Massenproteste im Iran

Die seit einer knappen Woche anhaltenden Studentenproteste im Iran weiten sich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen aus. Nach erneuten Massenkundgebungen in zahlreichen Städten und einem gescheiterten Sturm Hunderter Studenten auf das Teheraner Innenministerium am Dienstag riefen die Machthaber für den gestrigen Mittwoch zu einer Gegendemonstration von Anhängern des Regimes auf. Dort drohte der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Nationalen Sicherheitsrates, Hassan Rauhani, vor mehreren zehntausend Regierungstreuen den oppositionellen Demonstranten indirekt mit der Todesstrafe - angesichts der gegebenen Umstände eine kaum verhüllte Aufforderung zum Lynchmord.

Am Vortag hatte die Polizei, unterstützt von Geheimpolizisten und paramilitärischen Milizen, Protestkundgebungen mit mehreren Zehntausend Teilnehmern niedergeknüppelt. Längst sind nicht mehr nur Studenten auf der Straße. Breite Teile der Bevölkerung haben sich solidarisiert. Augenzeugen und Teilnehmer berichten, wie Demonstranten auf der Flucht vor den Sicherheitskräften in Häuser eingeladen, verpflegt und versorgt werden.

Die enorme Dynamik der Ereignisse rührt aus den tiefen sozialen Gegensätzen her, die das gesellschaftliche Gefüge zerreißen. Die anfänglichen Versuche der Machthaber, die Proteste der Studenten zu instrumentalisieren, indem sie Verständnis äußerten und Besserung gelobten, scheiterten bislang ebenso wie die Bemühungen des Präsidenten Chatami, die Bewegung unmittelbar hinter seine eigenen politischen "Reformbestrebungen" zu kanalisieren.

Die Bewegung verfügt über keine eindeutige politische Orientierung. Es setzte unter den Studenten zwar rasch eine Differenzierung zwischen den "Versöhnlern" ein, die fest hinter Präsident Chatami stehen und dessen Aufforderungen zu Ruhe und Besonnenheit teilen, und den "Radikalen", die nicht zurückstecken wollen. Doch beschränken sich nach allen verfügbaren Informationen auch die radikaleren Studenten auf - sehr berechtigte - unmittelbare Forderungen wie die Freilassung aller festgenommenen Studenten, die Bestrafung der Verantwortlichen für brutale Übergriffe auf ihre Kommilitonen, und ähnliches mehr. Vereinzelt wird auch der Rücktritt des obersten religiösen Führers und Staatsoberhaupts Chamenei verlangt.

Die innenpolitische Entwicklung im Iran wird seit Jahren von einem heftigen Konflikt innerhalb der Machtinstitutionen geprägt. Auf der einen Seite steht die etablierte islamische Geistlichkeit mit ihrem Oberhaupt, der höchsten Autorität im Staate Ajatollah Chamenei, und auf der anderen eine auf engere Zusammenarbeit mit der EU und den USA orientierte "Reformfraktion" unter Präsident Chatami. Chatami hatte im Mai 1997 nach einem spektakulären Wahlsieg das Präsidentenamt angetreten. Er ließ eine Reihe oppositioneller Strömungen und Zeitungen gewähren, während die halb-offizielle Schlägertruppe des Regimes - Ansar e-Hezbollah - systematisch Jagd auf eben diese Kräfte machte.

Das Eingreifen größerer Massen der Bevölkerung brachte jedoch innerhalb weniger Tage für jedermann unübersehbar ans Tageslicht, wie es um die "demokratischen" Anwandlungen Chatamis wirklich bestellt ist.

Gingen die Studenten anfangs mit großen Bildnissen des Präsidenten auf die Straße, den sie als Verfechter von Demokratie und Freiheit verehrten, so bezog Chatami mittlerweile unzweideutig Stellung auf der anderen Seite der Barrikade. Schon am Dienstag abend bezeichnete er die Studenten im iranischen Fernsehen als Krawallmacher, die lediglich der Regierung schaden wollten. Man habe es mit einer gewaltsamen Bedrohung der Sicherheit des Staates Iran zu tun.

Die Proteste hatten begonnen, nachdem das iranische Parlament - eine Versammlung handverlesener Lakaien - am vergangenen Donnerstag, den 8. Juli, verschärfte Gesetze zur Pressezensur erlassen und die Zeitung "Salam" verboten hatte. Eine Kundgebung von Studenten der Teheraner Universität am nächsten Tag wurde von der islamischen Miliz Ansar e-Hezbollah angegriffen. Sie verfolgte die Studenten in ihr Wohnheim und mißhandelte sie schwer; es gab mindestens einen Toten. Die Polizei sah erst untätig zu, bevor sie eingriff - auf Seiten der Miliz. Seither eskalieren die Auseinandersetzungen.

Zunächst hatte das Regime noch abzuwiegeln versucht: Ajatollah Chamenei erklärte laut Berichten der amtlichen Nachrichtenagentur Irna, "die tragischen Vorfälle und die Angriffe im Studentenheim sind in einem islamischen Staat auf keinen Fall hinnehmbar". Er sicherte sogar die Bestrafung der Schuldigen zu. Der Nationale Sicherheitsrat entließ den zuständigen Polizeioffizier. Präsident Chatami forderte die Studenten zur Kooperation mit der Regierung und zur Vermeidung von Gewalt und Spannungen auf. Es gehe um die nationale Versöhnung, um "die Institutionalisierung von Freiheit und Sicherheit". Es war aber schon zu spät.

