Jelzin ernennt neuen Premierminister

Ehemaliger KGB-Agent wird russischer Regierungschef

Am 9. August 1999 entließ Präsident Jelzin Premierminister Sergej Stepaschin nach nur dreimonatiger Amtszeit. Es war der fünfte Wechsel des Regierungschefs innerhalb von 18 Monaten. Das ist ein weiterer Beweis für die ausweglose Situation, in der sich die Kremlführung befindet. Das Jelzin-Regime hat sich selbst überlebt, wobei Präsident Jelzin weiterhin die Schlüsselfigur bei der Aufrechterhaltung des politischen Systems bleibt.

Als neuer Premierminister wurde Wladimir Putin ernannt, der bis dahin den russischen Geheimdienst FSB leitete und Sicherheitschef der Russischen Föderation war. Er ist bereits der dritte Premierminister, der aus dem Geheimdienst oder den Strukturen für innere Sicherheit hervorging. Jewgeni Primakow, Premierminister von September 1998 bis Mai 1999, hatte noch unter Breshnew lange vor der Perestroika eine Karriere als Elitediplomat gemacht. Sein Nachfolger Stepaschin, hatte eine lange Laufbahn im Innenministerium hinter sich und unter Jelzin ebenfalls für einige Zeit den FSB geleitet.

Der neue Premier ist ein ebenso farbloser und grauer Politiker wie sein Vorgänger. Keines der Probleme, mit denen das herrschende Regime konfrontiert ist, wird durch seine Ernennung gelöst. Es werden nur die Karten neu gemischt, während die Lösung der Probleme weiter hinausgeschoben wird, bis sie dann mit noch größerer Schärfe auf die Tagesordnung kommen.

Objektiv gesehen gab es keine Gründe für die Auswechslung des Premierministers. Die russische Wirtschaft befindet sich im Zustand einer vorübergehenden Stabilisierung von der letzten Finanzkrise und zeigt sogar Anzeichen einer bescheidenden Erholung. Die hohen Erdölpreise der vergangenen Monate auf dem Weltmarkt erbrachten dem Land verhältnismäßig hohe und stabile Einnahmen. Im Juli konnten die Beziehungen mit den internationalen Kreditinstitutionen geregelt werden, wonach russische Rückzahlungen gestundet wurden und der IWF-Kredit in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar bewilligt wurde. Der bisherige Rubelkurs konnte vor diesem Hintergrund entgegen aller Voraussagen weiter aufrecht erhalten werden. Insgesamt bescheinigte die internationale Presse der Stepaschin-Regierung "eine fehlerfreie Arbeit".

Die Ernennung Putins zum neuen Premierminister spiegelt die zunehmende Angst Jelzins um sein eigenes Schicksal und das seiner "Familie", d.h. seiner näheren Umgebung, wieder. Diese Entscheidung ist nicht das Ergebnis eines klar ausgearbeiteten Planes, sondern vielmehr eine passive und empirische Reaktion auf die erbitterten Machtkämpfe, die in den letzten Monaten zwischen den verschiedenen Machtgruppen wieder mit größerer Heftigkeit entbrannt sind.

Politisch unterscheidet sich Putin nicht von Stepaschin, d.h. eine Veränderung der Politik des Kremls wird nicht zu erwarten sein. So löste der Regierungswechsel im Westen kaum Besorgnis aus. Einhellig hieß es aus Washington, London und Berlin, daß es sich bei Jelzins Vorgehen nur um einen politischen Schritt handele und man nicht vergessen dürfe, daß die Vor-Wahl-Phase begonnen habe. Schließlich setze man auf langfristige Programme und nicht auf einzelne Personen, wie sich ein Regierungssprecher in Washington ausdrückte.

An den internationalen Börsen gab es im Gegensatz zu allen vorangegangenen russischen Regierungskrisen kaum nennenswerte Reaktionen. Lediglich in Moskau sackten Aktienindex und Rubelkurs zunächst ab, erreichten jedoch im Laufe des Tages wieder ihre Vortageswerte.

Warum mußte Stepaschin gehen?

