Flüchtlinge im Kreuzfeuer von Europas Regierungen

In ganz Europa sind die Regierungen dabei, Asylsuchende zu Tausenden abzuschieben. In den letzten Monaten kam es zu absurden Irrfahrten, wobei Flüchtlinge von Land zu Land geschickt wurden, nur um überall erneut mit Abschiebeverfahren konfrontiert zu werden.

Die schreckliche Not Tausender entwurzelter Menschen zeigte sich letzten Monat im britischen Dover: Eine ausländerfeindliche Kampagne der konservativen Kommunalverwaltung und der Presse gegen "Scheinasylanten", die angeblich auf Kosten britischer Steuerzahler schmarotzten, löste eine Reihe von Übergriffen auf Flüchtlinge aus; es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Immigranten und einheimischen Jugendlichen. Darauf kündigte die Labour-Regierung an, sie würde umgehend einen Teil ihrer neuen Asyl- und Einwanderungsgesetze verabschieden und dadurch ermöglichen, dass Asylsuchende im ganzen Land verteilt würden. Auf die Vorwürfe der Konservativen, England fahre mit den Flüchtlingen eine "weiche Tour" - ja, es sei sogar das "El Dorado" von ganz Europa - antwortete Innenminister Jack Straw wahrheitsgemäß, das neue Gesetz sei das strengste, das England je gesehen habe.

Die Gemüter erhitzten sich, als bekannt wurde, in Großbritannien seien die Asylanträge von 6.230 im Juni auf 6.600 im Juli angestiegen. Im Vergleich mit den Massenvertreibungen im ehemaligen Jugoslawien im gleichen Zeitraum - dem Ergebnis der serbischen Militäraktionen im Kosovo und der NATO-Bombardierungen dieses Landes - ist dieser Anstieg äußerst gering. Diese politische "Sensation" lebt zum größten Teil davon, dass die Blair-Regierung und die konservative Opposition buchstäblich die gleichen reaktionären Felder beackern. Um Unterschiede zwischen den beiden Parteien nachzuweisen, versuchen sie sich gegenseitig rechts zu überholen. So beansprucht jede, sie gehe am härtesten gegen Immigranten vor und bemühe sich am stärksten um die Aufrechterhaltung eines sogenannten "Rassen-Gleichgewichts".

Aber die Asyl-Kontroverse beleuchtet noch einen weiteren, wichtigen Tatbestand: Sie zeigt die verheerenden Konsequenzen der aggressiven Wende der westlichen Mächte zum Militarismus und zum Neo-Kolonialismus in den letzten zehn Jahren, sowie den Zynismus und die Heuchelei, mit denen sie in der Öffentlichkeit rechtfertigt werden.

Die Asylanträge, die in den europäischen Ländern mit Abstand am meisten zugenommen haben, stammen von Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Laut den Zahlen der Vereinten Nationen belaufen sich diese für die letzten zehn Jahre auf 19 Prozent aller Anträge. 1998 stellten sie mit 27 Prozent in Europa die größte Gruppe dar. Auch die zweitgrößte Gruppe von Asylbewerbern in Europa weist auf die Konsequenzen imperialistischer Intervention hin - es sind nämlich Menschen aus dem Irak. Diese Flüchtlinge aus einem Land, das durch systematische Bombardierung und harte Wirtschaftssanktionen zerstört wurde, machen zehn Prozent aller Asylsuchenden aus. Anträge aus der Türkei - wo der Westen inoffiziell die Pogrome gegen die kurdische Bevölkerung toleriert - belaufen sich auf sechs Prozent.

Jack Straw gab zu, dass der Anstieg der Anträge ein "europaweites Problem" sei, aber er behauptete, die Faktoren, die dabei eine Rolle spielten - wie zum Beispiel der Kosovo-Krieg - seien "externer" Natur. Doch wie bereits im Irak und in der Türkei ist die Krise auf dem Balkan, die in den Kosovo-Krieg mündete, keineswegs "extern", sondern ein direktes Ergebnis der Handlungen der Westmächte. Die Vereinigten Staaten und westeuropäischen Großmächte versuchten zu Beginn der 90er Jahre aus der Auflösung der UdSSR Vorteile zu ziehen und besonders durch die Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft in alle Länder Osteuropas vorzudringen, die ihnen vorher verschlossen waren.

