Türkei: Faschisten und Sozialdemokraten bilden neue Regierung

Über einen Monat hat es gedauert, nun steht es fest: Nach den siebziger Jahren sitzt nun zum zweiten Mal in der Geschichte der modernen Türkei die faschistische Partei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) mit in der Regierung des unglücklichen Landes. An der Spitze der Regierung steht Bülent Ecevit von der DSP (Demokratische Linkspartei), ein altgedienter Sozialdemokrat und eingefleischter Kemalist.

Das ist von enormer internationaler und historischer Bedeutung. Es sollte Arbeitern auf der ganzen Welt als ernste Warnung dienen. Steckt das Profitsystem in einer tiefen Krise, so gibt es buchstäblich nichts, wovor Sozialdemokraten zurückschrecken, wenn man sie gewähren läßt. Alle Beteuerungen Ecevits können nicht über die Tatsache hinweg täuschen, daß der Charakter der als Graue Wölfe bekannten rechtsextremen Organisation sich nicht geändert hat. Das betont sie sogar immer wieder selbst.

Vom Staat hat sie deshalb nichts zu befürchten, im Gegenteil. Am 14. Mai verkündete Vural Savas, oberster Ankläger des Landes beim Verfassungsgericht, Presseberichte, wonach es Ermittlungen gegen die MHP gebe, entbehrten jeder Grundlage. Ein Abgeordneter der Partei erklärte anschließend, die MHP sei eine legitime Partei, die einen legitimen Kampf geführt habe, der auch heute noch weitergehe. Ähnlich äußerte sich auch Parteiführer Bahceli.

Was ist mit diesem "legitimen Kampf" gemeint? An den Tatzen der Grauen Wölfe klebt das Blut Tausender Menschen. Sie sind seit dreißig Jahren für zahllose Überfälle auf streikende Arbeiter, protestierende Studenten, für Morde an Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, Pogrome an Linken und Alewiten (eine religiöse Minderheit) und grausame Massaker an Kurden verantwortlich. Sie haben engste Verbindungen zur Mafia, zu Armee, Polizei und Geheimdienst. Beim 15jährigen blutigen Bürgerkrieg in den kurdischen Provinzen dominieren sie die "Spezialeinheiten" der Sicherheitskräfte und ebenso die gefürchteten Todesschwadrone der sogenannten "Konterguerilla". Gewandelt hat sich weniger die MHP als der Staat, dessen Organe teilweise kaum noch von den faschistischen Gangsterbanden zu unterscheiden sind.

Kein Wunder also, daß es nach den Parlamentswahlen vom 18. April zeitweilig durchaus nicht sicher war, ob die Koalitionsregierung zwischen DSP, MHP und der konservativen ANAP (Mutterlandspartei) unter Mesut Yilmaz tatsächlich zustande kommen würde. Ecevit hatte sich wie auch viele führende Zeitungskommentatoren schon von Beginn an auf eine solche Koalition hin orientiert.

Andere waren besorgt über den schlechten Ruf der MHP im In- und Ausland und über deren mögliche Unberechenbarkeit. Die Partei war zuvor vier Jahre lang nicht im Parlament vertreten gewesen. Außerdem war vor zwei Jahren ihr Gründer und bis zu seinem Tod unbestrittene absolute Führer Alparslan Türkes gestorben. Die MHP galt deshalb als schwer einschätzen.

Zeitweilig wurde daher eine Koalition der DSP und ANAP mit der anderen konservativen Partei, der DYP (Partei des wahren Weges) von Tansu Ciller, für möglich gehalten. Die beiden Mitte-Rechts-Parteien sind wegen ihrer notorischen Korruption und Vetternwirtschaft jedoch enorm diskreditiert und gehören zu den großen Verlierern der Wahl. Hinzu kommt eine erbitterte persönliche Rivalität zwischen ihren Führern. Manche Zeitungen fordern deshalb, die beiden Vorsitzenden, v.a. Ciller, sollten endlich gehen und den Weg für die Verschmelzung ihrer Parteien freimachen.

In der DYP scheinen nun, da ihre Oppositionsrolle feststeht, auch heftige innerparteiliche Kämpfe zu beginnen, ähnlich wie bei der islamistischen FP (Tugendpartei) und der sozialdemokratisch-linkskemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei), die - einst Staatspartei von Republikgründer Atatürk - nicht mehr im Parlament vertreten ist.

Ecevit hatte sich systematisch bemüht, die MHP in die Regierung einzubinden und gleichzeitig "weichzuklopfen". Seine Bedingungen für eine Koalitionsvereinbarung bekam zuerst die Presse zugespielt. Rahsan Ecevit, die Frau des Premierministers und Vorsitzende der DSP, äußerte öffentlich ihre "Besorgnis" angesichts der "Vergangenheit" der MHP und "Zweifel", ob sie sich seitdem geändert habe. Die MHP-Führung bekannte sich daraufhin pathetisch zu dem "legitimen Kampf" ihrer Partei und forderte, allerdings vergeblich, eine öffentliche Entschuldigung. Die Rechts-"Links"-Koalition schien zu platzen. Die Presse, Staatspräsident Demirel, die ANAP und Teile der Unternehmerschaft setzten daraufhin alles daran, die Koalition doch noch zu retten - was ihnen gelang.