Angesichts der im Dezember anstehenden Parlamentswahlen und der Präsidentschaftswahlen vom kommenden Jahr sucht die Umgebung Jelzins immer verzweifelter nach einer Möglichkeit, die Macht noch vor den Wahlen an eine andere Person zu übertragen, die Jelzin selbst genügend Einfluß lässt, um sein persönliches Schicksal und damit das seiner "Familie" zu sichern.

Dem Beispiel Milosevics folgend, der nach Ablauf seiner Zeit als Präsident Serbiens zum Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien gewählt wurde und damit seine Macht erhalten konnte, hatte Jelzin erst versucht, sein weiteres Schicksal mit Hilfe eines Bündnisses mit Weißrussland zu sichern. Dieser Weg wurde ihm allerdings durch den wachsenden Widerstand der herrschenden Kreise versperrt.

Nun verbleibt ihm für die Quadratur des Kreises immer weniger Zeit: die Gegner formieren sich und Jelzin verfügt über keinerlei Ausweg. Mechanisch versucht er die Situation zu vereinfachen, um Zeit zu gewinnen und eine zumindest vorübergehende Lösung zu erzielen.

Auf die Aufdeckung verschiedener Korruptionsskandale in seiner direkten Umgebung durch Generalstaatsanwalt Juri Skuratow hatte Jelzin im Frühjahr in gewohnter Manier reagiert: er entließ ihn prompt. Nach dessen Absetzung stieß Jelzin jedoch erstmals auch auf den Widerstand der Mehrheit des Föderationsrates, der gemäß Verfassung über das Amt des Generalstaatsanwaltes bestimmt. Im Kreml wurde daraufhin ernsthaft die Auflösung des Parlaments sowie die Ausrufung eines Ausnahmestandes erwogen. Als damaliger Innenminister hätte Stepaschin in einer solchen Situation eine wichtige Rolle gespielt.

Die kommunistische Opposition in der Duma entfesselte gegen Jelzin mit dem Amtsenthebungsverfahren eine großangelegte Kampagne, und der Beginn der Natobombardierungen auf Jugoslawien gab den nationalistischen Gegnern Jelzins einen zusätzlichen Impuls. Der damalige Premier Primakow verwandelte sich zu dieser Zeit in eine Kompromissfigur, der es bis zu einem bestimmten Grad gelang, die verschiedenen Oppositionsgruppen gegen Jelzin um sich zu scharen. Unter diesen Umständen wurde Primakow abgesetzt und Stepaschin zum Ministerpräsidenten ernannt.

Doch die Gefahr für Jelzin verringerte sich recht schnell. Während des Amtsenthebungsverfahrens gelang es den Kommunisten nicht, auch nur für einen der fünf Anklagepunkte die notwendige Mehrheit in der Duma zu erzielen. Die Massenopposition gegen den Natokrieg führte nicht zu einer Stärkung der russischen Nationalisten, die Russland in einen Krieg gegen den Westen treiben wollten. Das Ende der Natobombardierungen und die Dringlichkeit, die versprochenen IWF-Kredite zu bekommen, zwangen das Establishment, Zugeständnisse an den Westen zu machen.

Stepaschins Rolle als Schlichter der Dumafronden trat somit angesichts anderer, dringenderer Probleme in den Hintergrund. Das wichtigste davon war die Vorbereitung auf die kommenden Wahlen und der Kampf mit dem wichtigsten Anwärter auf die Präsidentschaft, dem Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow.

Das war das Ende Stepaschins: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen.

Stepaschin seinerseits nahm mit erstaunlicher Gelassenheit, wenn nicht sogar Unterwürfigkeit die Entscheidung des Präsidenten entgegen: "Das ist sein Recht: Er ist der Präsident, der oberste Kommandierende," sagte er und ergänzte: "Ich war, bin und werde bis zum Ende mit ihm sein. Ich bin diesem Mann aufrichtig dankbar, dass er mich als kleinen Jungen in die große Politik gebracht hat." Ebenso wohlwollend verhielt er sich gegenüber seinem Nachfolger: "Putin ist ein anständiger und ehrenhafter Mensch. Ich wünsche ihm viel Erfolg. Über alles andere verfügt er bereits."