Im Falle Jugoslawiens bewirkte die Durchsetzung von Sparmaßnahmen des Internationalen Währungsfonds wirtschaftliche Instabilität und Zusammenbruch. Die früheren stalinistischen Bürokraten - wie Milosevic in Serbien und Tudjman in Kroatien - versuchten vorsätzlich, die daraus entstandene soziale Krise in ethnische Konflikte umzulenken. Darüber hinaus schürten die imperialistischen Mächte Spannungen zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken, indem sie der Lostrennung Kroatiens und Sloweniens grünes Licht gaben. Von da an war die schnelle Auflösung des jugoslawischen Bundesstaates unaufhaltsam und mündete in erbitterten Bürgerkrieg.

Was war das Ergebnis? Ungefähr 1,1 Millionen Menschen, die während des Bosnienkrieges von 1992-95 ihre Heimat verloren, sind immer noch auf der Flucht. Bosnien-Herzegowina wurde in ethnische Kantone aufgespalten, die von Tausenden Soldaten aus dem Westen kontrolliert werden. Arbeitslosigkeit, extreme Armut und ein hohes Maß an Korruption sind an der Tagesordnung.

Die Gesamtzahl der Flüchtlinge aus der Kosovokrise hat nun eine Million überschritten. Zusätzlich zu den gebürtigen Albanern, die sowohl durch serbische Militäraggression als auch durch NATO-Bomben aus der Provinz vertrieben wurden, sind über 200.000 Serben und Roma durch die UCK vertrieben worden, seitdem die NATO-Truppen im Juni Stellung bezogen haben.

Im Kosovo und in Serbien sind ganze Industriezweige stillgelegt und dem Verfall preisgegeben, wodurch Tausende ihres Arbeitsplatzes beraubt sind. Brücken und Straßen sind zerstört, Energie-, Wasserversorgung und Kommunikationssysteme beschädigt, Häuser, Krankenhäuser und Schulen dem Erdboden gleichgemacht. Zusätzlich stellt die Verseuchung durch Munition ein enormes Gesundheitsrisiko dar. Schwach angereicherte Urangranaten, die im Krieg von amerikanischen Hubschraubern über dem Kosovo abgeschossen wurden, können leicht 10.000 tödliche Krebserkrankungen hervorrufen, wie auch noch nicht zu beziffernde Fälle von Geburtsschäden.

Vor knapp sechs Monaten hat man den Flüchtlingen aus dem Kosovo den "Schutz der internationalen Gemeinschaft" versprochen. Tag und Nacht präsentierten die Medien einen nicht enden wollenden Strom albanischer Flüchtlingsfamilien aus dem Kosovo, die unter offenem Himmel schliefen und verzweifelt und hungrig waren. Ihre Not wurde instrumentalisiert, um nackte imperialistische Aggression gegen das serbische Volk zu rechtfertigen.

Die Mitte-Links-Regierungen Europas verschlossen die Augen davor, dass ihre Bombenkampagne diese Flüchtlingskarawane erst richtig in Gang setzte, und behaupteten, ihr Krieg wäre ein ganz neuer Krieg - nicht um Profite oder Eigeninteressen, sondern um "humanitäre" Ziele. Die Illusionen, die dadurch hervorgerufen wurden, finden sich in den zahllosen Interviews mit kosovarischen Flüchtlingen wieder, die versuchen, nach Großbritannien zu gelangen, indem sie alle auf tragische Weise wiederholen: "Tony Blair, unser Freund während des Krieges, wird uns sicherlich auch jetzt nicht im Stich lassen".

Die Behauptung der europäischen Regierungen, sie wären die Beschützer der Kosovaren, war von vornherein zweifelhaft. Als der Krieg in vollem Gange war, brach in Europa ein Streit aus, weil Deutschland darauf bestand, dass die anderen europäischen Länder einen größeren Teil der Flüchtlinge übernehmen müssten. Blair sah sich zur Zusage genötigt, Großbritannien würde "bis zu tausend Flüchtlinge" pro Woche aufnehmen, - allerdings erst, als eine Kapitulation Jugoslawiens nach fünf Wochen unausgesetzter Bombardierung absehbar war. Logischerweise wurde dann der Großteil dieser Plätze nie in Anspruch genommen. Amnestie International beschrieb Straws kürzliche Behauptung, Großbritannien habe ungefähr 10.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen, als "im besten Falle unaufrichtig". Zwischen 1996 und 1998 haben 11.270 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien in Großbritannien einen Asylantrag gestellt. Weitere 2.440 taten dies zwischen Januar und März 1999. 1998 erhielten gerade 1.120 von ihnen wenigstens einen Aufenthaltsstatus, und 1999 waren es genau 22.

