Russland und der Konflikt um Dagestan

In Dagestan findet seit nunmehr zwei Wochen ein nicht erklärter Krieg zwischen den Truppen des Innenministeriums der Russischen Föderation und sogenannten "islamisch fundamentalistischen Rebellen" unter der Führung des tschetschenischen Feldkommandanten Bassajew und des Jordaniers Chattab statt.

Letztere marschierten am 7. August in kleineren Verbänden vom benachbarten Tschetschenien in Dagestan ein, besetzten in den Gebirgsregionen Botlich und Zumandinsk sieben Ortschaften, riefen die "Islamische Republik Dagestan" aus und drohten Moskau mit dem "Heiligen Krieg", Dschihad, bis alles "Nichtislamische" das Land verlassen habe. Gemeint sind die russischen "Besetzer".

Anlass war das angebliche Eindringen russischer Truppen auf das Gebiet der Republik Tschetschenien, die im Ergebnis des Tschetschenienkrieges seit 1996 de facto selbständig ist, offiziell allerdings noch zu Russland gehört. In den vergangenen Monaten war es zwischen beiden Republiken wiederholt zu blutigen Grenzzwischenfällen gekommen.

Die Regierung in Moskau reagierte auf die Besetzung mit brutalen Bombardierungen, denen russischen Angaben zufolge bereits über 600 der anfangs 1.200 Separatisten zum Opfer gefallen sein sollen. Auf tschetschenischer Seite ist lediglich von zwei Dutzend Toten die Rede. Die Kämpfe lösten nach UNHCR-Angaben einen Flüchtlingsstrom von mittlerweile fast 10.000 Menschen aus, die nun zum größten Teil in der Republikshauptstadt Machatschkala ausharren.

Meldungen über die weitere Entwicklung des Konfliktes aber auch über die gegenwärtige Situation divergieren beträchtlich. Legten russische Regierungssprecher und Massenmedien größtenteils Optimismus an den Tag, sprechen die Fakten eine andere Sprache. Wurde anfangs unablässig behauptet, dass die Zusammenstöße mit den Rebellen innerhalb weniger Tage beigelegt werden könnten, sah sich die russische Regierung inzwischen gezwungen, etwa 20.000 Soldaten - nunmehr des Verteidigungsministeriums - in der Region zusammenzuziehen, die sich auf "mehrmonatige Auseinandersetzungen" einzustellen haben. Finanzminister Kasjanow stimmte darüber hinaus einer Erhöhung des Solds der in der Krisenregion eingesetzten Soldaten auf 1.000 Dollar pro Monat zu, um die Moral der Truppen zu stärken.

Der Konflikt wird allerdings allem Anschein nach kaum die Form eines neuen Tschetscheniens annehmen. Damals konnten sich die Separatisten unter Dudajew an die Spitze einer Unabhängigkeitsbewegung stellen, die sich auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung gründete. Während des darauffolgenden zweijährigen blutigen Krieges von 1994 bis 1996 hat es auf beiden Seiten über 50.000 Tote gegeben.

Was ist seitdem geschehen? Trotz des spärlichen Informationsflusses aus dem Land ist offensichtlich, dass die Probleme der tschetschenischen Bevölkerung nicht einmal im Ansatz gelöst wurden. Im Gegenteil. Das Land befindet sich im Chaos, während eine dünne Oberschicht von Mafiaclans die Erträge aus dem durchgeleiteten aserbaidshanischen Öl in die eigenen Taschen steckt und sich ein weiteres Zubrot durch Drogen- und Waffenschmuggel sowie mit Menschenhandel verdient.

