Lehrstellenmisere ist unverändert schlimm

"Ausbildung light" und andere Pläne

Ein Jahr nach dem Regierungswechsel in Bonn ist die Lehrstellenmisere in Deutschland unverändert schlimm. Viele junge Frauen und Männer sind bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz auch in diesem Jahr wieder leer ausgegangen. Am 1. September begann das neue Ausbildungsjahr. 782.000 Jugendliche hatten bis Ende August eine Lehrstelle gesucht, die Arbeitsämter jedoch nur 592.000 Lehrstellen gemeldet.

Schon jetzt hat fast jeder achte Jugendliche keinen Berufsabschluss. Bei jungen Ausländern ist es sogar jeder Dritte. Nach den neuesten Zahlen einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) verfügen mehr als 1,3 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren über keine abgeschlossene Berufsausbildung, mehr als 130.000 pro Altersjahrgang.

Dabei handelt es sich nicht um einen konjunkturellen Engpass, sondern um die Folgen eines Strukturwandels, der sich auch in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Seit Jahren werden in allen Branchen Arbeitsplätze abgebaut. Die Zahl der Ausbildungsplätze ist zwar gering gestiegen, aber nur 20 Prozent aller Betriebe bilden aus und viele übernehmen die Auszubildenden nach der Lehre nicht. Das hat zur Folge, dass immer weniger junge Leute im erlernten Beruf tätig sind. Von den Ausbildungsabsolventen der Jahre 1992 bis 1996 waren es 1996/97 weniger als die Hälfte. Das trifft auch auf Bereiche zu, die von dieser allgemeinen Entwicklung bislang ausgenommen schienen, wie beispielsweise die Banken.

Gleichzeitig steigen die Anforderungen in handwerklichen oder industriellen Ausbildungsgängen durch den Einsatz von computergesteuerten Maschinen. Als Folge werden Hauptschulabgänger durch Abiturienten und Realschüler verdrängt. Viele - demnächst werden es 40 Prozent eines Altersjahrgangs sein - besuchen eine Hochschule, um in diesem Verdrängungswettbewerb bestehen zu können. Mit dem Ergebnis, dass inzwischen auch Abitur und sogar ein abgeschlossenes Studium keine Garantie gegen spätere Arbeitslosigkeit sind.

Das Sofortprogramm der Bundesregierung

Im letzten November hat die Bundesregierung ein Sofortprogramm über 100.000 Arbeitsplätze für Jugendliche beschlossen und Anfang April haben sich Bund und Länder auf ein Sonderprogramm zur Schaffung von weiteren 17.500 Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland verständigt. Diese Programme lösen das Problem nicht, sie verschieben es nur.

Am Sofortprogramm haben sich weit mehr Jugendliche, als ursprünglich geplant, beteiligt. Nur eine Minderheit stammt aus der ursprünglichen Zielgruppe, ausländischen und sogenannten benachteiligten Jugendlichen. Es zeigte sich, dass fast alle Jugendlichen Probleme haben, eine gute Ausbildung zu ergattern. Laut Arbeitsminister Walter Riester hat das Programm bislang beinahe 178.000 Jugendliche erreicht. Davon befinden sich 108.000 derzeit noch in der Förderung. 70.000 sind nach einer kurzen "Qualifizierung" schon wieder arbeitslos.

Der Großteil der geförderten jungen Leute erhält lediglich im Rahmen eines Hilfsarbeiterjobs zusätzliche Qualifikationen, anderen wird durch Lohnkostenzuschüsse an die Unternehmen ein Arbeitsplatz vermittelt, einige befinden sich in Trainingsprogrammen, die sie für die Suche nach einer Lehrstelle "fit" machen sollen, oder werden mit ABM "qualifiziert". 28.000 haben eine überbetriebliche Ausbildung in Lehrwerkstätten und Qualifizierungszentren begonnen.

