Israel bereitet sich auf Krisenwahlen vor

Der Beschluß des israelischen Parlaments, der Knesset, die rechtsgerichtete Koalitionsregierung des Likud-Blocks unter Premierminister Netanjahu aufzulösen und um anderthalb Jahre vorgezogene Neuwahlen für den 17. Mai anzuberaumen, legt die wachsende Krise des zionistischen politischen Establishments und der israelischen Gesellschaft bloß.

Der unmittelbare Grund für den Sturz der Netanjahu-Regierung liegt in ihrem Versuch, mit Washington und Palästina im sogenannten Friedensprozeß zu lavieren und gleichzeitig die zänkische Regierungskoalition aus rechten Zionisten und religiösen Parteien zusammenzuhalten.

Seinen Wahlsieg im Jahr 1996 hatte Netanjahu seiner unversöhnlichen Opposition gegen das Abkommen "Land für Frieden" verdankt, das die zuvor regierende Arbeitspartei Israels in Oslo mit der PLO unterzeichnet hatte. So konnte er sich einige Jahre lang als unfreiwilliger Wahrer eines Abkommens darstellen, das sein Vorgänger eingegangen war.

Im Oktober sah er sich dann allerdings auf Druck Amerikas gezwungen, dem sogenannten Wye-River-Abkommen zuzustimmen, das unter Vermittlung der Clinton-Regierung im US-Bundesstaat Maryland ausgehandelt worden war. Es verpflichtete die Regierung Netanjahu zum Rückzug der israelischen Besatzungstruppen aus 13 Prozent der West Bank. Als Gegenleistung mußte die palästinensische Verwaltung Yassir Arafats für die israelische Sicherheit garantieren. In diesem Rahmen wurden auch palästinensische Sicherheitskräfte der CIA unterstellt, um "Anti-Terror-Maßnahmen" in den Gebieten unter palästinensischer Verwaltung durchzuführen.

Die israelische Regierung fügte sich diesem Übereinkommen in der Absicht, es umgehend platzen zu lassen, sobald Arafats Ministaat nicht in der Lage wäre, den unausweichlichen nächsten Terroranschlag in Israel zu verhindern. Trotzdem rief das Wye-River-Abkommen wütende Proteste zionistischer Siedler hervor. Dieselben politischen Kräfte, die 1995 Premierminister Rabin (Arbeitspartei) als Verräter gebrandmarkt und damit das Attentat auf ihn ausgelöst hatten, begannen nun Netanjahu mit den selben Worten anzugreifen.

Um diese Kräfte - welche ihn an die Macht gebracht hatten und die Grundlage für die Likud-Koalition darstellen - nach Möglichkeit zu beschwichtigen, kündigte Netanjahu an, alle territorialen Änderungen zunächst einzufrieren. Doch damit stieß er Washington vor den Kopf und löste gleichzeitig eine Spaltung in seinen eigenen Reihen aus, da einige seiner Anhänger nicht bereit sind, Israels strategisches Bündnis mit dem US-Imperialismus den Erfordernissen von Netanjahus persönlichem Machterhalt unterzuordnen.

Das Ergebnis ist ein Scheitern der rechten Koalition unter Bedingungen, wo die Arbeitspartei kein glaubwürdiges Programm als Alternative aufzeigen kann. Diesem politischen Chaos in den beiden traditionellen Lagern zionistischer Politik liegt der Zerfall der israelischen Gesellschaft selbst zugrunde.

Der israelische Staat hat für dieses Jahr noch kein Budget, da die ultra-orthodoxen religiösen Parteien jede Abstimmung blockieren, solange die Knesset nicht gegen die Entscheidung eines israelischen Gerichts einschreitet, wonach konservative und Reform-Rabbiner Konvertierungen zum jüdischen Glauben vornehmen dürfen. Diese Gerichtsentscheidung war ein Angriff auf die Monopolstellung der Orthodoxen in religiösen Fragen, welche unter den Likud-Regierungen geschaffen worden war.

