Tausende Tote bei Erdbeben in der Türkei

Das Erdbeben, das am Dienstag früh die Nordwesttürkei erschütterte, war eines der schwersten in der Geschichte des Landes und das schlimmste in der Türkei in den letzten zwanzig Jahren. Zum Zeitpunkt, als dieser Artikel geschrieben wurde, lag die geschätzte Zahl der Toten schon bei etwa 3.500, die der Verletzten bei über 17.000, Tendenz weiter steigend.

Zehntausend Verschüttete sollen noch unter den Trümmern begraben sein. Allein in Istanbul sollen ersten Schätzungen zufolge über 100.000 Menschen nun ohne Behausung sein. Wie viele ihre Arbeitsplätze und aufgrund des schlechten Sozialsystems ihre ganze gesellschaftliche Existenz verloren haben, ist überhaupt noch nicht abzusehen.

Die Bevölkerung reagierte Berichten zufolge nach dem ersten Schock mit Zorn und Erbitterung gegen die Regierungsbehörden und besonders die skrupellosen Bauunternehmer, denen ein großer Teil der Verantwortung für das Ausmaß der Folgen des Bebens gegeben wird. Selbst die konservativ-nationalistische Zeitung Hürriyet titelte in Bezug auf die Bauunternehmer in riesigen Lettern "Mörder!" und meinte gar, diese seien "noch schlimmer" als die "Terroristen" der PKK. Unzufriedenheit herrscht auch über den Staat, der sich zum wiederholten Male nicht in der Lage zeigte, rasche Rettung und Versorgung der Verschütteten zu organisieren. Stunden um Stunden gruben Menschen oft mit bloßen Händen nach ihren Verwandten unter den Trümmern. Unzählige zeigten sich solidarisch und halfen freiwillig mit.

Am schlimmsten getroffen war natürlich das Epizentrum, die Industriestadt Izmit. Die größte Ölraffinerie des Landes geriet dort in Brand, den die Feuerwehr nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte. Neben Izmit traf es v.a. die gut 80 km weiter östlich gelegene Metropole Istanbul. Aber auch in vielen oft noch wesentlich weiter entfernten Städten brachen Häuser zusammen, gab es Tote und Verletzte. In der ganzen Region funktionierten stundenlang weder Strom noch Telefon, der Verkehr brach völlig zusammen.

Auffällig war, dass besonders viele neu gebaute Häuser etwa im Istanbuler Viertel Avcilar sofort wie Kartenhäuser in sich zusammenstürzten. In der englischen Online-Ausgabe der Zeitung Milliyet vom 18. August hieß es dazu: "In Avcilar, dem Viertel von Istanbul, das von dem starken Erdbeben am stärksten betroffen war, ging der größte Teil des Schadens auf mangelhafte Konstruktion und Bauweise zurück. Mutlu Öztürk vom Verband der Ingenieure und Architekten (TMMOB) sagte nach Überprüfungen des Gebiets: ,Das Erdbeben hat die Gebäude mit mangelhafter Bauweise niedergerissen, die Natur hat die schwachen und illegal errichteten Gebäude getroffen und die starken verschont.'"

Über die Hälfte aller Gebäude in Istanbul wie auch in vielen anderen türkischen Großstädten sind solche sogenannten "Gecekondus"("Über Nacht gebaute Hütten"). Dort leben großenteils ehemalige Bauern und Tagelöhner, die entweder aus Not oder auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in den Kurdengebieten der Südosttürkei mit ihrem wenigen Hab und Gut in den Westen des Landes gezogen sind und sich dort (gezwungenermaßen illegal) auf städtischem bzw. staatlichem Land eine Bleibe schaffen. Die Wohnungen werden errichtet, ohne auch nur im geringsten auf Statik und Material zu achten - das spart den beauftragten Bauunternehmern Kosten und treibt die Gewinnspanne in die Höhe. Dies in einem Land, das alle paar Jahre von einem Erdbeben mittlerer Größenordnung heimgesucht wird.

Die Wohnungen sind dabei oft noch nicht einmal besonders billig. Die Menschen wissen in vielen Fällen gar nicht, in welche nagelneuen Bruchbuden sie da einziehen. Wie sollten sie auch. Die staatlichen Behörden drücken gegen ansehnliche Schmiergelder beide Augen zu, eine baupolizeiliche Aufsicht gibt es daher in der Praxis kaum. Die lokalen Politiker, nicht selten islamistische Demagogen, die sich mehr Wählerstimmen versprechen, lassen ebenfalls die Baumafia unkontrolliert ihr Unwesen treiben und behandeln die dadurch ständig wachsenden Gecekondus wie "normale" Stadtviertel, d.h. erkennen das kriminelle Bauwesen praktisch an.

