Armut tötet

Die Wiederkehr der Tuberkulose

Als nach der Entdeckung der Antibiotika und der Steigerung des Lebensstandards in den Industrienationen die Anzahl der Opfer von Infektionskrankheiten rückläufig war, hielt man dies für den Sieg der Menschheit über ihre "Geißeln". William Stewart, damaliger ranghöchster Gesundheitsbeamter der Vereinigten Staaten, erklärte 1969 vor dem Kongreß, daß es an der Zeit sei, "das Buch der Infektionskrankheiten zu schließen". Der Spiegel nennt diese Annahme (Nr. 16/1999) einen "der fatalsten Irrtümer dieses Jahrhunderts".

Zum einen schuf die Natur neue, bis dahin beim Menschen unbekannte Erreger - der bekannteste und gefürchtetste ist das AIDS- Virus. Zum anderen war der Sieg über die Infektionskrankheiten nie vollständig. In all den Ländern, denen die nötigen Mittel und die Infrastruktur fehlen, kämpfen die Menschen wie eh und je gegen die Krankheiten an: Laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) entfielen auf dem afrikanischen Kontinent allein auf die Tuberkulose 26 Prozent der "vermeidbaren Todesfälle". In Indien erkrankten 1997 ca. zwei Millionen Menschen an Tuberkulose. Weltweit kostete die Seuche 2,9 Millionen Menschen das Leben.

Die auch "Schwindsucht" genannte und oft die Lunge befallende Tuberkulose fordert die meisten Opfer unter den unterprivilegierten Schichten einer Gesellschaft. Wie der normale Schnupfen überträgt sich die Tuberkulose durch Tröpfcheninfektion. Ein bis zehn Erreger reichen aus, um einen Menschen zu infizieren, der allerdings nicht unmittelbar erkranken muß. Das mycobacterium tuberculosis ist in der Lage, sich im Organismus einzunisten und in eine Art Winterschlaf zu fallen, wenn die Immunabwehr des Infizierten noch zu stark ist. Wird das Immunsystem jedoch geschwächt, sei es durch Krankheit oder wachsender Armut geschuldete Mangelernährung, aktiviert sich der Erreger und der Mensch erkrankt an der Tuberkulose - dies erklärt, warum ca. ein Drittel der AIDS- Kranken Opfer der Tuberkulose werden.

In der ehemaligen Sowjetunion haben die Einführung der Marktwirtschaft, die damit einher gehende Verarmung und Vernichtung des erreichten Lebensstandards, der Kollaps des Gesundheitswesens und der sozialen Sicherungssysteme für die große Masse der Bevölkerung "optimale" Bedingungen für die Tuberkulose geschaffen. 140.000 Russen erkrankten im Jahr 1997 an der Schwindsucht, in den vergangenen Jahren insgesamt bereits ca. zwei Millionen. Die Anzahl tödlich verlaufender Tuberkulose-Erkrankungen stieg zwischen 1991 und 1994 um 87 Prozent.

Die für die Bekämpfung der Seuche eminent wichtige medizinische Infrastruktur besteht praktisch nicht mehr: Ärzte und WHO klagen über das Fehlen an medizinischem Gerät, Medikamenten und Geldern. Der Sparkurs der russischen Regierung veranlaßte das Gesundheitsministerium, alle Tuberkulose-Bekämpfungsprogramme nicht mehr zentral von Moskau aus zu verwalten, sondern an regionale und örtliche Behörden abzugeben. Diese haben allerdings noch geringere Möglichkeiten und Mittel, wirksam gegen die Krankheit vorzugehen.

Die Lage in Rußland entwickelt sich immer verheerender. Betroffene und Gesundheitsbeamte der WHO berichten im Tb Treatment Observer, dem Online-Magazin der WHO, von Ärzten, die aufgrund der Versorgungsmängel wissentlich falsche Medikamente und/oder zu geringe Dosierungen verschreiben, nur um überhaupt etwas zu tun. Kranke meiden zum Teil den Gang in eine Klinik, um durch den langen Aufenthalt nicht ihre Arbeitsstelle zu riskieren. In Krankenhäusern wird versucht, Tuberkulose-Kranken durch die chirurgische Entfernung befallener Lungenteile zu helfen - aufgrund fehlender "normaler" Behandlungsmöglichkeiten. Insgesamt herrschen "vielerorts seuchenmedizinische Zustände wie vor dem Zweiten Weltkrieg" ( Der Spiegel 16/1999).