Die Regierung Stepaschin war eine instabile Koalition zweier großer Gruppen, die vom Finanzmagnaten Boris Beresowski und dem Vorsitzenden des russischen Energieriesen JES-Rossija, Anatoli Tschubajs, angeführt werden. Der Instabilität der Regierung bewusst, begannen diese beiden Gruppen den Kampf um die finanziellen und Rohstoffressourcen des Landes. Trotz all seiner Loyalität konnte Stepaschin Jelzin nicht beweisen, dass er dieses Problem in den Griff bekommt.

Jelzin setzte Stepaschin ab, ohne dessen Amtstätigkeit zu kritisieren, weshalb dieser nach wie vor große Autorität genießt. Sofort wurden ihm Angebote von den verschiedensten Parteien unterbreitet, auf ihrer Liste für die Dumawahlen zu kandidieren. Darunter waren die Partei "Die rechte Sache" von Nemtzow, Tschernomyrdins "Unser Haus Russland" und nicht zuletzt Luschkows Bündnis "Vaterland - Das ganze Russland".

Der Krieg der Oligarchen

Ein wichtiger Grund für den jüngsten Regierungswechsel ist der verschärfte Kampf, der sich zwischen den beiden mächtigsten russischen Oligarchen, Boris Beresowski und Wladimir Gussinsky, und den hinter ihnen stehenden Gruppen entwickelt hat.

Beresowski war infolge der Finanzkrise vom vergangenen August in den Mittelpunkt eines Korruptionsskandals geraten. Im Laufe der Untersuchungen über die Ursachen der Krise stellte sich beispielsweise heraus, dass er die größte russische Fluggesellschaft Aeroflot vermittels seiner Schweizer Firmen um große Summen erleichtert hatte. Weiterhin wurde bekannt, daß Beresowskis Sicherheitsfirma Atoll mindestens seit letzten Sommer Telefongespräche des Kremls abgehört hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte daraufhin gegen Beresowski ein Untersuchungsverfahren eingeleitet. Aber weil Leute aus der unmittelbaren Umgebung Jelzins ebenso in die Mühlen der Untersuchung zu geraten drohten, überlebte Beresowski.

Es gelang ihm und dem mit ihm verbundenen Roman Abramowitsch, der auch als der "Schatzmeister" der Jelzinfamilie bekannt ist, die wichtigsten Posten der Regierung Stepaschin mit eigenen Leuten zu besetzen. Diese sind auch in der Regierung Putin wieder vertreten. Zeitungsberichten zufolge gehören zu ihnen: der erste Vizepremier Nikolai Aksjonenko, Energieminister Wiktor Kaljushny und Innenminister Wladimir Ryschailo.

Gestützt auf seinen Einfluß in der Regierung begann Beresowski einen aggressiven Kampf um die Neuaufteilung der Märkte und der Finanzströme. Insbesondere dreht sich dieser Kampf um die Massenmedien, deren Bedeutung für die nahenden Wahlkampagnen enorm wächst.

Schon länger kontrolliert er die großen Zeitungen Njesavisimaja Gaseta und Novyje Isvestja und behält seinen Einfluß über den Fernsehkanal ORT bei, an dem der russische Staat 51-prozentiger Anteilseigner ist. In den letzten Monaten gelang es ihm, einen weiteren Fernsehsender, den Moskauer Sender TV 6, unter seine Kontrolle zu bringen, als auch über eine ausländische Marionettenfirma das bedeutende Wirtschaftsblatt Kommersant.

Außerdem beteiligte er sich aktiv am Kampf gegen den größten Konkurrenten des Kremls, den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow. Hierbei ist Wladimir Gussinski, Anhänger Luschkows und Russlands einflussreichster Medienmagnat, sein wichtigster Gegenspieler.

Der Kreml entfesselte eine mächtige Attacke gegen das Medienimperium Gussinskis, Media-Most, zum dem der Fernsehsender NTW, die Tageszeitung Sevodnja, das Journal Itogi und der Radiosender Echo Moskvy gehören. Es wurde erklärt, dass Media-Most Schulden in Höhe von etwa einer Milliarde Dollar, größtenteils gegenüber dem Staat, habe. Eine Steuerfahndung in der Zentrale des Unternehmens trieb Media-Most beinahe in den Bankrott. Doch im letzten Moment schreckte Jelzin vor einem solchen Schritt zurück; und damit sank der Stern Stepaschins, aber auch des Chefs der Präsidentenadministration, Alexander Woloschin.

