In Karatschai-Tscherkessien drohen Doppelherrschaft und territoriale Spaltung

Aufgrund langandauernder Demonstrationen dringen Meldungen über die politischen Auseinandersetzungen um die kleine und bisher kaum wahrgenommene russische Teilrepublik Karatschai-Tscherkessien seit dem Frühjahr bis in die internationale Presse durch.

Karatschai-Tscherkessien ist die am weitesten westlich gelegene Teilrepublik im Nordkaukasus und grenzt im Westen an die russische Schwarzmeerregion, im Süden an die von Georgien abtrünnige Republik Abchasien und im Osten an Kabardino-Balkarien. Letzteres grenzt an Nordossetien, das wiederum neben Inguschetien, der Nachbarrepublik Tschetscheniens, liegt. (Karte siehe unter: http://www.lib.utexas.edu/Libs/PCL/
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)

Am 14. September wurde das neue Regierungsoberhaupt Karatschai-Tscherkessiens, General Wladimir Semjonow, vereidigt, womit ein Schlussstrich unter die jüngsten Unruhen in der Republik gezogen werden sollte. Doch statt dessen rückte nun die Abspaltung der Republik direkt auf die Tagesordnung.

Die Konflikte begannen nach der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen in der Republik am 16. Mai, als Semjonow über 75 Prozent der Stimmen erhielt und den Bürgermeister der Hauptstadt Tscherkessk, Stanislaw Derew, weit hinter sich ließ. Dieser hatte in der ersten Runde noch 39,2 Prozent auf sich vereinen können, während der nächstbeste Konkurrent weniger als die Hälfte dieses Ergebnisses erzielte. Nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der zweiten Runde sprach Derew von einem himmelschreienden Wahlbetrug und rief seine Anhänger auf die Straße, um das Wahlergebnis zu annullieren.

Während der gesamten Sommermonate kam es unter Begleitung ständiger Demonstrationen zu unzähligen Verhandlungen, zu denen beide Seiten auch mehrmals nach Moskau fuhren, um unter Vermittlung der föderalen Macht einen Kompromiss zu finden. So strengte Derew ein Verfahren beim Obersten Gerichtshof der Republik an, das das Wahlergebnis jedoch für gültig erklärte. Darauf wandte er sich weiter an das Oberste Gericht in Moskau, das das Wahlergebnis annullierte und den Fall nach Tscherkessk zurückverwies. Während der Inaugurationsfeierlichkeiten Semjonows wurde schließlich das endgültige Gerichtsurteil bekanntgegeben, womit seiner Ernennung nun auch die "legale" Berechtigung erteilt wurde.

Nach der Inauguration Semjonows gingen Derew und seine Anhänger ebenfalls in die Offensive und setzen nun auf die Spaltung der Republik. Eine Reihe Vertreter verschiedener Volksgruppen der Region, wie der Tscherkessen und der Abassiner, richteten ein Telegramm an Präsidenten und Premierminister Russlands, in dem sie die Errichtung einer Tscherkessischen Republik mit selbständigen Herrschaftsstrukturen ausriefen.

"Während der ersten Etappe", heißt es in dem Schreiben, "sind wir bereit, nur die Anordnungen und Befehle des vorübergehend ernannten Oberhauptes Karatschai-Tscherkessiens, Walentin Wlassow, anzuerkennen." Dieser war von Moskau bis zur Beilegung der Streitigkeiten als bevollmächtigter Präsident der Republik eingesetzt worden.

Semjonow, der früher Oberkommandierender der russischen Bodentruppen war, erklärte dagegen, dass "hinter solchen Telegrammen eine Reihe verrufener und rücksichtsloser Politiker steht. All diese Erklärungen sehe ich als Provokation im Zusammenhang mit verschiedenen Bombenanschlägen und anderen Aktionen an, die sich in der Republik nun schon seit vier Monaten hinziehen." Er hob hervor, dass sich die große Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung, die Kosaken der Republik, kategorisch gegen eine Teilung ausgesprochen hätten und den gewählten Präsidenten unterstützten.

In der gleichen Nacht wurden in Tscherkessk auf mehrere Cafés und Bars, die sich im Besitz moskaufreundlicher Karatschaier befinden, Bombenanschläge verübt. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Die Situation in der Hauptstadt bleibt angesichts der andauernden Massenproteste weiter äußerst gespannt.