Die Bilanz aller "Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen" hat zu einer Ernüchterung der Stimmung in den Massen und somit zu einem Wendepunkt in der Periode seit dem Ende der Sowjetunion geführt. Immer deutlicher werden die tatsächlichen gesellschaftlichen Triebkräfte hinter dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Tschetschenienkrieg für jedermann sichtbar: unter dem Banner von nationaler Unabhängigkeit oder religiöser Selbständigkeit hat in den letzten Jahren in allen ehemaligen Sowjetrepubliken eine enorme gesellschaftliche Ausdifferenzierung stattgefunden. Die breite verarmte Masse der Bevölkerung sieht sich jeglicher Zukunfts- und Lebensperspektive beraubt einer dünnen, sehr reichen, durch und durch korrupten und rücksichtslosen Oberschicht gegenüber.

Wie ist die Situation in Dagestan? In dieser Republik leben etwa 2 Millionen Menschen, die 35 verschiedenen ethnischen Gruppierungen angehören, die mehrheitlich dem islamischen Kulturkreis zuzurechnen sind. Die soziale Lage ist wie in allen Kaukasusrepubliken, die zu den ärmsten Regionen Russlands gehören, katastrophal. Die offizielle Arbeitslosigkeit beläuft sich auf 20 Prozent, während inoffizielle Zahlen über 80 Prozent kursieren. Allein die offizielle Jugendarbeitslosigkeit wird auf 56 Prozent beziffert.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist mit der früher recht ertragsreichen Landwirtschaft die Nahrungsmittelindustrie fast völlig zum Erliegen gekommen. Lediglich der Fischfang im Kaspischen Meer und der Weinanbau haben überlebt. Dagestan ist so arm, dass 87 Prozent seines Haushaltsbudgets aus Moskau kommen, und derart unterentwickelt, dass es in einigen Kleinstädten noch nicht einmal eine städtische Trinkwasserversorgung gibt.

Die Gesellschaft wird von verschiedenen Clans beherrscht, die zum einen der ehemaligen Parteinomenklatur entstammen, andererseits ähnlich wie in Tschetschenien religiös-fundamentalistische Mafiastrukturen bilden. Entsprechend sieht die Vermögensverteilung aus. Die 200 reichsten Familien, die weniger als 2 Prozent der Bevölkerung stellen, sollen 85 Prozent des Volksvermögens unter ihrer Kontrolle haben, während die Mehrheit der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Die Situation in dieser Republik ist ein anschauliches Beispiel für das Erbe des Stalinismus, der keines der traditionellen Probleme im Nordkaukasus gelöst hat, die heute mit noch größerer Schärfe auf die Tagesordnung rücken.

Schamil Bassajew, Anführer der Rebellen und Verkünder einer extremen Form des Islamismus saudiarabischer Art, des Wahhabismus, hat in Leningrad Landmanagement studiert und stand im August 1991 als begeisterter Verteidiger Jelzins vor dem Weißen Haus in Moskau. Nachdem im Tschetschenienkrieg zehn seiner Verwandten umgekommen sind, wurde er einer der bekanntesten Kämpfer gegen das Regime in Moskau. Ein halbes Jahr nach dem Krieg verlor er die tschetschenischen Präsidentschaftswahlen von 1997 gegen Aslan Maschadow, der das Schicksal seiner eigenen Gruppe zunehmend mit dem Moskaus verknüpfen will. Bassajews Nummer zwei, der jordanische Söldner Chattab, ist ebenfalls bekannt für seine Karriere als Menschen- und Rauschgifthändler.

Seit Ende Juli liefen Vorbereitungen für ein Treffen zwischen Maschadow und Jelzin, wobei von Geheimdienstlern gewarnt wurde, dass die gegnerischen Gruppen als Reaktion auf eine solche Verständigung Angriffe auf dagestanisches Gebiet unternehmen würden, um ihre Einnahmen aus dem Drogen- und Waffenhandel und der einträglichen Geiselnahmen zu sichern. Damit finanzieren sie ihre faktisch unabhängigen Fürstentümer.