Wenn Netanjahu gegenüber den ultra-orthodoxen Parteien nachgeben würde, würde er sich noch weiter von den säkularen Unterstützern seiner Regierung entfremden, die ihm ohnehin schon den wachsenden Einfluß der rückständigsten religiösen Elemente in Schlüsselbereichen des israelischen Lebens verübeln. Gleichzeitig war Netanjahu nur mit der Unterstützung eben dieser Parteien in der Lage gewesen, eine Koalitionsregierung zu bilden.

Wenn keine Abstimmung stattfindet, bleibt das laufende Budget für die nächsten drei Monate in Kraft. Netanjahu will ein neues Budget sowohl aus innenpolitischen Gründen, als auch um die Forderungen des internationalen Finanzkapitals nach Maßnahmen gegen das Defizit zu erfüllen.

Die israelische Wirtschaft stagniert, die Wachstumsrate ist von 2,4% im Jahre 1997 auf 1,9% im letzten Jahr gefallen. Die offizielle Arbeitslosenrate beträgt 10%, und es gibt wachsende Anzeichen der Klassenpolarisierung.

Ein Bericht, der im letzten Jahr unter dem Titel "Kinder in Israel 1998" veröffentlicht wurde, stellte fest, daß 21,8% der Kinder des Landes unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Anzahl der Kinder, deren Familien auf staatliche Wohlfahrt angewiesen sind, hat sich im letzten Jahrzehnt mehr als verdoppelt.

Die zunehmende Armut und soziale Ungleichheit rufen eine immer größere Unruhe innerhalb der israelischen Arbeiterklasse hervor. Mehr als 100.000 städtische Arbeiter führten am 10. Januar einen Warnstreik durch, welcher Verwaltung, Müllabfuhr und andere Dienstleistungen betraf. Viele Angestellte im öffentlichen Dienst sind aufgrund der Haushaltskrise seit drei Monaten nicht mehr bezahlt worden.

Netanjahus ehemalige Kollegen des Likuds bereiten sich darauf vor, ihn in der anstehenden Wahl herauszufordern. Benny Begin, der Sohn des ehemaligen Führers des Likud, Menachem Begin, der die "Front Ganzes Land Israel" repräsentiert, hat seine Kandidatur auf einer Plattform bekanntgegeben, die für die Annullierung des Osloer Abkommens und für die Rückkehr zu der zionistischen Politik von "Eretz Israel" (die Wiederherstellung israelischer Kontrolle über alle besetzten Gebiete) eintritt.

Ein anderer abtrünniger Ex-Verbündeter des Premierministers ist Avigdor Lieberman, ehemaliger Generaldirektor der Regierung und Schlüsselfigur im Likud. Er hat seine eigene Partei mit Namen "Israel ist unsere Heimat" gegründet und bedient sich gegen Netanjahu desselben rechtsgerichteten Populismus, wie der Likud-Block. Lieberman hat die momentane Regierung als "Polizeistaat" bezeichnet und gleichzeitig erklärt, daß das ganze Land von einer "sozialen Oligarchie" regiert werde.

Dan Meridor, der ehemalige Finanzminister des Likuds, ist zurückgetreten, um möglicherweise als Kandidat für das Amt des Premierministers in einem "zentristischen" Block anzutreten. Er buhlt um die Unterstützung derselben Partei, um deren Führung sich der scheidende Generalstabschef Amnon-Lipkin Shahak bemüht.

Shahak lag in den ersten Umfragen vorne. Er profitiert davon, daß er in einer Zeit, in der sich immer mehr Israelis von den Politikern der beiden großen Blöcke angewidert abwenden, keine politische Vergangenheit hat. Als Führer des israelischen Militärs war er 1996 für die "Operation Früchte des Zorns" verantwortlich gewesen. Bei diesem brutalen Angriff auf den Libanon bombardierte Israel Zivilisten in dem Dorf Qufur Qana, was international verurteilt wurde. Als junger Offizier hatte er sich in den siebziger Jahren an militärischen Stoßtrupps beteiligt, die Attentate auf PLO-Führer verübten.