Die meisten Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sind zur Zeit in Europas ärmsten Ländern zu finden, in Albanien (430.000) und in Mazedonien (200.000). Dies entspricht 13 Prozent von Albaniens Bevölkerung und 11 Prozent derjenigen Mazedoniens. Die drittgrößte Zahl findet man in Bosnien-Herzegowina.

Die Bedingungen in diesen Ländern sind nicht viel besser als diejenigen, vor denen die Flüchtlinge geflohen sind. Ein Bericht des Internationalen Währungsfonds vom 25. Mai 1999 - "Die Wirtschaftsfolgen der Kosovokrise: Eine aktuelle Einschätzung" - enthüllt die zerstörerischen Auswirkungen, die der Krieg auf diese Nachbarländer hatte. Darin wird vorausgesagt, dass "selbst mit ausreichender ausländischer Finanzierung die Kosovokrise größere negative Auswirkungen auf das Wachstum der meisten der sechs betroffenen Länder haben wird" (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien sowie Rumänien). Es wird erwartet, dass sich das Wachstum um drei bis vier Prozentpunkte vermindern wird, was "so starke Auswirkungen auf manche Länder haben wird, dass ihr Bruttosozialprodukt zurückgehen wird". Dabei würden jedoch noch nicht "die schlecht messbaren Auswirkungen potentieller Rückschläge bei den Strukturreformen und eines Abgleitens ins Chaos" berücksichtigt. "Solche Rückschläge können kurzfristig in einigen Ländern zu einer umfassenden Instabilität führen, und mittelfristig zu niedrigerem Wachstum". Die konkreten ausländischen Hilfszusagen "reichen bisher noch längst nicht aus, um die Lücken in der Zahlungsbilanz der sechs betroffenen Länder zu schließen".

Die offizielle Politik der Europäischen Kommission besteht darin, zu versuchen, die Flüchtlinge in diesen Ländern zurückzuhalten und ihre "schnelle Rückkehr in die Heimat" zu fördern. Selbstverständlich ist diese Lösung bei den Flüchtlingen nicht beliebt. Immer wieder hört man von Schlepperbanden, die im Kosovo, der ehemaligen Sowjetunion oder dem Irak einen lukrativen Handel betreiben, indem sie Flüchtlinge nach Europa schleusen. Der aktuelle Preis aus Irakisch-Kurdistan nach England beläuft sich zur Zeit auf 2.500 Pfund (ca. 7.500 DM), aus der Türkei auf knapp 2.000 Pfund (ca. 6.000 DM) und aus dem Kosovo auf tausend Pfund (3.000 DM). Oft werden die Flüchtlinge betrogen und ohne einen Pfennig in der Tasche irgendwo ausgesetzt. In den letzten Wochen sind mehrere hundert Flüchtlinge aus dem Kosovo - Männer, Frauen und Kinder - aufgegriffen worden, die in den frühen Morgenstunden durch die Grafschaft Kent wanderten, weil man sie einfach irgendwo an der Autobahn ausgesetzt hatte. Diejenigen, die kein Geld haben, um Schlepper zu bezahlen, greifen zu noch verzweifelteren Maßnahmen, klammern sich an den Achsen von Lastwagen fest oder klettern in Container von Transportfirmen.

Nun, da das offizielle Europa seine militärischen Ziele erreicht hat, hat sich seine Haltung seinen einstigen "Schützlingen" gegenüber ins Gegenteil verkehrt. In nur wenigen Monaten hat sich das leidgeprüfte Volk der Kosovo-Albaner, das dringend der Hilfe bedurfte, in eine Ansammlung von "Scheinasylanten" verwandelt, die den guten Willen der Menschen missbrauchen und ihr Geld stehlen.

