Woher rührt der Aktienboom bei Internet-Firmen?

In der ersten Woche des diesjährigen Aktienhandels an der Wall Street kam es zu einem unerhörten Höhenflug der Kurse von Firmen, die im Internet tätig sind. Zwar setzte dieser sprunghafte Anstieg bis zu einem bestimmten Grade den Trend vom Jahresende 1998 fort und entsprach auch dem allgemeinen Aufwärtstrend seit den Zinssenkungen im vergangenen Herbst, dennoch muß der Boom als phänomenal bezeichnet werden.

In der ersten Januarwoche stiegen die Preise für Anteilsscheine bei einer Reihe von Firmen innerhalb eines einzigen Tages um 10, 20, in einigen Fällen sogar um bis zu 50 Prozent. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man bei Internet-Firmen - etwa dem bekannten Suchdienst Yahoo oder der Buchhandlung Amazon - eine Vervierfachung der Aktienkurse seit letztem September feststellt. Entsprechend sieht das Gesamtbild des Marktes aus. Die Bewertungen dieser Kapitalanlagen sprengen alle Grenzen. Der Preis der Aktie von America Online beispielsweise, dem bekannten Online-Dienstleister, hat sich während dieser Zeitspanne mehr als verdreifacht, und die Firma hat damit mehr abgeworfen, als General Motors.

Weshalb schießen die Preise der Internet-Aktien derart in die Höhe? Um es herauszufinden, nahm ich mir eines der meistgehandelten Unternehmen vor, broadcast.com. Es wirbt damit, der "führende Anbieter von laufenden Medienprogrammen im Web" zu sein. Broadcast.com ging letzten Juli erstmals an die Börse. Im September sank der Kurswert ihrer Aktie von Mitte sechzig auf etwas über dreißig, nur um zum Jahresende plötzlich auf 100 anzuziehen. Ende der ersten Januarwoche stieg er von 132 auf 197, ein Sprung um 50 Prozent. Erschrocken stellten die Börsenmanager den Handel ein und baten das Unternehmen um eine Erklärung. Doch die Firmenleitung konnte nur mit den Achseln zucken. Am folgenden Montag stieg der Kurs um neuerliche 40 Prozent auf 278.

Als Unternehmen ist Broadcast.com kaum mehr als ein Name; es ist eine Firma, die nach einer Idee sucht. Ihre Web Site ist beschränkt, beinahe amateurhaft. Sie produziert überhaupt nichts selbst, sondern stützt sich, wie es in der Internet-Sprache heißt, auf Content Provider. Sie spielt einfach in schlechter Qualität Ton- und Videoaufnahmen ab, die von anderen Firmen (zumeist Radio- oder Fernsehstationen) hergestellt worden sind. Die jüngste seiner "aktuellen Neuigkeiten" ist eine Rede von Sandy Berger, dem Nationalen Sicherheitsberater der US-Regierung, vom 23. Dezember; sie ist also beinahe drei Wochen alt. Selbst mit einem Hochgeschwindigkeits-Modem läßt die Bildqualität stark zu wünschen übrig, was bei der beschränkten Video-Technologie des Internet auch nicht verwunderlich ist.

Die jüngste Bewertung des Unternehmens durch die "Securities and Exchange Commission" ist äußerst aufschlußreich. "Das Unternehmen hat seit seiner Gründung bedeutende Verluste zu verzeichnen, die sich am 30. September 1998 auf ein Defizit von rund 20,2 Millionen Dollar beliefen." In den ersten neun Monaten des Jahres 1998 betrugen seine Einnahmen 11,4 Millionen Dollar. Broadcast.com ist damit nach den Maßstäben des US-Kapitalismus ein kleines bis mittleres Unternehmen. Davon gibt es Zehntausende in den USA, und die meisten kämpfen ums Überleben. Die Ausgaben der Firma betrugen im selben Zeitraum 23,1 Millionen Dollar, also mehr als das Doppelte ihrer Einnahmen. Dennoch betrug ihr Wert gemessen an den Aktienpreisen bei Börsenschluß am 11. Januar 1999 4,873 Milliarden Dollar - mehr als die entsprechenden 2,831 Milliarden der Fast-Food-Kette Wendy's, die über jährliche Einnahmen von rund 100 Millionen Dollar sowie 47.000 Beschäftigte verfügt, und mehr als die Hälfte der 8,831 Milliarden Dollar von Delta Airlines, die jährlich beinahe eine Milliarde Dollar einnehmen und eine 70.000köpfige Belegschaft beschäftigen.

Broadcast.com wird auch künftig, das gibt die Firmenleitung offen zu, Verluste machen. In der Bewertung der SEC heißt es dazu: "Das Unternehmen erwartet für die absehbare Zukunft weitere erhebliche laufende Verluste." Gibt es also Sparpläne? "Das Unternehmen hatte am 20. September 1995 weniger als zehn Beschäftigte und wuchs bis zum 31. Oktober 1998 auf 225 Beschäftigte an. In naher Zukunft plant es sein Personal deutlich aufzustocken." Der Bericht fährt fort: "Das Unternehmen beabsichtigt gegenwärtig, seine laufenden Ausgaben in erheblichem Umfang zu steigern, um unter anderem 1) sein Verteilungsnetz auszuweiten, 2) stärkere Verkaufs- und Marktaktivitäten zu finanzieren, 3) zusätzliche Inhalte zu erwerben, 4) seine Technologie zu entwickeln und auf den neuesten Stand zu bringen sowie 5) neue Ausrüstung für seine Tätigkeiten zu erwerben."

