Lafontaine fordert Schröder-Blair heraus

Zum ersten Mal seit seinem Rücktritt von allen politischen Ämtern Anfang März hat der ehemalige Finanzminister und SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine am vergangenen Sonntag ein ausführliches Interview gegeben. Es war eine offene politische Kampfansage an seinen Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden, Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Lafontaine macht Schröders politischen Kurs ohne Umschweife für die verheerenden Wahlniederlagen verantwortlich, die die SPD in den vergangenen Wochen hinnehmen musste. "Aus meiner Sicht war diese Entwicklung zwangsläufig, wenn die politischen Entscheidungen so fallen, wie sie gefallen sind," antwortete er auf die Frage nach den Ursachen für den "Höllensturz" der SPD. "Selbstverständlich hätte man die Wahlniederlagen verhindern können... durch eine Fortsetzung des Politikansatzes, den wir in den ersten Monaten hatten." Die Wähler hätten "eindeutig und unmissverständlich" auf die Politik reagiert, "die von Teilen der Publizistik fälschlicher Weise als Modernisierung gepriesen wird" und die "jetzt sechs Monate lang gemacht worden" sei.

Lafontaine war im März ohne Begründung von seinen Ämtern zurückgetreten und hatte sich seither nicht dazu geäußert. Lediglich zweimal war er öffentlich in Erscheinung getreten: Drei Tage nach seinem überraschenden Rücktritt hatte er vor der Presse eine kurze Erklärung abgegeben, in der er allgemein von einem "schlechten Mannschaftsspiel" sprach, ohne Schröder direkt anzugreifen. Diese Erklärung endete mit den seither viel zitierten Worten, noch werde das Herz nicht an der Börse gehandelt, und der Feststellung: "Das Herz schlägt links!" Am 1. Mai hatte er als Hauptredner auf der Kundgebung der Gewerkschaften in Saarbrücken gesprochen. Dort hatte er scharfe Kritik am Krieg gegen Jugoslawien geübt und die sofortige Einstellung der Bombenangriffe gefordert, war aber nicht auf die Ursachen für seinen Rücktritt eingegangen.

Sein seit langem angekündigtes Interview mit der Zeitung Welt am Sonntag, die im konservativen Springer-Verlag erscheint, war daher mit Spannung erwartet worden. Es dient als Vorbereitung für Lafontaines neues Buch, "Das Herz schlägt links", mit dessen Vorabdruck die selbe Zeitung am kommenden Sonntag beginnt. Am 12. Oktober wird Lafontaine dann das gesamte Buch auf der Frankfurter Buchmesse der Öffentlichkeit vorstellen.

In dem Interview hat Lafontaine erstmals selbst offen ausgesprochen, was seit langem vermutet worden war: dass sein Rücktritt keine Affekthandlung oder Flucht in Resignation und Privatleben war, sondern die Antwort auf Differenzen mit Schröder. Es sei "eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffen worden, die ich für falsch gehalten habe und nicht mit tragen wollte," sagte er der Welt am Sonntag, und: "Ich habe meine Ämter niedergelegt, weil ich mit Gerhard Schröder in Politikstil und Politikinhalt grundsätzlich nicht übereinstimme."

Dass er sich nicht früher öffentlich geäußert habe, begründet er damit, dass er "Rücksicht auf die Partei und die bevorstehenden Europa-, Kommunal- und Landtagswahlen nehmen und die Partei nicht mit einem Streit belasten wollte". Seither habe es aber den Kosovo-Krieg, das Schröder-Blair-Papier und das "so genannte Zukunftsprogramm 2000" gegeben.

In seinem Buch verspricht er mehr darüber zu sagen. Es sei aber nicht so sehr eine Abrechnung, obwohl er sich "einiges von der Seele geschrieben" habe. Für ihn gehe es "vor allem anderen um die Richtung der Politik, um die sozialdemokratische Politik, die ich mit gestaltet habe". Das Buch sei "der Versuch, ein sozialdemokratisches Projekt für die Zukunft zu entwerfen".

Damit erhält die Auseinandersetzung auch eine internationale Dimension. Lafontaines "sozialdemokratisches Projekt" richtet sich eindeutig gegen jene Richtung, die in dem gemeinsamen Papier von Schröder und dem britischen Labour-Führer Tony Blair ihre deutlichste Ausprägung erfahren hat.

