Der Generalstaatsanwalt und das Schicksal des russischen Präsidenten

Die Abstimmung im Föderationsrat über das weitere Schicksal des Generalstaatsanwaltes J. Skuratow vom 21. April offenbart das neue Kräfteverhältnis auf den Höhen der russischen Politik. Die Weigerung der Mehrheit der Senatoren, der Präsidentenentscheidung über die Absetzung Skuratows zu folgen, signalisiert die Entstehung eines neuen politischen Drucks gegen den Kreml und trägt zu einer noch größeren Schwächung des Präsidentenflügels bei. Seit der Beschießung des Weißen Hauses 1993 war dieser einer der Grundpfeiler des politischen Systems in Rußland.

Der "Fall Skuratow" konzentriert auf sich den grundlegenden Widerspruch des herrschenden Regimes: den Anspruch, das Land auf den "Weg einer zivilisierten Entwicklung" zurückzuführen. Es schreibt sich dabei die "Autorität der Rechtes" auf die Fahnen vor dem Hintergrund, daß in Wirklichkeit ein regelrechter Bürgerkrieg gegen das eigene Volk geführt wird, Kriminalität und Korruption unter Einbeziehung der höchsten Kreise der Macht ausufern und daß keinerlei Strategie vorliegt, dem Land irgendwie aus der Krise zu verhelfen.

Skuratow ist auf der Liste der Generalstaatsanwälte einer von vielen, die in Jelzins Reformperiode ernannt worden sind. Sie alle wurden entweder in Korruptionsskandale verstrickt oder sind Opfer politischer Intrigen geworden. Skuratow wurde zu einer Kompromißfigur, der es länger als allen anderen gelungen ist, zwischen den verschiedenen Interessengruppen zu lavieren. Durch das Ausbleiben jeglicher Erfolge bei der Aufklärung auch nur eines der aufsehenerregenden Auftragsmorde in den vergangenen Jahren und das ungebrochene Anwachsen von Verbrechen und Korruption fühlte er sich zunehmend unter Druck, sichtbare Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Er wurde von der Staatsduma und von Premierminister Primakow in dem Verfahren unterstützt, das zum Schlüsselpunkt der letzten Ereignisse werden sollte: die Aufklärung der Rechtmäßigkeit der unternehmerischen Tätigkeit des größten der "Oligarchen" Boris Beresowski.

Der Präsidentenerlaß über die Absetzung Skuratows fiel zusammen mit dem Beginn der Untersuchungen der unter Beresowskis Kontrolle stehenden Firmen Ende Januar/Anfang Februar. Als Anlaß für die Durchführung der Untersuchungen diente ein Artikel in der Zeitung Moskowskij Komsomolez, in dem über die von Beresowski gegründete Firma "Atoll" berichtet wird, die ihren Sitz hinter den Kremlmauern hat und die Telefongespräche der Kremlbewohner abgehört haben soll - unter ihnen die "Familienmitglieder" des Präsidenten.

Als Antwort erschien kurz darauf ein Videofilm, in dem jemand zu sehen ist, der "Skuratow ähnelt" und seine Zeit mit leichten Mädchen verbringt. Der Präsidentenerlaß war die formelle Reaktion auf dieses Video, das den moralischen Ruf des obersten Gesetzeshüters des Landes diskreditieren sollte.

Von diesem Moment an blieb der Skandal um Skuratow "Thema Nummer Eins" in der russischen Politik. Die darauffolgenden Ereignisse, wie die Kreditverhandlungen mit dem IWF, der Beginn der Nato-Bombardierung Jugoslawiens, aber auch die immer konkreter werdende Diskussion über die Amtsenthebung des Präsidenten haben den Skandal nur weiter zugespitzt und nicht im geringsten Maße zu seinem Verschwinden hinter die Kulissen beigetragen.

Das Wesen der Krise besteht in der Unmöglichkeit, auf den höchsten Ebenen der Macht mit der Korruption abzurechnen, ohne die Grundfesten des neuen russischen Staates anzutasten. In dem konkreten Fall mit Beresowski sieht das folgendermaßen aus: Dem bisher mächtigsten Oligarchen ist es gelungen, Jelzin und dessen "Familie" in sein Korruptionsnetz zu verwickeln. Bei jedem Versuch, mit Beresowskis Machenschaften aufzuräumen, übt dieser Druck auf den Präsidenten aus und zwingt ihn, jegliche Anstrengungen zu blockieren, die gegen seine persönlichen Interessen gerichtet sind. Ob er nun will oder nicht, Jelzin befindet sich als politische Geisel in den Händen Beresowskis, während letzterer zu einem zweiten Ich des Präsidenten geworden ist.

Der zur Zeit gültigen Verfassung zufolge unterliegt die Absetzung des Generalstaatsanwaltes der Kompetenz des Föderationsrates, der obersten Kammer des Parlaments. Erstmals wurde diese Frage Mitte März zur Abstimmung gestellt. Damals stimmte die Mehrheit der Senatoren gegen die Absetzung Skuratows, und das Abstimmungsergebnis schlug wie eine Bombe ein. "Das Land steht an der Schwelle einer schweren politischen Krise", schrieb die Zeitung Iswestja, "und die grundlegende, wenn nicht sogar einzige politische Errungenschaft der Regierung Primakow, die politische Stabilität, verwandelt sich in ihr Gegenteil. Der Präsident, der Premier und auch die Mehrheit der russischen Politiker, einschließlich der engsten Kreise um Jelzin und Primakow, erlitten eine beispiellose Niederlage. Mehr noch, man kann sogar sagen, daß die zentrale Macht als solche von den versammelten Regionalfürsten eine schallende Ohrfeige erhielt."