Das Bedürfnis der türkischen Bourgeoisie nach einer solchen "starken" Regierung ist recht einfach zu erklären. Der einfachen Bevölkerung der Türkei, die jetzt schon Arbeitslosigkeit und Armut in unvorstellbarem Ausmaß ertragen muß, soll in den nächsten Jahren noch mehr von der bitteren "Medizin" aus dem Giftschrank des Internationalen Währungsfonds (IWF) zugemutet werden. Zudem fordern Unternehmerverbände, die türkische Wirtschaft für eine weitergehende Integration in die europäische "fit zu machen".

In diesen sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen gab es kaum Streit zwischen den zukünftigen Koalitionspartnern. Massive Privatisierungen, "Reform" des Sozialversicherungswesens, Senkung der Unternehmens- und Anhebung der Konsumsteuern - darin ist man sich im wesentlichen einig. Anders steht es da schon mit der Frage, wie man es durchsetzt und dabei die Gesellschaft einigermaßen zusammenhält.

In Abwesenheit einer sichtbaren sozialistischen Alternative haben sich die sozialen Spannungen bisher hauptsächlich in der Unterstützung für islamistische Tendenzen entladen. Obwohl die FP, die Nachfolgerin der verbotenen RP (Wohlfahrtspartei), eine Wahlniederlage einstecken mußte, ist sie drittstärkste Kraft im Parlament und wird die Opposition anführen.

Die MHP war noch 1991 auf einer gemeinsamen Liste mit der RP ins Parlament eingezogen und hat in diesem Wahlkampf zentrale islamistische Forderungen übernommen. Aus diesem Grund konnte sie der FP viele Stimmen abnehmen. DYP und ANAP bemühten sich um möglichst zweideutige Positionen in dieser Frage.

Wie sagte doch Marx: "Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist." Die politische Hinwendung zum Islam drückt bei vielen Arbeitern, Armen und Kleinbürgern weniger den Wunsch nach Einführung der Scharia oder eines Gottesstaates aus, als eine diffuse Sehnsucht nach "Gerechtigkeit" und "Moral". Diese Stimmung richtet sich gegen die ungeheure Zerstörung der Lebensverhältnisse, die von den Gralshütern Kemal Atatürks im Namen der "Modernisierung" und "Verwestlichung" durchgeführt worden und mit allumfassender staatliche Korruption einher gegangen ist.

Die Reaktion von Ecevit, als die FP-Abgeordnete Merve Kavakci mit Kopftuch das Parlament betrat, spricht für sich. "Dies ist kein Ort, um den Staat herauszufordern!", ereiferte er sich. Die Islamisten machten das Kopftuch zu einem politischen Symbol. Präsident Demirel äußerte sich später ähnlich. Die DSP ist praktisch die einzige Partei im Parlament, die hier eine ebenso kompromißlos harte Linie vertritt wie die Militärs. Einer ihrer Hauptstreitpunkte mit der MHP ist ein Verbot des Kopftuches in Schulen und Universitäten.

Die Grauen Wölfe hatten die Aufhebung dieses Verbotes zu einem ihrer wichtigsten Wahlkampfthemen gemacht. Deshalb hatte auch MHP-Chef Bahceli den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts und damit obersten Richter der Türkei, Ahmet Sezer, überraschend gelobt, als dieser vor vier Wochen für mehr Meinungsfreiheit eingetreten war und die bisherige Praxis von Verboten und Verfolgungen scharf kritisiert hatte.

Anders in der Kurdenfrage. Zwar stimmen alle Koalitionspartner darin überein, daß es eine solche angeblich "nicht gibt", sondern "nur ein Terrorismusproblem". Aber wie dieses "gelöst" werden soll, ist strittig. Ecevit wie auch viele Unternehmer fürchten eine weitere Eskalation und machen sich daher insbesondere für ein "Reuegesetz" stark, das geständigen und übergelaufenen PKK-Kadern Straferleichterung zubilligen soll. Auch die Vollstreckung der wahrscheinlichen Todesstrafe für PKK-Chef Abdullah Öcalan, die vom Parlament bestätigt werden muß, ist umstritten. Die MHP hat sich in beiden Fragen festgelegt: Keine Gnade für "Terroristen".

Der erfahrene alte Fuchs Ecevit soll mit der DSP die islamistischen und faschistischen Tendenzen, die von der MHP repräsentiert werden, ausbalancieren und in Schach halten. Der ANAP ist eine Vermittlerrolle zugedacht. Das Problem ist aber, daß diese Tendenzen ihre objektive Ursache im Bankrott des kemalistischen Staatsmodells und dem Auseinanderbrechen der Gesellschaft haben. Das zunehmende politische Gewicht des Militärs und der Faschisten kommt gerade daher, daß unter den Bedingungen einer dermaßen tiefen Klassenspaltung demokratische Mechanismen nicht mehr funktionieren. Daher auch der hysterische türkische Chauvinismus, der mit Muskelspielen nach außen und scharfer Repression nach innen einhergeht, damit den kurdischen Nationalismus nährt und von diesem wiederum genährt wird.

Mag sein, daß die neue Regierungskoalition eine gewisse Zeit halten wird. Sicher ist jedoch, daß sie im Gegensatz zu ihren Wahlversprechen weder Wohlstand, noch soziale Gerechtigkeit, noch Demokratisierung und Laizismus, noch ein Ende des Blutvergießens im Kurdenkonflikt bringen wird.

Siehe auch:
Scharfer Rechtsruck bei den Wahlen in der Türkei
(22. April 1999)
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