Die Kommunalwahlen in NRW - eine Nachlese

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen am vergangenen Wochenende waren eindeutig. Die SPD ist von den Wählern, genauer gesagt von den Nichtwählern, gewaltig abgestraft worden und zwar insbesondere in ihrer ehemaligen Hochburg, dem Ruhrgebiet.

Erstmals seit Gründung der Bundesrepublik erzielte die CDU im Landesdurchschnitt mit 50,3 Prozent der abgegebenen Stimmen die absolute Mehrheit, während die SPD landesweit 8,4 Prozent einbüßte und nur noch auf 33,9 Prozent kam. Insbesondere in einigen Ruhrgebietsstädten, in denen die Sozialdemokraten in den vergangenen Jahrzehnten mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit absolute Mehrheiten einfuhren, gab es aufsehenerregende Ergebnisse.

So gewann in Essen der Bürgermeister-Kandidat der CDU, Wolfgang Reiniger, gleich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit (51,7 Prozent) und verwies den SPD-Kandidaten Detlev Samland mit 36,4 Prozent auf den Verliererposten. Die amtierende Oberbürgermeisterin Annette Jäger erreichte nicht einmal ein Direktmandat in den Stadtrat. Sie erhielt nur 28 Prozent.

In Dortmund verlor die SPD ebenfalls ihre absolute Mehrheit und hat im neuen Stadtrat exakt so viele Mitglieder wie die CDU, nämlich 34. Zum ersten Mal sitzt im Dortmunder Stadtrat auch die DVU mit zwei Abgeordneten. Bei der Bürgermeisterwahl kommt es zu einer Stichwahl zwischen den Kandidaten von CDU und SPD am 26. September.

In Duisburg gewann die sozialdemokratische Bürgermeister-Kandidatin Bärbel Zieling zwar im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit (53,3 Prozent), nicht zuletzt, weil die CDU keinen eigenen Kandidaten aufstellte, sondern den parteilosen Professor und ehemaligen Rektor der örtlichen Universität, Gernot Born, unterstützte. Aber die SPD-Fraktion verlor ihre absolute Mehrheit. Heinz Pletziger von der CDU frohlockte: "Jetzt wird im Rat abgestimmt und nicht mehr ausgekegelt." Im Klartext: Die CDU filzt von nun an mit.

Bemerkenswert in Duisburg ist das Abschneiden der PDS. Landesweit erreichte die Ost-Partei 0,8 Prozent. In Duisburg errang sie ihr bestes Ergebnis mit 4,2 Prozent und hat mit ihren drei Abgeordneten Fraktionsstatus. Fraktionsvorsitzender wird aller Voraussicht nach der von der VSP (Vereinigung für sozialistische Politik) kommende Hermann Dierkes. Dierkes ist seit Jahren Mitglied des Betriebrates bei der Krupp-Tochter Eisenbahn und Häfen.

In Recklinghausen regiert zum ersten Mal nach 47 Jahren wieder eine CDU-Mehrheit. Auch in Bottrop, Castrop, Hattingen, Moers und Gelsenkirchen verloren die Sozialdemokraten ihre absoluten Mehrheiten und sogar die Position als stärkste Partei.

Die Erfolge der Christdemokraten gingen in der Regel nicht auf eigene Stimmengewinne, sondern auf die massive Stimmenthaltung zu Lasten der SPD zurück. Die Wahlbeteiligung lag bei 55 Prozent, das niedrigste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg. Die CDU verlor gegenüber der Wahl von 1994 fast 400.000 Stimmen, die SPD mehr als 1,8 Millionen.

Trotz der offensichtlichen Parallele zu den Landtagswahlergebnissen in Thüringen, Brandenburg und dem Saarland führten die meisten Wahlanalysen diese schallende Ohrfeige für die SPD auf lokale Faktoren zurück. So schrieb das Forsa-Institut: "Weitgehend unbrauchbar dürfte die These von der Alleinverantwortung der Bundespolitik zur Erklärung des Kommunalwahlverhaltens der Wahlbürger in Nordrhein-Westfalen sein: Hier haben die Menschen über die Mehrheitsverhältnisse in den einzelnen Rathäusern entschieden und die Wahl - anders als manche politischen Akteure - auch nicht in erster Linie als Test-Wahl für die neue Bundesregierung angesehen."

Diese merkwürdige Sichtweise dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Wahlforscher ihre Befragungen vorwiegend unter jenen durchführten, die zur Wahl gingen, während jene, die sich der Stimme enthielten, nicht befragt wurden. So gelangt Forsa zum Schluss, dass sich in Duisburg nur 19 Prozent der Wahlbürger von der Bundespolitik beeinflussen ließen, während 76 Prozent deren Einfluss als eher gering betrachteten. Oder dass in Münster der Ärger über die hohen Parkgebühren in der Innenstadt und in Bonn der Missmut über den flächendeckenden Bau von Fahrradwegen den Ausschlag gaben.