Vorderhand wollen sämtliche Fraktionen der Regierenden vor allem eines: die Massen wieder von der Straße bekommen. Sehr treffend schrieb dazu die "Süddeutsche Zeitung" in einem Kommentar vom 14. Juli: "Denn es gibt nur eines, was dem System wirklich gefährlich werden könnte: Wenn die Proteste der Studenten zum Katalysator für die allgegenwärtige, aber bisher amorphe Unzufriedenheit würden. Millionen von Iranern sind unterbeschäftigt und unterbezahlt. Sie sind nicht gegen die Werteordnung des Islam, aber sie möchten besser leben. Abermillionen verbringen 16 Arbeitsstunden täglich mit zwei oder drei Jobs und halten selbst damit ihre Familien nur mühselig über der Elendsgrenze... Für die Mehrheit der Universitätsabsolventen gibt es keine Stellen, für gelangweilte Jugendliche nur das gefährliche Spiel mit westlicher Popkultur, Rauschgift und sexuellen Experimenten.

Wenn alle diese Strömungen, so verschieden sie sind, in eine Richtung fließen, dann kann die beste Geheimpolizei der Welt nicht lange verhindern, daß sich aus diesem Gefälle etwas entwickelt, was es bisher nicht oder höchstens in Ansätzen gibt: politische Strukturen mit Führern."

"Die Welt" schildert in ihrer Ausgabe vom 12. Juli die soziale Lage folgendermaßen: "Trotz Erfolgen bei der Geburtenkontrolle wird sich die Bevölkerung des Iran von circa 68 Millionen Einwohnern bis 2025 verdoppeln. 60 Prozent der Bevölkerung des Iran sind jünger als 20 Jahre, und jährlich drängen bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von 14 Prozent rund 800.000 Jugendliche auf den Arbeitsmarkt. Die Kaufkraft der Löhne liegt bei einem Drittel derjenigen zur Zeit der Revolution. Und die Verarmung schreitet fort."

Chatami reagierte auf diese Krise mit einer Politik, die darauf ausgerichtet gewesen war, im Namen einer "Demokratisierung" des Iran eine Öffnung des Landes gegenüber den wirtschaftlichen Interessen der USA und der EU zu betreiben.

Der ehemalige (vor 1979) Vorsitzende des Islamischen Zentrums in Hamburg, der fließend Deutsch und Englisch spricht, unterhielt spätestens seit seiner Wahl vor zwei Jahren recht enge Verbindungen zu Vertretern der US-Regierung und hatte - ein einmaliger Vorgang - sogar einer amerikanischen Nachrichtensendung ein Interview gegeben.

Innerhalb des Iran gewann Chatami in jüngerer Zeit vor allem dadurch an Popularität, daß er die Serie brutaler Mordanschläge des Geheimdienstes gegen Schriftsteller, Vertreter oppositioneller Parteien und Publikationen untersuchen ließ, die Ende vergangenen Jahres stattgefunden hatte. Kurz vor den Kommunalwahlen im Februar hatte er den Rücktritt des zuständigen Ministers für die Geheim- und Sicherheitsdienste durchgesetzt. Dies trug wesentlich dazu bei, daß bei den Kommunalwahlen die Kandidaten, die ihn unterstützten, rund 70% der Stimmen erhielten.

Doch nicht erst die jüngste Entwicklung hat deutlich gemacht, daß es sich bei Chatamis "Kampf für Demokratie" lediglich um Manöver im Fraktionskampf innerhalb der Herrschenden handelte.

Laut Berichten von "The Iran Brief" (http://www.iran.org/tib/), die u.a. für den außenpolitischen Ausschuß des amerikanischen Kongresses bestimmt sind, belasteten die Ermittlungen wegen der Mordserie den engsten Führungszirkel um Ajatollah Chamenei. Chatami habe sich daraufhin mit Chamenei geeinigt, den entsprechenden Bericht des Abgeordneten Younesi geheim zu halten, wenn ihn Chamenei im Gegenzug vor den islamistischen "Hardlinern" schütze.

"The Iran Brief" zufolge habe Chatami überdies gefordert, daß einem "Obersten Wirtschaftsrat" unter Führung seines engsten Vertrauten Hossein Moussavi sämtliche Vollmachten für die Wirtschaftspolitik übertragen würden. Das Parlament solle kein Recht haben, sich in die Wirtschaftspolitik einzumischen. Darüber hinaus solle das Finanzministerium die Kontrolle über die Stiftung Bonjad-e Mostafazan übernehmen, die große Teile der iranischen Wirtschaft im Sinne Chameneis, ihres nominellen Vorsitzenden, organisiert und gegenwärtig im wesentlichen die Interessen der Basarhändler Teherans im Auge hat.

Die mit harten Bandagen geführte Auseinandersetzung innerhalb der herrschenden Elite des Iran ist nichts weniger als ein Konflikt zwischen "demokratischen Reformern" auf der einen und "fanatischen Mullahs" auf der anderen Seite. Weder geht es Chatami um Demokratie, noch Chamenei um Religion. Die Auseinandersetzung dreht sich um die politische Orientierung der iranischen Bourgeoisie unter den geänderten geopolitischen Voraussetzungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und unter Bedingungen einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise.

Die von Chatami propagierte "Öffnung des Landes" trifft sich mit dem neu erwachten Interesse der amerikanischen Regierung an einer begrenzten Zusammenarbeit mit dem Iran als stabilisierende Regionalmacht.

Diese Politik ist unvereinbar mit demokratischen Rechten. Die politischen und sozialen Anliegen der Bevölkerung können nur mit einem sozialistischen Programm durchgesetzt werden, das die Unterdrückten der gesamten Region vereint.

Siehe auch:
As it orients towards the Caspian, Washington modifies sanctions against Iran
(3. Mai 1999)
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