Auch die langfristigen Aussichten sind höchst fragwürdig: "Man kann nicht sicher gehen, daß das Unternehmen je profitabel sein wird, oder diesen Zustand, sollte er denn erreicht werden, aufrechterhalten kann." Die SEC vermerkt des weiteren, daß die Verträge von Broadcast.com mit seinen Programm-Lieferanten nicht exklusiv sind, d.h. von anderen Firmen unterboten werden können. Der größte Teil der Einnahmen des Unternehmens stammt aus kurzfristiger Werbung auf seiner Web Site oder in seinen Radio- und Fernsehsendungen. Es gibt keine Garantie dafür, daß seine Web Site jemals in großem Umfang genutzt werden wird. "Man weiß nicht, ob Unternehmen oder andere Organisationen das Internet in nennenswertem Maße nutzen werden, um Sendungen über ihre Geschäftstätigkeit oder andere Ereignisse zu verbreiten."

Und schließlich gibt es noch interne Probleme: Fast das gesamte obere Management ist dem Unternehmen erst vor kurzem beigetreten, beinahe seine gesamte Ausrüstung befindet sich an einem einzigen Ort, ohne daß für einen Ausfall vorgesorgt wäre. Das heißt, einem größeren Ansturm von Benutzern wäre es möglicherweise gar nicht gewachsen, die Computer-Umstellung zum Jahr 2000 kann es empfindlich treffen, und es verfügt über keinen Versicherungsschutz im Falle von Copyright-Klagen oder im Falle der Kündigung von unersetzlichen Mitarbeitern.

Mit anderen Worten, es handelt sich bei Broadcast.com um eine junge, kleine Firma mit enormen Risiken und Unsicherheiten. Sie steht auf wackeligen Fundamenten. Sie verfügt über wenige Ideen und kein wirkliches Produkt. Nicht nur ihre zukünftigen Einnahmen, sondern auch ihre zukünftige Existenz ist durchaus zweifelhaft. Der raketenhafte Anstieg ihrer Aktienpreise ist ausschließlich spekulationsbedingt.

Braodcast.com ist zu einer Art Magnet geworden, der ungeheure Kapitalblöcke anzieht, ohne sie für einen wirklich konstruktiven Zweck einzusetzen. Es verkörpert beispielhaft die wachsende Abkoppelung des Kapitals vom gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Ohne Rücksicht auf irgend welche Produktionskapazitäten wird Geld auf den Markt geworfen, das seinerseits die Preise hochtreibt. Die aus realen Einnahmen stammenden Dividenden eines Unternehmens spielen angesichts der aufgeblähten Aktienkurse eine immer geringere Rolle, da Investitionen in spekulative Geschäfte weitaus höhere Gewinne versprechen. Vor dem Aktienboom der neunziger Jahre galt ein Preis-Einnahmen-Verhältnis von 20:1 für die Obergrenze einer sicheren Anlage. Doch 1999 sind bereits Verhältnisse von 100 bis 200:1 gang und gäbe, und es gab selbst Geschäfte mit einem Preis-Einnahmen-Verhältnis von 400:1. Für einige Aktien, wie eben jene von Broadcast.com, läßt sich dieses Verhältnis überhaupt nicht berechnen, da das Unternehmen noch niemals Geld verdient hat.

Unser kurzer Blick auf Broadcast.com vermittelt einen Eindruck von dem wahnwitzigen Treiben, das sich gegenwärtig auf dem US-amerikanischen Aktienmarkt abspielt. Der Dow Jones Industrial Average und andere Indexe sind zu einer geradezu religiös anmutenden nationalen Manie geworden. Sie werden an allen Ecken und Enden veröffentlicht und zitiert. Eine beträchtliche Schicht der amerikanischen Gesellschaft ist von einem regelrechten Spielergeist, der Sucht nach leicht verdientem Geld erfaßt worden. Breite Teile der Mittelklasse und sogar eine Schicht der Arbeiterklasse sind am Aktienmarkt aktiv geworden. Die Beweihräucherung der Kurse wird so lange weitergehen, bis die heute über alle Maßen aufgeblähte Seifenblase platzt.

Die Geschichte lehrt uns zumindest eines: dieser Höhenflug wird in einem Tal der Tränen enden. Das Platzen der Seifenblase - ein Kurssturz - wird eine Menge Leute hart treffen. Viele haben sich hoch verschuldet, weil sie sich auf den steigenden Wert ihrer Anlagenpapiere verlassen. Wenn dies nicht mehr geht, wird der folgende Einbruch bei den Verbraucherausgaben auch auf internationaler Ebene dramatische Folgen haben, denn die USA haben seit der Krise von 1997 einen erheblichen Anteil der Exporte aus den asiatischen Ländern aufgenommen.