Mosche Arens, ehemaliger Verteidigungs- und Außenminister des Likuds, gab seine Absicht bekannt, in den Vorwahlen am 25. Januar gegen Netanjahu für den Parteivorsitz des Likud zu kandidieren. Arens Versuch, Netanjahu als Führer des Likuds zu ersetzen, um bei den kommenden Wahlen selbst für die Partei anzutreten, ist besonders bemerkenswert, weil Arens dem viel jüngeren Netanjahu einst den Start in der israelischen Politik ermöglicht und dem jetzigen Premierminister als politischer Mentor gedient hatte.

Bezeichnenderweise ist der Führer der Arbeitspartei, Ehud Barak, General Shahaks Vorgänger als Generalstabschef, was ein Indiz für das Gewicht des Militarismus innerhalb des Establishments ist. Die Arbeitspartei war trotz der wachsenden Unzufriedenheit mit Netanjahu nicht in der Lage, zusätzliche Unterstützung zu gewinnen. Es sieht so aus, als würde die Partei einen defensiven Wahlkampf führen, während Likud sie beschuldigt, die israelische Sicherheit zu opfern und die Aufgabe der alleinigen Kontrolle Jerusalems vorzubereiten.

Die Frage der Sicherheit wird weiter an Bedeutung gewinnen, je näher die Wahl rückt. Von der Likud-Regierung kann man erwarten, daß sie gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Palästinensern provozieren wird, um durch demonstrative Härte ihre rechtsgerichtete Basis zurückzugewinnen. Schon als die ersten Kandidaten ihre Absichten erklärten, blieb die Stadt Hebron von israelischem Militär abgeriegelt. Palästinensische Unruhen waren ausgebrochen, nachdem Besatzungstruppen ein Kind erschossen hatten, welches mit einer Spielzeugpistole hantiert hatte.

Die Regierung will unter der Führung von Außenminister Ariel Sharon die zionistischen Siedlungen in der West Bank und die Kontrolle der Sicherheitskräfte dort ausdehnen, obwohl sie offiziell versprochen hat, das Land der palästinensischen Verwaltung zu übergeben.

Sicherheitsstraßen, die das Gebiet durchkreuzen und die Siedlungen untereinander und mit Israel verbinden, zusammen mit den Sicherheitszonen, welche schon jetzt die Westgrenze der West Bank entlang verlaufen, machen bereits deutlich, daß jeder palästinensische Staat, den Arafat möglicherweise ausrufen wird, nur eine zersplitterte Gruppe verarmter und machtloser Verwaltungsbezirke sein könnte. Die Desillusionierung der Palästinenser nach den leeren Versprechungen eines eigenen Staates kann nur zu wachsender Unruhe und Konfrontationen zwischen dem Volk und den palästinensischen Behörden führen.

Die ausweglose Situation im sogenannten Friedensprozeß, verbunden mit der Spaltung des politischen Establishments, sorgt für wachsende Beunruhigung unter Israels seriöseren politischen Analytikern. Zum Beispiel hat die Jerusalem Post am Neujahrstag eine Kolumne unter dem Titel "Der starke Mann" veröffentlicht, in der vor den Gefahren, die der jetzigen Situation entspringen können, gewarnt wird.

In der Kolumne hieß es: "Politische Enttäuschung über die Demokratie wird die Attraktivität des Nicht-Politikers, des ,starken Mannes‘ erhöhen, der verspricht, mit den Intrigen aufzuräumen und die Dinge zum Laufen zu bringen, sei es auch auf Kosten der Demokratie." Sie endete mit der Warnung: "Wir können zwar weiterhin zu den Wahlurnen gehen, aber früher oder später (eher früher) werden wir nur noch die Wahl haben zwischen Anarchie und Diktatur."

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