Die Allianz Luschkows mit dem Block der Gouverneure

Letzter Auslöser für die Entlassung Stepaschins war der erfolgreiche Zusammenschluß von Luschkows "Vaterland" und den Gouverneuren von "Ganz Russland" zu einem Wahlbündnis. Trotz ihrer ökonomischen Schwäche spielen die Regionen in den kommenden Wahlen eine große Rolle, weil dort die Mehrheit der russischen Bevölkerung lebt.

"Ganz Russland" ist die einflussreichste Vereinigung von Gouverneuren. Zu ihr gehören der Petersburger Gouverneur Wladimir Jakowlew, Mentimir Schaimijew aus dem ölreichen und zum Großteil von Moslimen bewohnten Tatarstan und Ruslan Auschew aus Inguschetien. Letztere Region spielt für Moskau bei der Aufrechterhaltung des status quo im Nordkaukasus eine Schlüsselrolle.

Während der vergangenen Monate hatte der Kreml versucht, ein solches Bündnis zu verhindern. Noch im April traf sich Jelzin mit Schaimijew im Kreml, um ihn auf seine Seite zu ziehen.

Es wurde auch der Versuch unternommen, "Vaterland" überhaupt nicht zu den Wahlen zuzulassen. Der Vorsitzende der Staatlichen Wahlkommission, Weschnjakow, wandte sich dazu mit der Bitte an den Justizminister, die Liste der zugelassenen Parteien erneut zu überprüfen. Russischem Recht entsprechend dürfen nur Organisationen an Wahlen teilzunehmen, die "sich nicht weniger als ein Jahr vor dem Wahltermin angemeldet haben". "Vaterland" wurde am 19. Dezember 1998 registriert. Die Parlamentswahlen finden am 19. Dezember 1999 statt. In einem Brief an das Justizministerium fragte Weschnjakow, ob die Anmeldefrist nicht schon am 18. Dezember 1998 abgelaufen sei.

Trotz allem entschied sich der Block der Gouverneure, Luschkow zu unterstützen. Kurz nachdem das Bündnis geschlossen worden war, kommentierte Beresowskis Kommersant: "Jetzt ist Stepaschins Absetzung fast unumgänglich geworden".

Die Perspektiven des neuen Premier

Jelzin erklärte während der Fernsehansprache zum Regierungswechsel, dass Putin "in der Lage ist, die Gesellschaft zu konsolidieren, weil er über große politische Kräfte verfügt, die ihm die Fortsetzung der Reformen in Russland ermöglichen. Er wird jene um sich sammeln können, die im 21. Jahrhundert das große Russland wieder errichten werden". Dies ist nichts weiter als eine elegante Übung in Demagogie. Putin ist wohl am wenigsten jemand, der verschiedene politische Kräfte konsolidieren kann, geschweige denn, Massenunterstützung anziehen könnte.

Erstens ist er nie öffentlich als Politiker in Erscheinung getreten und zweitens ist er viel zu sehr mit der Umgebung des Präsidenten und darüber hinaus mit dem Petersburger Clan um Tschubajs verbunden. Schließlich ist er ein Mensch, der den größten Teil seines Lebens als verdeckter KGB-Agent im Ausland tätig war und schon deshalb als Politiker leicht verwundbar ist.

Doch diese Schwächen stellen sich in den Augen Jelzins als großer Vorteil dar. Weil er keinen eigenen Einfluß ausübt, ist er auf direkte Art und Weise mit dem Schicksal Jelzins und seiner "Familie" verbunden.

Die Biographie des neuen Premierministers ist sehr charakteristisch für eine ganze Schicht der mittleren Generation sowjetischer Beamter und der Intelligenz, die noch in der Sowjetunion eine erfolgreiche Karriere starteten und die danach zur wichtigsten sozialen Grundlage des neuen kapitalistischen Russlands wurden.