Deshalb wird heute sogar offen mit den Bauten und Grundstücken spekuliert, wie die Süddeutsche Zeitung(18. August ) schreibt. Gelegentlich lässt die Stadtverwaltung dann bestimmte Armenviertel mit Polizeigewalt räumen und niederreißen, da manche zu Hochburgen von linken Gruppen oder der kurdischen PKK geworden sind. Nur eine gute Woche vor dem Beben hatte der konservative Innenminister Tantan (ANAP) verkündet, er werde alle Gecekondus ohne Gerichtsverfahren niederreißen lassen, ohne freilich zu sagen, wo deren Bewohner dann hin sollten.

Der konservative Staatspräsident Demirel und der sozialdemokratische Ministerpräsident Ecevit (DSP) drückten immer wieder ihre "tiefe Trauer und Anteilnahme am Schicksal der Nation" aus und versicherten, der Staat tue alles, was in seiner Macht stehe, um zu helfen. Alles andere liege in Gottes Hand.

Von diesen hohlen Phrasen setzten sich interessanterweise gerade diejenigen etwas ab, von denen man meinen sollte, sie würden sich jetzt besser gut verstecken. Der Vorstand der mitregierenden faschistischen MHP (oder "Graue Wölfe") erklärte: "So lange wir mit unserer Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit fortfahren, werden wir unter solchen Katastrophen mehr leiden, als nötig wäre." Der Chef der ebenfalls in der Regierung vertretenen ANAP und frühere Premierminister Mesut Yilmaz meinte, obwohl er zu seiner Regierungszeit letztes Jahr, als es auch ein Erdbeben gegeben hatte, alles nur Erdenkliche getan hätte, habe es aufgrund der Bürokratie leider immer viel zu lange gedauert, bis in solchen Fällen die Opfer entschädigt würden. Das müsse sich diesmal ändern.

Tatsächlich war Yilmaz im Herbst letzten Jahres über eine Korruptionsaffäre gestürzt, in die auch zwielichtige Bauunternehmer wie Korkmaz Yigit und Mafiosi verwickelt waren, die mit dem Staat fast ebenso gute Beziehungen unterhielten wie zur - MHP. Die enge, fast symbiotische Verflechtung zwischen der Mafia, Faschisten, korrupten Politikern und Unternehmern ist in der Türkei seit Jahren ein offenes Geheimnis. Die bekanntesten Figuren aus diesem Klüngel wie Sedat Bucak und Mehmet Agar sitzen bis heute seelenruhig im Parlament. Die Aufhebung ihrer parlamentarischen Immunität ist gerade wieder - vorläufig - bis nach der Sommerpause verschoben worden, während gleichzeitig die meisten Forderungen des IWF umgehend in Gesetzesform gebracht wurden.

Wie es mit der Bestrafung der "Mörder" vermutlich aussehen wird, konnte man just diese Woche beobachten. Milliyet meldete, dass in dem neuen Amnestiegesetz zwar keine "Verbrechen gegen den Staat" (politische "Delikte") berücksichtigt werden, wohl aber jene Bauunternehmer, die für die über 140 Toten eines Erdbebens in Adana am Mittelmeer im Juni letzten Jahres verantwortlich gemacht werden.

Ob und wie die zahlreichen Opfer in ausreichender Höhe versorgt und entschädigt werden, ist ebenfalls eine offene Frage. Der Staat ist nicht nur korrupt, er hat auch kein Geld. Die Erfüllung der "EU-Kriterien" und "IWF-Auflagen" hat die Bevölkerungsmehrheit bis aufs Blut ausgepresst und ihr Geld in die Taschen der einheimischen und internationalen Unternehmer und Banken gelenkt.

Anstatt, wie es sich die Regierung wohl erhofft haben mag, "die Nation in der Stunde der Not zusammenzuschweißen" hat das Erdbeben die tiefen Gräben sichtbar gemacht, welche die arbeitende Bevölkerungsmehrheit in dieser Nation von der Kapitalistenklasse und deren politischen Vertretern und Beschützern trennt.

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