Es ist jetzt offizielle Politik, Asylsuchende mit allen Mitteln aus Europa zu vertreiben.

Vor zwei Monaten kündigte die italienische Regierung an, sie würde alle, die ohne Visum aus Jugoslawien in ihr Land eindringen, als illegale Immigranten und nicht mehr als Flüchtlinge behandeln. Diese Entscheidung wurde getroffen, nachdem im vorausgegangenen Monat 2.000 Roma aus dem Kosovo in italienischen Häfen gelandet waren. Die Sprecherin des Innenministeriums, Daniela Pugliese, erklärte, die Regierung könne "nicht länger die Bedingungen des Dekrets über humanitäre Hilfe anwenden, das während des Krieges gültig war".

In Norwegen werden Flüchtlinge auf Campingplätzen und ehemaligen Militärbasen festgehalten, sie erhalten nur Nahrungs- und Kleidungsrationen, bis über ihren Fall entschieden ist. In Deutschland sind in der letzten Zeit so viele Hindernisse eingeführt worden, um Asylsuchende davon abzuhalten, das Land zu betreten, dass die Zahl der Flüchtlinge von 400.000 pro Jahr auf weniger als 100.000 gefallen ist. Letztes Jahr wurde damit begonnen, hunderttausende Flüchtlinge aus dem Bosnienkrieg abzuschieben.

Während die Blair-Regierung ihre nächsten Maßnahmen vorbereitete, führte auf der andern Seite des Kanals die SP-Regierung von Lionel Jospin in Calais ihre eigenen Razzien gegen Asylsuchende durch. Wochenlang wurden hunderte von Flüchtlingen vor allem aus dem Kosovo, Albanien und dem Irak behelfsmäßig in Plastikzelten im St.Pierre-Park untergebracht. Jede finanzielle Hilfe von seiten der französischen Behörden wurde ihnen verweigert, so dass sie gezwungenermaßen von Almosen leben mussten und ständigen Schikanen der Spezialpolizei CRS ausgesetzt waren. Laut einem Bericht der britischen Zeitung Observer befanden sie sich in einer so schlechten Lage, dass ein Baby letzten Monat starb, nachdem es sechs Monate lang mit seiner Mutter in diesem Park leben musste. Schließlich räumten die Behörden von Calais zusammen mit der CRS den Park und zerstörten die Unterkünfte. Die Flüchtlinge wurden gewaltsam in Busse verfrachtet und in eine verlassene Ziegelfabrik ohne Heizung oder fließendes Wasser gebracht, sieben Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, wo sie verbleiben müssen, bis eine Entscheidung über ihren Fall getroffen wird. Die meisten, wenn nicht alle von ihnen, werden in das Land zurückgeschickt werden, aus dem sie geflüchtet sind.

Es gibt sogar Stimmen, die noch weiter gehende Maßnahmen fordern, als sie die Blair-Regierung gerade durchsetzen will. Diese Forderungen wurden von Peter Tompkins, Leiter der Ausländerbehörde von 1981-91, in einem Leserbrief an die Sunday Times auf den Punkt gebracht. Das Problem, so beschwerte er sich, sei dadurch entstanden, dass die konservative Vorgängerregierung die Politik der Abschiebegefängnisse nach einem Zwischenfall habe schleifen lassen: 1987 hatten sich bei einer ausrangierten Fähre, die als Abschiebegefängnis benutzt wurde, die Ankertaue im Sturm losgerissen. Zynisch erklärte er, es hätten "für diejenigen an Bord keinerlei Risiken" bestanden, aber eine "schlechte Presse" habe dazu geführt, dass das "reformwütige Element" im Ausländeramt die Oberhand erhielt, so dass man die Menschen an Bord vorübergehend entlassen habe. Straw solle nun die frühere Politik wieder herstellen und "stillgelegte Militäranwesen als Abschiebegefängnisse einrichten, Nahrungsmittel, medizinische und rechtliche Hilfe anbieten, aber den Insassen keinerlei finanzielle Unterstützung versprechen und ihnen nicht erlauben, eine Arbeit aufzunehmen. Innerhalb von zwölf Monaten wird unser Image einer ‚weichen Tour‘ verschwinden."

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