Diese Sicht deckt sich vordergründig mit den ersten Stellungnahmen des "Bürgers" auf der Straße am Wahlabend. Gut gekleidete, jung-dynamische Frauen und Männer in Düsseldorfer Straßencafés freuten sich vor der Fernsehkamera über den "positiven Wahlausgang" (die CDU hatte gewonnen) und hofften, dass der Fahrradweg auf der So-und-so-Allee bald verschwinde oder das Geld der Stadt zukünftig nicht mehr für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs benutzt werde. Diese sozialen Schichten, die vorwiegend zur Wahl gingen, haben kaum Probleme mit Arbeitslosigkeit und Armut.

Die Wahlwerbung aller Parteien war auf sie ausgerichtet und hatte ein entsprechendes Niveau. Die Oppositionsparteien plakatierten: "Runter mit den Parkgebühren", "Freies Parken in der City" nicht nur in Münster (CDU), sondern auch in Duisburg (FDP), in Mülheim (SPD) und sonst wo. Hinzu kamen die Sprüche der Werbeagenturen: "Die zarteste Versuchung seit es Politik gibt" (FDP Mülheim), "Baganz kann‘s" (CDU Mülheim). Der bereits im ersten Wahlgang gescheiterte Bürgermeister-Kandidat der Essener SPD Samland ließ Plakate kleben und Anzeigen in Szene-Magazinen schalten: "Eine Schnarch-Nase als Oberbürgermeister? Dann wählen sie am besten nicht mich."

Was hier mit unfreiwilliger Komik offen wurde, ist die tiefe Kluft zwischen den politischen Parteien einschließlich der SPD auf der einen Seite und der Mehrheit der Bevölkerung auf der anderen. Unter den Nichtwählern spielte die Bundespolitik sehr wohl eine Rolle. Eine Umfrage unter ihnen ergab, dass 40 Prozent mit der jetzigen Politik der Bundesregierung nicht zufrieden waren und deshalb nicht wählen gingen. Weitere 46 Prozent waren der Meinung, dass Wahlen sowieso nichts ändern. Die Reaktion von Schröder, Müntefering, Eichel, Clement und anderen Politikern bestätigt dies übrigens.

Eine detailiertere Sicht auf das Ruhrgebiet und ihre Wähler- und Nichtwählerschaft bestätigt: Gewählt haben vor allem die Reichen und Besserverdienenden, die Arbeiter, Arbeitslosen und Armen blieben der Wahl fern.

Das Ruhrgebiet als Ganzes ist von einem ausgeprägten Nord-Süd-Gefälle gekennzeichnet. Im Norden regiert die Armut, im Süden der Reichtum. In den ärmeren nördlichen Städten war die Wahlbeteiligung bedeutend niedriger als im Süden und dasselbe ist innerhalb einzelner Städten zu konstatieren. Im Duisburger Norden wählten in Marxloh und Bruckhausen-Beeckerwerth etwa 30 Prozent aller Wahlberechtigten, während der Süden Ergebnisse von 50 bis 60 Prozent erzielte. Die Wahlbeteiligung lag bei insgesamt 44,2 Prozent. Im Essener Norden ging teilweise nur jeder Vierte an die Wahlurne, im grünen Süden teilweise 60 bis 70 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigen alle Ruhrgebietsstädte.

Die geographische Aufteilung von Reich und Arm hat mit der Entstehungsgeschichte des Ruhrgebiets zu tun. Das Region war mit der Industrialisierung groß geworden. Kohle und Stahl galten jahrzehntelang als die Haupteinnahmequelle - sowohl der arbeitenden Bevölkerung als Beschäftigte als auch der Städte durch die Gewerbesteuereinnahmen. Mit diesen konnte die SPD ein umfangreiches und teilweise großzügiges soziales System aufbauen. Dies bescherte ihr absolute Mehrheiten im Abonnement. Doch die Zeiten sind vorbei. Stahl und Kohle gehören der Vergangenheit an.

Im Süden war die Kohle schon in den zwanziger Jahren erschöpft. Die Montanindustrie wanderte nach Norden, während sich im südlichen Grüngürtel die Bessergestellten ansiedelten. Die relative Millionärsdichte in Mülheim - der "Stadt im Grünen", so der Werbeslogan - ist mit der Frankfurts, Hamburgs und Münchens zu vergleichen. Einige Städte im Norden zehren dagegen bis heute noch von den Einnahmen der dahinsiechenden Stahl- und Kohleindustrie und verwahrlosen dementsprechend. Die taz vom 26. August diesen Jahres schilderte die Situation: "Konkret sieht das Dilemma in den benachteiligten Gebieten so aus: Müll auf den Straßen, abgeblätterter Fassadenputz, ungewöhnlich viele Biertrinker am helllichten Tag, ärmliche Kleidung, die Menschen geduckt, aggressiv. Richtige Armut."