Auch die Bundeswehr hat 5.000 arbeitslosen Wehrpflichtigen eine Qualifizierung bei der Truppe angeboten, bislang allerdings mit mäßigem Erfolg. Sie können Computerlehrgänge absolvieren oder sich für Gefahrgütertransporte ausbilden, wenn sie freiwillig den Grundwehrdienst verlängern. Nur 3.100 Jugendliche haben über das Sonderprogramm einen Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft und 935 einen Lehrplatz bekommen. Sie verdienen etwa zweimal soviel wie ihre Altersgenossen in den staatlichen Fördermaßnahmen und haben, wenn auch nicht eine hohe, so doch eine höhere Chance auf einen späteren Arbeitsplatz.

Die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer des Sonderprogramms ist also in irgend einer Maßnahme "geparkt" und wartet auf "bessere Zeiten". Insgesamt verbringen zur Zeit mehr als 380.000 Jungen und Mädchen ihren Alltag in schulischen Warteschleifen und Sonderprogrammen.

Der ehemalige Staatssekretär im Kultusministerium von Mecklenburg-Vorpommern, Christoph Ehmann, geht davon aus, "dass für die im ,Zweiten Ausbildungsmarkt‘ ausgebildeten Jugendlichen nur der ,Zweite Arbeitsmarkt‘ offen steht", dass sie "aus der staatlich finanzierten Ausbildungsmaßnahme in die staatlich finanzierte Beschäftigungsmaßnahme" wechseln. Und wie die Erfahrung insbesondere in Ostdeutschland zeigt, sind diese Maßnahmen weitere Verschiebebahnhöfe in die Arbeitslosigkeit. So wird für Hunderttausende von Jugendlichen nach jahrelangen frustrierenden Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen doch wieder die Arbeitslosigkeit stehen.

In diesem Jahr gibt die Bundesregierung 2,25 Milliarden DM für Sofort- und Sonderprogramme aus. So wird das Problem Jugendarbeitslosigkeit kaschiert und verschoben, nicht aber gelöst. Da die Länderregierungen gleichzeitig die Sonderprogramme des Bundes nutzen, um ihre eigenen Programme einzusparen, und der Bund seine Ausgaben im nächsten Jahr auf 900 Millionen senken will, wird es sich unweigerlich wieder Bahn brechen.

"Ausbildung light"

Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber versuchen aus diesem Grund das Problem im "Bündnis für Arbeit" im Sinne der Wirtschaft zu lösen: durch eine "Ausbildung light". Arbeitgeber, Sozialwissenschaftler, Sozialdemokraten und Gewerkschaften haben verschiedene Vorschläge zur Umsetzung einer zeitlich und theoretisch abgespeckten Berufsausbildung vorgelegt, die alle auf eins hinauslaufen: Eine große Anzahl gering Qualifizierter hervorzubringen.

Da die Zahl der Einfacharbeitsplätze in den nächsten 10 Jahren um 40 Prozent sinken wird, ist es offensichtlich, dass das Problem der Jugendarbeitslosigkeit auf diese Weise nicht gelöst werden kann. Das eigentliche Ziel der "Ausbildung light" wie auch des gegenwärtigen Sofortprogramms ist ein anderes: sie sollen die Weichen für einen Niedriglohnsektor stellen. Die in Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, einjährigen Berufsvorbereitungs-, Berufsgrundschuljahren usw. "qualifizierten" Jugendlichen werden dann als Handlanger vor allem im Handwerk arbeiten oder - wie in den USA bereits seit langem üblich - Autos waschen, in Supermärkten den Kunden die Einkaufstüten packen, in Fußgängerzonen, Flughäfen und Bahnhöfen Schuhe putzen, in Kinos Popcorn auffegen usw.

Konkret fordern die Arbeitgeber, allen voran der Deutsche Industrie und Handelstag (DIHT), dass die einzelnen Betriebe und Konzerne mit dem Auszubildenden einen individuellen Vertrag über den Inhalt einer nur noch zweijährigen Ausbildung abschließen können. Dies würde den spezifischen Bedürfnissen der einzelnen Betriebe gerecht werden. Wieso sollte z. B. ein Kfz-Betrieb, so argumentieren die Arbeitgeber, einem Auszubildenden den teuren Schweißlehrgang bezahlen, nur weil es im Ausbildungsrahmenlehrplan steht, wenn er diesen nicht als Schweißer, sondern als "Wagenpfleger" einsetzen will.