In Dagestan nun wollen diese Gruppen ihre Einflusssphären mit Hilfe einer islamistischen Befreiungsideologie und durch die "Befreiung der besetzten Gebiete" ausdehnen, womit sie in der Bevölkerung allerdings nicht auf die von ihnen erwartete Begeisterung gestoßen sind. Die Mehrheit flieht, während sich etliche der russischen Armee als Freiwillige anschließen.

Woher Bassajew seine Waffen und finanziellen Mittel bezieht, ist weiterhin unklar. Die von der russischen Regierung beschuldigten Länder Türkei, Saudi-Arabien, Pakistan und Kuwait hüllen sich in Schweigen, obwohl ihr objektives Interesse an der Region sehr hoch ist. Dagestan liegt am Ufer des Kaspischen Meers und macht nahezu zwei Drittel des russischen Küstenteils aus. Die Pipeline von der aserbaidshanischen Hauptstadt Baku zum russischen Schwarzmeerhafen Noworossisk führt direkt durch das Land. Gelänge es diesen Ländern ihren Einfluss in der Region auszuweiten, könnten sie verhindern, dass der Weltmarkt mit kaspischem Öl überschwemmt wird und somit die Preise in den Keller drückt.

Aserbaidshan und Amerika, die ihre Interessen in der Region in eine andere Richtung immer weiter miteinander verknüpfen, haben die Kämpfe der Separatisten sofort verurteilt, weil "die islamischen Rebellen Gewalt gegen unschuldige Zivilisten einsetzen". Zufällig befindet sich US-Energieminister Bill Richardson gegenwärtig auf einer Reise in die Türkei, nach Aserbaidshan und Turkmenistan, um die Errichtung einer Gaspipline durch das Kaspische Meer von Turkmenistan über Aserbaidshan in die Türkei zu forcieren. In Europa ist man angesichts des Konfliktes vor allem darüber besorgt, dass Russlands Integrität gefährdet ist, wobei unklar ist, wie in diesem Konflikt die eigenen Interessen durchgesetzt werden können.

In Moskau selbst ist man sich seiner eigenen Schwäche seit der Finanzkrise vom Vorjahr und der militärischen Erniedrigungen durch die NATO während des Kosovokrieges sehr bewusst. Die Einbeziehung der verschiedenen Regionen des Landes in die Weltwirtschaft unterhöhlt zusätzlich die Autorität Moskaus. Über alle scheinbar zutiefst zerstrittenen Fraktionen und Machtgruppierungen hinweg sind daher unisono Forderungen nach einem stärkeren Staat und einer resoluten Lösung des Konfliktes zu hören.

Vor diesem Hintergrund muss auch die Ernennung von Wladimir Putin zum neuen Premierminister gesehen werden. Jelzin reagierte auf den zunehmenden Druck von innen und außen mit pragmatischen Manövern zur militärischen Stärkung seines Apparates, indem er sich zuverlässiger Geheimdienstler und Militärs bedient. Stepaschin, einer der Hauptverantwortlichen für das Debakel im Tschtschenienkrieg, war unter diesen Bedingungen nicht mehr haltbar. Er musste jemandem Platz machen, der bei Fortsetzung der gleichen Politik eine härtere Linie fährt. So trat der für seine Kaltblütigkeit bekannte Putin mit den Worten sein Amt an: "Ich bin Militär und führe Befehle aus".

Ganz gleich inwieweit sich Schamil Bassajew über die Bedeutung seiner Angriffe bewusst ist, zeigen sie sehr deutlich, dass Russlands Einheit nur noch auf tönernen Füßen steht und durch leiseste Erschütterungen aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Die gleichen mächtigen zentrifugalen Kräfte, die das Ende der Sowjetunion herbeigeführt haben, stellen nun die Integrität der Russischen Föderation in Frage.

Siehe auch:
Jelzin ernennt neuen Premierminister
(13. August 1999)
Rußland und der Kampf um das kaspische Öl
( 23. Juni 1999)
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