Eine wissenschaftliche Studie von Professor Klaus Peter Strohmeier weist nach, dass "über ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger in NRW im Ruhrgebiet leben". Zwei von fünf Sozialhilfeempfängern sind unter 18 Jahre jung. In einigen Stadtteilen beträgt der Anteil der Kinder unter sechs Jahren, die Sozialhilfe erhalten, fast 30 Prozent.

Im August diesen Jahres sah die Arbeitslosigkeit folgendermaßen aus: Mülheim 10,7 Prozent, Moers 10,8, Hattingen 12, Essen - trotz einiger "Problemzonen" im Norden - 13 Prozent. Alle Städte befinden sich im Süden des Ruhrgebiets. Nördlich sind andere Zahlen zu melden: Oberhausen 13,6 Prozent, Bottrop 13,9, Gladbeck 15,6, Duisburg 15,3, Dortmund 16,0 und Gelsenkirchen 17,9 Prozent.

Diese Einteilung ist selbstverständlich nicht mit dem Lineal gezogen. Duisburg und Essen liegen zwar geographisch zu einem Großteil im Süden, aber sie sind wie viele Städte in sich sehr unterschiedlich. Im ländlichen Süden von Duisburg, der direkt an Düsseldorf, die Landeshauptstadt grenzt, halten sich Villen und bescheidene Eigenheime die Waage. Im Norden Duisburgs gibt es Stadtteile mit einem Arbeitslosenanteil von 30 bis 40 Prozent. Der Stadtteil Bruckhausen ist die größte türkische Gemeinde nach Berlin Kreuzberg, mit zu vergleichendem Armutsprofil. In diesen Stadtteilen sprechen Wissenschaftler von "Ghettos".

Noch extremer sieht es in Essen aus, nicht wegen der größeren Armut, sondern wegen des größeren Reichtums. In Essener Bezirken schwankt die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen Personen zwischen drei und zwölf Prozent. Essen hat trotz vergleichsweiser niedriger Arbeitslosenzahlen die höchsten Sozialhilfeempfängerzahlen im Ruhrgebiet. Gleichzeitig führen elf der hundert umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands in Essen ihre Zentralen. Es befindet sich viel Geld in der Stadt, doch sehr ungleich verteilt.

Hat die geographische Verteilung der Ungleichheit historische Gründe, so muss das Verdienst dafür, dass die krassen Gegensätze von Reich und Arm überhaupt bestehen, gerechterweise der Sozialdemokratie zuerkannt werden.

In den letzten Jahren versuchte ein jeder Stadtrat Unternehmen anzulocken, "der Arbeitsplätze wegen". Der Erfolg war teilweise beachtlich, verspiegelte Bürotürme und klotzige Prachtbauten in den Innenstädten legen davon beredt Zeugnis ab. Noble Einzelhandelsgeschäfte verdienen nicht schlecht an den Männern und Frauen, die dort in den Führungsetagen arbeiten. Der Essener Einzelhandel setzt jährlich 8,5 Milliarden DM um. Auch das riesige Einkaufszentrum "Centro" in Oberhausen ist für den Einzelhandel ein Gewinn. Die wenigen Arbeitsplätze, die durch die hinzuziehenden Konzerne neu geschaffen werden, sind entweder hochqualifizierte und -bezahlte Ingenieurs-, Informatiker- und Managerstellen oder Billiglohnjobs für Mülleinsammler in den Einkaufszentren, Popcorn-Verkäufer in den Multiplex-Kinos, Telefonisten in Call-Centern, usw. Die Folge ist, dass die soziale Polarisierung voranschreitet.

Zudem wurden Ansiedlungen von Unternehmen mit niedrigen Gewerbesteuern erkauft. Kaum irgendwo sind diese so niedrig wie im Ruhrgebiet. An der Finanzlage der Städte ändern die neuen Konzerne daher nichts. Dies bekommen die Ärmsten der Armen zu spüren.

In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Duisburg beispielsweise verdoppelt, auf heute 40.000, die - beiläufig erwähnt - den Privat-PKW als "vorhandenes Guthaben" von der Sozialhilfe abgezogen bekommen. In Duisburg sorgen die Sozialdemokraten offenbar dafür, dass derartige Regelungen nicht selten zum Zuge kommen. Sozialhilfeleistungen sind hier niedriger sind als anderswo. Der Leiter des Sozialamts Peter Giesen brüstet sich: "Wir teilen die Sozialhilfe nicht wie andere Städte mit dem Füllhorn aus."

Es ist diese rigorose Sparpolitik zu Lasten der Armen - in Bund, Land und den Ruhrgebietsstädten -, deren Quittung die SPD am vergangenen Sonntag entgegennehmen musste.

Siehe auch:
Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen - Die Schlammschlacht und ihre Hintergründe
(11. September 1999)
Die Stammwähler verweigern sich
( 14. September 1999)
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