Lafontaine wählt im Interview streckenweise eine indirekte Sprache, trotzdem ist die von Schröder teilweise kopierte Politik Blairs als Zielscheibe deutlich zu erkennen. So erklärt er, wenn Politik auf die Schlagzeile des nächsten Tages ausgerichtet sei, verliere sie automatisch jede langfristige Konzeption. Während einige heutzutage die Beliebigkeit als Kennzeichen moderner Politik betrachteten, könne er dem nicht das Geringste abgewinnen. Ohne einen Gesellschaftsentwurf könne er sich Politik nicht vorstellen. Und natürlich müsse "man an die Überlegungen, die man hat, glauben. Sonst wird ja alles beliebig oder platter Karrierismus..."

Während Lafontaine führende SPD-Politiker meidet und von ihnen gemieden wird, unterhält er ein enges Freundschaftsverhältnis zum französischen Finanzminister Dominique Strauss-Kahn. Erst vor wenigen Tagen trafen sich die beiden samt Gemahlinnen zum Mittagessen in Paris und ließen sich dabei von der Zeitschrift Paris-Match ablichten. Das Gesprächsthema solcher Begegnungen, kommentierte Der Spiegel, sei "ein Diskurs, der gegen die ‘andere' europäische Linke gerichtet ist, verkörpert von den Strauss-Kahn feindlich gesinnten Brüdern: Blair und Schröder".

Lafontaines eigene politische Vorstellungen bewegen sich im Rahmen traditioneller sozialdemokratischer Politik. Er ist kein Sozialist und schon gar kein Gegner des Kapitalismus. Auch er anerkenne wirtschaftliche Notwendigkeiten und trete für Wirtschaftswachstum ein, die Wertschöpfung müsse optimiert werden, diktierte er seinen Gesprächspartnern - dem erzkonservativen CSU-Politiker Peter Gauweiler und dem ehemaligen Regierungssprecher von Helmut Schmidt (SPD) und Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Klaus Bölling (SPD). Aber die entscheidende Frage sei eine gerechte Verteilung.

"Viele Konservative sagen: Wertschöpfung ist nur dann zu optimierten, wenn die Verteilung ungerecht ist; eine hohe Gehalts- und Lohnspreizung sei Voraussetzung für ökonomisches Wachstum. Ich dagegen halte es für unvertretbar, wenn ein Manager zig Millionen im Jahr bekommt, während die Arbeitnehmer mit Reallohnverlusten auskommen müssen. Das ist eine Gesellschaft, die ich nicht will," betont er. Eine gleichzeitige Kombination von Lohnzurückhaltung, staatlichem Sparen und hohen Realzinsen sei grundsätzlich falsch, weil sie zu höherer Arbeitslosigkeit führe.

Lafontaine bezieht sich ausdrücklich auf den Wirtschaftswissenschaftler Keynes und lobt den früheren SPD-Kanzler Helmut Schmidt. "Ein unausrottbares Missverständnis" sei es, "Keynes auf staatliches Geldausgeben zu reduzieren." In Wirklichkeit bestehe das Wesen Keynesianischer Politik in der "richtigen Kombination aus Lohn-, Geld- und Fiskalpolitik."

Wie schon im SPD-Wirtschaftsprogramm vor einem Jahr, spricht sich Lafontaine ausdrücklich für die Schaffung eines Niedriglohnsektors aus. Auf die Bemerkung, dass "Gleichheit und Gerechtigkeit zwei paar Stiefel" seien, antwortet er: "Selbstverständlich. Wir haben ja auch Gleichheit nie als Gleichheit im Ergebnis angesehen, sondern wir haben immer auf Chancengleichheit gesetzt... Die gleiche Chance, sein Leben in Freiheit und Würde zu gestalten und selbst seinen Weg zu bestimmen - das ist es, was wir wollen."

Vorbild und Beweis dafür, dass seine Politik funktioniere, sei Frankreich. "Denn dort wird die notwendige Bereitschaft zur Reform mit behutsamem, ökonomisch durchdachtem Vorgehen, auch bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen, verbunden."

In der SPD-Führung haben Lafontaines Äußerungen und das angekündigte Buch wütende Reaktionen ausgelöst. Führende Partei- und Regierungsmitglieder warfen ihm "Fahnenflucht" und eine "verächtliche Haltung" gegenüber der Partei vor. Nachdem der designierte Generalsekretär Müntefering indirekt von parteischädigendem Verhalten gesprochen hatte, forderte der Sprecher des SPD-Wirtschaftsausschusses, Helmut Wieczorek, Lafontaine sogar auf, sein Parteibuch zurückzugeben.

Siehe auch:
Lafontaines Mai-Rede bringt Regierung in Bedrängnis
(5. Mai 1999)
Der Rücktritt von Oskar Lafontaine
( 16. März 1999)
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