In Wirklichkeit waren die Senatoren hauptsächlich darauf bedacht, nicht in die schmutzigen Intrigen des Kremls verwickelt zu werden. Mit ihrer Abstimmung machten sie deutlich, daß sie sich nicht gegenüber ihren Wählern in den Regionen in eine ungünstige Lage bringen wollen, indem sie die Verantwortung für die Handlungen des Präsidenten übernehmen, der sich wiederum vollständig in der Umarmung der Oligarchen befindet. Während der Ereignisse von Februar/März kursierte in den liberalen Medien die Idee, daß die nächste reguläre Kredittranche vom IWF nur bereitgestellt würde, wenn die Schlüsselfiguren der Primakow-Regierung, Masljukow und Kulik, entlassen würden. Die Entlassung Skuratows war gleichbedeutend mit der Absetzung der gesamten Regierung Primakow und eine eindeutige Revanche von Seiten der liberalen Reformer. Die Gouverneure der Regionen beteiligten sich nicht an dem für sie so selbstmörderischen Schritt. Die Mehrheit von ihnen fürchtet sich im Gegenteil vor einer neuen Reformrunde zugunsten internationaler kapitalistischer Konzerne.

Der Beginn der Nato-Bombardierung Serbiens führte zu einer enormen Verstärkung von nationalistischen Stimmungen. So auch in den beiden Kammern des Parlaments. Um unter diesen Umständen die Entlassung von Skuratow durchzusetzen, sah sich Jelzin zu Zugeständnissen an die Gebietsregierungen gezwungen. Kurz vor der zweiten Abstimmung über Skuratows Absetzung organisierte er ein Treffen mit den ihm am nächsten stehenden Gouverneuren aus 19 Regionen. Er erklärte auf diesem Treffen, daß er auf ihre Unterstützung rechne. "Ich stütze mich auf Sie und hoffe auf Sie", sagte er.

Der Präsident unterbreitete einen Vorschlag, über weitere Ausweitungen der Vollmachten für die Föderationsbestandteile zu verhandeln. Er stellte die Absprachen zur Disposition, die in den vergangenen Jahren die Machtbeschränkung der Regionen gegenüber dem Moskauer Zentrum fixierten. Jelzin schlug den Gouverneuren vor, "Ihre Vorschläge einzureichen: darüber, was Sie noch vom Föderationszentrum zu bekommen haben." "Diese Linie verfolge ich und werde daran festhalten", beschwor er.

Diesem Ziel dienen auch noch andere Erklärungen des Präsidenten. Beispielsweise die Gewährung von Regierungsgarantien bei Verträgen mit dem Ausland oder das Angebot an die Oberhäupter der Regionen, selbständig außenpolitische Initiativen zu ergreifen. Der jüngsten Auffassung des Präsidenten zufolge sollen die Regionen Priorität haben, und nicht das föderale Zentrum. 1999 soll das zur strategische Linie werden.

Trotz aller Bemühungen ist es Jelzin nicht gelungen, seine Ziele zu erreichen. Mit der zweiten Abstimmung am 21. April wies die Mehrheit der Senatoren die Entlassung Skuratows zurück. Damit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, den es in der Geschichte des "neuen Rußland" noch nicht gegeben hat. Weil der Präsidentenerlaß über die Entlassung des Generalstaatsanwaltes weiterhin Gültigkeit hat, ist Skuratow daran gehindert, sein Amt auszuüben. Darüber hinaus wurde gegen ihn selbst ein Strafverfahren eingeleitet. Faktisch besteht die Pattsituation darin, daß nun der Ausgang des Verfahrens gegen Skuratow abgewartet werden muß, damit über sein weiteres Schicksal entschieden werden kann.

Eines ist jedenfalls klar: wenn Skuratow "geht", wird das Verfahren gegen Beresowski eingestellt und die Befürworter von Jelzins Amtsenthebung verlieren einen wichtigen Hebel für die Fortsetzung dieser Prozedur. Diese ist ausschließlich mit der Sorge um die "nationale Sicherheit" Rußlands motiviert.

Noch im April wurde gegen Beresowski ein Haftbefehl ausgestellt, der sich gerade in Frankreich aufhielt und in Ermangelung eines entsprechenden Abkommens zwischen den beiden Ländern den russischen Behörden nicht ausgeliefert werden konnte. Dennoch entschied sich Beresowski nicht den Weg von S. Stankjewitsch oder A. Sobtschak zu beschreiten, die beide in Polen und Frankreich geblieben sind, sondern kehrte nach Rußland zurück. Gleich nach seinem Eintreffen, kurz bevor es zur zweiten Abstimmung im Föderationsrat kommen sollte, ging er für einige Tage "zur Behandlung" ins Krankenhaus und wartete die Entscheidung ab.

Das Ergebnis fiel nicht zu seinen Gunsten aus. Die Senatoren entschieden sich nicht für eine eindeutige Parteinahme für den Präsidenten. Man kann es tatsächlich so interpretieren, daß die Gouverneure zu einer für Jelzin unerfreulichen Entscheidung gelangt sind. Die herrschende Klasse Rußlands versteht, daß vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Krise für sie als einzige Chance die maximale Stabilisierung ihrer eigenen inneren Beziehungen verbleibt, die Konsolidierung aller herrschenden Eliten. Jelzin wird in dieser Situation mehr und mehr zu einem destablisierenden Faktor. Seine persönliche Autorität wollen sie schon nicht mehr um jeden Preis bewahren. Am Vorabend der Parlaments- und Präsidentenwahlen könnten sie versuchen, neue Kompromißfiguren in den Vordergrund zu rücken, die nicht die Verantwortung für das schreckliche Erbe der Reformen von Jelzin übernehmen werden.

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