden entweder zensiert oder zurückgehalten werden, um zu verhindern, daß die an der Unterdrückung beteiligten amerikanischen Beamten und die Verbindungsmänner der CIA in Chile identifiziert werden.

Es ist bemerkenswert, daß man in den bislang freigegebenen Dokumenten beinahe nichts über den Mord an Letelier und Moffit findet. Michael Vernon steht nach wie vor unter dem Schutz der Regierung. Sein Aufenthaltsort und seine Identität bleiben ein strenges Staatsgeheimnis.

Und noch eine Sorge treibt die US-Regierung um. Sie fürchtet, daß die Auslieferung und gerichtliche Verfolgung Pinochets einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen könnte. Von Vietnam bis hin zu Mittelamerika und dem Persischen Golf könnten US-Vertretern Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden. Sollen auch sie festgenommen, ausgeliefert und vor Gericht gestellt werden?

Washington hat immer am lautesten getönt, man müsse die internationale Zusammenarbeit gegen den "Terrorismus" verstärken, und hat wiederholt die Auslieferung von Gegnern seiner Politik gefordert, die es als Terroristen definierte. Doch als im vergangenen Sommer in Rom ein ständig tagendes Tribunal gegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingerichtet wurde, reagierte die amerikanische Regierung mit Ablehnung. Im Gegensatz zu 133 anderen Nationen unterzeichnete sie das Abkommen zur Schaffung dieses Gerichtshofes nicht, nachdem sie vergeblich eine Garantie gefordert hatte, daß niemals ein US-Regierungsbeauftragter angeklagt werden könne.

In einem Kommentar über Washingtons Haltung zur Pinochet-Affäre schrieb die Washington Post vor kurzem, daß viele Regierungsbeamte "Pinochet schon seit einem Vierteljahrhundert ablehnen" und daß "niemand in der Administration mit dem ehemaligen General sympathisiert".

Sicherlich hielten viele, die wie Clinton selbst während der Antikriegsproteste der sechziger Jahre in die Politik kamen und die Nixon-Regierung wegen Watergate ablehnten, Pinochet lange für einen Fluch. Doch ungeachtet ihrer vergangenen Ansichten und ihrer einstigen Abscheu sind diese früheren Liberalen nun zu den standhaftesten Verteidigern des chilenischen Generals geworden.

Ihr Bemühen um die Freilassung des Ex-Diktators kleiden sie in Begriffe wie "Demokratie" und "Versöhnung". Ihr eigentliches Ziel besteht darin, die vergangenen Verbrechen des US-Imperialismus zu vertuschen und Washingtons Fähigkeit zu wahren, auch in Zukunft konterrevolutionäre Unterdrückung einzusetzen, wenn die vitalen Interessen der amerikanischen herrschenden Klasse bedroht sind.

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