Derew, der sich aus der auch für ihn immer brenzliger werdenden Situation zurückzuziehen scheint, machte B. Akbaschew Platz, der sich zum neuen Wortführer der Separatisten aufschwang. Er ist Vertreter der Internationalen Assoziation der Tscherkessen und verteidigt schon lange die Idee einer tscherkessischen Autonomie. Die Mehrheit der Tscherkessen lebt außerhalb Karatschai-Tscherkessiens in benachbarten Republiken, und sie sind auch sehr stark in der Türkei und Jordanien vertreten. Zu den jordanischen Tscherkessen wird übrigens auch der gegenwärtig in Tschetschenien und Dagestan kämpfende Separatistenführer Abu Chattab gezählt.

Der Hintergrund des Konfliktes

Der Grund des Konfliktes liegt darin, dass die neue herrschende Klasse der Republik gespalten ist: soll sich Karatschai-Tscherkessien weiterhin auf Moskau orientieren oder wäre es nicht vorteilhafter sich von Russland zu distanzieren, um schrittweise die politischen und Handelsbeziehungen zu den übrigen Staaten des Kaukasus oder Asiens zu vertiefen, d. h. vor allem auf eigene Rechnung zu wirtschaften?

Die neue Generation der Finanz- und Industrieelite, die bisher recht schwach und abhängig war, ist immer weniger zu Kompromissen mit der noch dominierenden alten Schicht der Nomenklaturbürokratie bereit. Diese hat sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Republik an der Macht gehalten und lebt von der traditionellen Zusammenarbeit mit Russland.

Die oppositionellen kapitalistischen Schichten Karatschai-Tscherkessiens mit Derew an der Spitze streben eine unabhängige Verbindung zum Weltmarkt und den Ländern des Kaukasus, wie zum Beispiel Georgien, an.

Ein wichtiger Trumpf in den Händen des Kreml ist die Tatsache, dass in Karatschai-Tscherkessien fast die Hälfte der Bevölkerung (43 Prozent) aus ethnischen Russen besteht. 31 Prozent sind Karatschaier, die mehrheitlich positiv zu Moskau stehen. Die Tscherkessen und die Abassiner, die die Basis für die Sezessionsforderungen bilden könnten, machen etwa nur 16 Prozent der Bevölkerung aus.

Semjonow, der väterlicherseits karatschaiischer Abstammung ist, erhielt zwischen der ersten und der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen massive organisatorische und finanzielle Unterstützung aus Moskau. Moskau unterstützt Semjonows Konzeption zur Lösung der Nordkaukasusfrage, die er am "Runden Tisch" der Konföderation der Völker des Kaukasus dargelegt hatte.

In seiner Analyse über den Zustand der Region geht Semjonow von der realen Gefahr einer Destabilisierung aus. In der Region kreuzen sich die Interessen einiger Kreise des Westens und des Nahen Ostens, die ihren Einfluss in der ölreichen Kaukasusregion ausbauen wollen. Er rief die anderen Vertreter der Republiken des Nordkaukasus auf, gemeinsam mit Russland eine strategische Linie auszuarbeiten, die auf eine Stabilisierung im Nordkaukasus und der kaspischen Region ausgerichtet ist. Mit diesen Vorstellungen sicherte er sich seinen "fatalen" Wahlsieg.

Aber erst die Erfolge der russischen Truppen gegen die islamistischen Separatisten in Dagestan haben zu einer Stärkung der auf Moskau orientierten Gruppen geführt. Vor allem aus diesem Grund hat das Oberste Gericht der Republik die lange aufgeschobene Entscheidung zur Bestätigung Semjonows getroffen.

Mit der Ausrufung eines unabhängigen Tscherkessiens versuchen Derew und seine Anhänger nun zumindest in einem Teil der Republik und gestützt auf die tscherkessische Bevölkerungsminderheit einen ungestörten Einflussbereich aufzubauen.

Die Besonderheiten Karatschai-Tscherkessiens

Im Unterschied zu vielen anderen Teilen Russlands erfolgte die Durchsetzung der kapitalistischen Reformen in Karatschai-Tscherkessien seit Beginn der 90er Jahre mit einer gewissen Verzögerung.

Karatschai-Tscherkessien ist eine der wenigen Regionen, in der die alte Republiknomenklatur nahezu unbeschränkt die Machthebel in ihren Händen behalten konnte. W. Chubijew, bis zum Frühjahr Präsident der Republik, führte sie fast 20 Jahre und saß seit der Breshnewära unangetastet in seinem Sessel. Jelzin beließ ihn auf seinem Posten wegen seiner Fähigkeiten, soziale Spannungen und nationale Konflikte zu entschärfen, aber auch wegen seiner Orientierung auf Moskau und seiner Bereitschaft zur Durchführung der kapitalistischen Reformen. Außer Chubijew und Semjonow stand als weiterer moskautreuer Präsidentschaftskandidat M. Jakuscha von Sjuganows KPRF zur Wahl.