Dieter Philipp, Präsident des Zentralverbands des deutschen Handwerks, hatte bereits im September 1996 in seinen "Denkanstößen zur Flexibilisierung des dualen Systems der Berufsausbildung" für eine solche "Ausbildung nach Maß" plädiert. Er schlägt einen "Kleinen Gesellenbrief" vor, der nach zweijähriger Ausbildung vergeben wird.

Philipp argumentiert, dass die Kosten für eine breite Berufsausbildung, die der Facharbeiter erst im Laufe seines Lebens brauchen kann, nicht dem einzelnen Betrieb angelastet werden dürfen. In einer Sprache, die die menschliche Arbeitskraft fast wie bei Marx als reine Ware behandelt, schreibt er: "Hier wird mit privaten Investitionen nicht etwa privater, sondern öffentlicher Nutzen erzeugt, was betriebswirtschaftlich widersinnig ist, denn der Nutzen kommt nicht dem Investor zugute. [...] Handwerksbetriebe (ebenso wie andere Betriebe) werden es sich in der Zukunft nicht leisten können, allgemeinen Nutzen mit privaten Investitionen zu erzeugen. Sie werden es sich auch nicht leisten können, quasi auf Vorrat Qualifikationen zu erzeugen, die nicht abgerufen werden."

So entstehen solche Vorschläge wie der Beruf des Fahrradhandelmechanikers (der "kleine" Zweiradmechaniker), der Fachkraft für Fahrzeugverwertung (Karosseriebau), für Rohrverbindungen/Rohrverlegungen (Heizung- und Sanitärhandwerk), für Küchen- und Möbelmontage (Schreinerhandwerk) usw.

In den Gewerkschaften und der SPD favorisieren viele Funktionäre allerdings eine "Ausbildung light" nach dänischem oder britischem Vorbild. Dort werden in einer Art Modulausbildung den Jugendlichen in kurzen Lehrgängen auf sehr niedriger Ebene Grundqualifikationen beigebracht, die sie für mehrere Berufsfelder verfügbar machen. Dies soll den Wechsel von einem Arbeitsplatz zum anderen erleichtern. Der "Erfolg" des dänischen Modells oder des sog. britischen "New Deals" liegt jedoch weniger in der anspruchslosen Ausbildung, sondern vor allem im Prinzip "Fördern und Fordern". Jugendlichen, die einen dieser Qualifikationslehrgänge ablehnen, wird ihre bisherige Unterstützung gestrichen oder gekürzt.

Zahlreiche Sozialdemokraten und Gewerkschafter - in vorderster Front der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel - haben diese Vorgehensweise angemahnt. Zwickel hat verlangt, dass jugendlichen Sozialhilfeempfängern, die eine angebotene Stelle des Sofortprogramms ablehnen, die Sozialhilfe gekürzt wird.

In Nordrhein-Westfalen arbeiten bereits einige sozialdemokratisch geführte Städte und Gemeinden sowie die Landesregierung unter Wolfgang Clement (SPD) mit dieser Methode, letztere beispielsweise bei der Job-Aktion "Jugend in Arbeit". Dabei sollen die 10.000 langzeitarbeitslosen Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen zu einer Arbeitsaufnahme gezwungen werden. Dies geschieht allerdings mit mäßigem Erfolg. Nach elf Monaten befinden sich nur 400 in Arbeit. Dieser Fehlschlag resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass diese Jugendlichen anders als in Dänemark und Großbritannien zumeist keinen eigenständigen Anspruch auf finanzielle staatliche Unterstützung haben, die ihnen bei einer abgelehnten Arbeitsaufnahme gekürzt werden kann.

Die Differenzen in der Diskussion um die verschiedenen Formen der "Ausbildung light" gehen quer durch alle beteiligten Parteien und Gewerkschaften. Allen ist vorrangig daran gelegen, die soziale Sprengkraft der Lehrstellenmisere zu entschärfen. Nach einer Perspektive, die den Jugendlichen eine wirkliche Chance gibt, durch eine qualifizierte Ausbildung und anschließende Arbeit ihr Leben selbstbestimmt und frei zu gestalten, sucht man dagegen vergeblich.