Putin wurde 1952 in Leningrad geboren, schloß 1975 die juristische Fakultät der Leningrader Staatsuniversität ab und arbeite bis 1990 in der Ersten Hauptabteilung des KGB, zuständig für die Auslandsspionage, die ihn von 1984 bis 1990 in der DDR einsetzte. Nach seiner Rückkehr nach Leningrad unterstützte er aktiv Anatoli Sobtschak bei der Wahl zum Bürgermeister der Stadt. In den Folgejahren besetzte er einen Schlüsselposten in der Petersburger Stadtregierung. Nachdem Sobtschaks Wiederwahl im Herbst 1995 scheiterte, ging er nach Moskau, wo er einflussreiche Positionen in der Präsidentenadministration innehatte.

Der Grund, weshalb sich Jelzin ausgerechnet für ihn entschied, besteht darin, dass Putin über keinen eigenen politischen Einfluss verfügt, jedoch ein relativ großes Gewicht im Staatsapparat besitzt. Er konzentriert in sich die Erfahrungen eines ehemaligen KGB-Agenten mit wichtigen Verbindungen zum Geheimdienst und ist ebenfalls verbunden mit den radikalliberalen Reformern um Tschubajs, die Jelzin immer gegen die nationalistische Opposition unterstützt und bei seiner Wiederwahl 1996 eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Jelzin erklärte sofort, dass er Putin als neuen Präsidenten Russlands sehen wolle. Putin selbst bestätigte, daß er bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren werde. So wie die meisten Personen um Jelzin hatte auch er kaum eine andere Wahl. Eine Weigerung, die vorgesehene Rolle auszuführen, hätte zumindest seinen Abschied aus den oberen Etagen der russischen Politik bedeutet.

Darüber hinaus verfolgt Jelzin mit diesem Schritt noch ein anderes Ziel. Der Meinung vieler Beobachter zufolge ist jeder, der von Jelzin ernannt wird, zur Niederlage verurteilt. Indem Jelzin ihm noch weitere Vollmachten einräumt, nimmt er ihm alle Möglichkeiten, eine unabhängige politische Rolle zu spielen, um ihn gleichzeitig enger mit seinem eigenen Schicksal zu verbinden.

"Eine Bananenrepublik ohne Bananen"

Der neue Premier erklärte, dass es keine Veränderung in der personellen Zusammensetzung und der Politik der Regierung geben wird. Es ist aber anzunehmen, dass Jelzin Zugeständnisse an das Lager Luschkows machen und einige Leute Beresowskis opfern wird.

Zweifellos wird es zu einer weiteren Erhöhung der Bereitschaft im Kreml kommen, gewaltsame Unterdrückungsmethoden anzuwenden. Davon zeugt das russische Vorgehen in Dagestan. Bereits am 12. August kam es zur Stationierung von Militäreinheiten in Moskau "zur Vermeidung tschetschenischer Terrorakte".

An der Schwelle des 21. Jahrhunderts befindet sich Russland im Zustand eines vollständigen sozialen Verfalls und der Selbstzerstörung des gesamten politischen Systems, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden ist. Margaret Thatcher hatte Russland einmal als "Obervolta mit Atomraketen" bezeichnet. Sergej Stepaschin hat das Lexikon mit einer neuen Definition bereichert: "Russland ist die größte Bananenrepublik ohne Bananen".

Man kann keine bessere Beschreibung für ein Land finden, wo die politische Elite völlig korrupt und vollständig vom Volk entfremdet ist und sich in prinzipienlosen Bandenkämpfen selbst zerfleischt, weil es ihr nur darum geht, sich selbst und einige wenige Parvenüs zu bereichern.

Der neue Premierminister wird nicht die Probleme lösen können, die durch die heutige Krise aufgeworfen werden. Insbesondere ist er unfähig, Jelzin mit seinen politischen Gegnern auszusöhnen. So schrieb der Chefredakteur der Njesawisimy Gasety, W. Tretjakow, dass "Putin weder gegenüber der mächtigen rosaroten Troika [Primakow-Luschkow-Sjuganow] eine Konkurrenz bilden noch Alternativen zu den Reformern aufbauen kann". "Stepaschin ist nicht so hart wie Putin", fährt er fort. Das ist, wenn überhaupt, der einzige Unterschied zwischen dem neuen und dem vorhergehenden Premierminister. In jeder anderen Hinsicht gleichen sie sich politisch wie ein Ei dem anderen.

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