Das autonome Gebiet Karatschai-Tscherkessien wurde in den 90er Jahren aus der Stavropoler Region ausgegliedert und zur eigenständigen Republik im Rahmen der Russischen Föderation erklärt. Das erlaubte es der alten Nomenklatur, sich nahezu ungehindert zu bereichern und die Ressourcen der Republik auszuplündern. Die Situation der Mehrheit der Bevölkerung in Karatschai-Tscherkessien hat sich in den letzten Jahren dagegen enorm verschlechtert. Innerhalb der 89 föderalen Einheiten Russlands belegt Karatschai-Tscherkessien nach ökonomischen und sozialen Maßstäben den 87. Platz.

Eine weitere Besonderheit Karatschai-Tscherkessiens besteht darin, dass es bis 1957 ein administrativ eigenständiges Tscherkessien gab, was den Gegnern Moskaus heute als Vorwand dient, die neuerliche Abtrennung Tscherkessiens zu fordern.

Wofür steht Derew?

Der Bürgermeister von Tscherkessk, S. Derew, gehört zu den hervorstechendsten Vertretern der kapitalistischen Eigentümer der Region, die sich durch die Ausplünderung der Ressourcen der ehemaligen Sowjetunion bereichert haben. In dichter Nähe zur Welt des Verbrechens brachte es Derew von einem halblegalen Kleinunternehmer [privates Unternehmertum war in der ehemaligen UdSSR verboten] über die Schaffung eigener Kooperativen [eine Art Genossenschaft] während der Perestroika bis zum "Wodkakönig" in der heutigen Zeit.

Unter starker Mitwirkung von Derew entwickelte sich in der Republik eine prosperierende Wodkaproduktion, die ihre Rohstoffe aus dem angrenzenden Abchasien bezieht. Er selbst besitzt mit seiner Firma "Merkuri", die Wodka und Mineralwasser herstellt, einen nicht unbeträchtlichen Marktanteil in Russland und brachte es damit zu einem ansehnlichen Vermögen. Verschiedenen Angaben zufolge herrsche in seinen Betrieben eine außergewöhnliche Ordnung, und seine Arbeiter erhielten die höchsten Löhne in der ganzen Republik. Die Unternehmen dieser Branche decken fast die Hälfte des Steueraufkommens der Hauptstadt Tscherkessk.

Mit der Verbreitung solcher Fakten versucht sich Derew als Vorbild hinzustellen, wie man Produktion und Verwaltung in der Republik organisieren könnte. Mit der Wahlkampfparole "Ordnung im Büro - Ordnung in der Stadt" wurde er mithilfe einer soliden finanziellen Basis im Herbst 1997 zum Bürgermeister von Tscherkessk gewählt.

Doch Derew begnügte sich nicht mit der Kontrolle über das Stadtbudget. Er suchte nach Möglichkeiten, Einfluss und Macht in der gesamten Republik auszuweiten. Die alte Parteinomenklatur hält er für das Haupthindernis für die Verwirklichung seiner Vorstellungen von Wirtschaft. Diese sei nur darum besorgt, größtmögliche Zuwendungen aus Moskau für das lokale Budget zu erhalten.

In seinem Wahlprogramm für den Präsidentschaftswahlen heißt es folgendermaßen: "Zunächst muss in den Herrschaftsstrukturen Ordnung geschaffen werden. Ich schlage daher für die Zeit nach den Wahlen vor, Präsidenten- und Regierungsapparat der Republik sofort zu reorganisieren und die Strukturen zu vereinfachen."

Diese Herangehensweise konnte nicht anders verstanden werden als ein Versuch, eine Art Staatsstreich und großangelegte Säuberungen durchzuführen. Es war offensichtlich, dass das für Moskau zu einem Verlust seiner Kontrolle über die Region führen und die Gefahr der Loslösung von Russland auf die Tagesordnung setzen würde.

Eine solche Wendung würde Moskaus Interessen allerdings völlig zuwiderlaufen. Zum Einen könnte in der Kaukasusregion unweit des kaspischen Öls ein weiterer Konfliktherd entflammen, und zweitens könnten auf eine mögliche bewaffnete Auseinandersetzung ein neuer Flüchtlingsstrom und eine Einmischung von außen nach jugoslawischem Muster erfolgen.

Siehe auch:
Terroranschläge in Moskau. Wer und was könnte dahinter stehen?
(17. September 1999)
Russland und der Konflikt um Dagestan
( 20. August 1999)
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