Statistisch gesehen (laut der letzten EU- Erhebung von 1996) erkrankten in Rußland 75,6 pro 100.000 Menschen an Tuberkulose. Laut EU erreicht die Tuberkulose ab einem Wert von 20 auf Hunderttausend epidemische Ausmaße! Rumänien liegt in dieser Statistik mit 105,9 Fällen an der Spitze, wobei man die Situation im zerbombten Jugoslawien in Bezug auf die Tuberkulose noch gar nicht absehen kann.

Zusätzlich führt die unzureichende Behandlung der Tuberkulose (auch Kasachstan gab bekannt, wegen finanzieller Engpässe das Gesundheitssystem nicht aufrecht erhalten zu können) zur Entstehung neuer, gefährlicherer Erregerstämme. Überleben einige der Tuberkulose-Erreger die Behandlung mit Antibiotika, so können sie eine Resistenz gegenüber diesem Wirkstoff ausbilden - sie werden immun gegen die Medikamente. Die Bakterien können diese Resistenz vererben, aber auch durch Austausch von DNA-Teilen an andere Stämme abgeben und kombinieren. Auf diesem Wege entstehen Erreger, die gegen eine Vielzahl Medikamente resistent sind - sogenannte Multi-Drug-Resistent-Tuberkulose (MDR-Tb).

Stellt bereits die Behandlung der "normalen" Schwindsucht (durchschnittliche Behandlungskosten pro Patient ca. 2.000 Dollar) das Gesundheitswesen der rekapitalisierten Staaten vor große Probleme, so müßten sie einer Epidemie resistenter Erreger tatenlos zusehen, da hier die durchschnittlichen Behandlungskosten eines Patienten bis auf 250.000 Dollar ansteigen können.

Gro Harlem Brundtland, Direktorin der Weltgesundheitsorganisation, spricht in Bezug auf den wirtschaftlichen Niedergang und die MDR-Tuberkulose von einer "unkontrollierbaren Komplexität" und umschreibt damit eine drohende Katastrophe. Im Zuge der ansteigenden Verarmung (laut WHO hat sich weltweit die Zahl der Flüchtlinge und Obdachlosen in den letzten Jahren verneunfacht) und der Angriffe auf die nationalen Gesundheitssysteme, fallen die WHO-Prognosen über die Ausbreitung der Tuberkulose düster aus: Für die kommenden zwei Jahrzehnte rechnet die WHO mit einer Milliarde Neuinfektionen, 200 Millionen Neuerkrankungen und 70 Millionen Toten.

Fünf Jahrzehnte lang, von der Entdeckung des Tuberkulose-Antibiotikums "Streptomycin" im Jahr 1944 bis zum Zusammenbruch der UdSSR, war die Tuberkulose praktisch vom europäischen Kontinent verbannt. Durch die unmenschlichen Zustände begünstigt, unter denen ein Großteil der Bevölkerung des ehemaligen "Ostblocks" leben muß, hat die Armenseuche in Europa wieder Fuß gefaßt und droht sich epidemisch auszubreiten: "Für New York warnen Seuchenexperten vor einer sich anbahnenden Tbc-,Tragödie‘ - sie kann sich in jeder anderen westlichen Großstadt wiederholen, in der es Obdachlose, Drogenabhängige, Alkoholiker oder Sozialhilfeempfänger gibt..." ( Der Spiegel Nr. 16/1999).

Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme sind Angriffe auf die Gesundheit derer, die sich keine ausreichende Versorgung leisten können. Muß für die Gesundheitsversorgung wie für eine Ware gezahlt werden, gilt, was auf dem afrikanischen Kontinent längst Tatsache ist: Armut tötet!

Siehe auch:
Oxfam dokumentiert die Folgen von IWF-Programmen
(3. November 1998)
Gesundheit als Ware - Die Gesundheitsreform 2000
(26. Juni 1999)
Rußland - Eine Gesellschaft im freien Fall
Die soziale Krise verschärft sich immer mehr

(1. April 1999)