Belgischer Außenminister kritisiert die Rolle der USA in Afrika

Unter bürgerlicher Diplomatie versteht man normalerweise die Kunst, durch die Blume zu sprechen. Wenn es darum geht, zentrale wirtschaftliche und geopolitische Interessen zu formulieren, pflegen die Diplomaten und außenpolitischen Sprecher ihre Worte mit äußerster Sorgfalt zu wählen.

Vor kurzem jedoch ging der stellvertretende belgische Premier und Außenminister Louis Michel in einem Interview weit über den auf internationalem Parkett üblichen gemäßigten Ton hinaus. In einem Artikel mit der Überschrift "Louis Michel möchte das Schicksal Afrikas mit Europa verknüpfen" äußerte er offene Kritik an der Rolle der Vereinigten Staaten in Afrika und auf dem Balkan.

"Ich möchte wissen, was genau eigentlich die Ziele der USA in Bezug auf Afrika sind... Ich möchte wissen, was sie wirklich wollen", erklärte er der Zeitung Le Soir.

"Sie haben Kabila unterstützt, jetzt spielen sie den Ruander Kagame gegen Kabila aus. Das sind offensichtlich nur Schachfiguren. Ich kann nicht verstehen, welche Perspektive die Vereinigten Staaten mit Kagame verbinden. Ich frage mich, inwieweit es den USA zu verdanken ist, dass die wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Kongo gestoppt wurde. Und ob sie nicht zu gegebener Zeit mit ihrem eigenen Finanzplan zur Stärkung der Wirtschaft auftreten werden, von dem sie selbst natürlich am meisten profitieren."

Nach dem Balkankrieg der NATO mehren sich die Stimmen in Europas herrschenden Kreisen, die für eine von den USA unabhängigere Haltung des Kontinents eintreten. Gleichzeitig wachsen die Antagonismen zwischen Amerika und Europa in einer ganzen Reihe von Fragen - Handel, Verteidigung, neue geopolitische und geostrategische Themen, etc. Unter diesen Umständen müssen sich die Forderungen nach einer größeren europäischen Unabhängigkeit auch in außenpolitischen Fragen niederschlagen. Michels Äußerungen müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Ernsthafte europäische Kritik an den USA kam erstmals nach dem Golfkrieg auf, der die lebenswichtigen Ölquellen der Region unter die Kontrolle der USA brachte. Besonders Deutschland, einer der größten westlichen Handelspartner des Irak, war aufgebracht, aus diesem lukrativen Markt buchstäblich ausgeschlossen zu werden. Obwohl deutsche Soldaten an diesem ersten großen imperialistischen Angriff nach Ende des kalten Krieges nicht beteiligt waren, wurde von Deutschland verlangt, den Krieg mit 6,6 Mrd. Dollar (ca. 11,8 Mrd. DM) mit zu finanzieren. Nach dem Krieg ging der Großteil der Aufträge für den Wiederaufbau in Kuwait an amerikanische Firmen.

Solange die Sowjetunion existierte, stellten die Westmächte Meinungsverschiedenheiten normalerweise zurück und richteten sich nach den Vereinigten Staaten, um angesichts des gemeinsamen Feinds eine einige Front zu bilden. Der Zusammenbruch der UdSSR hat das Gleichgewicht der Kräfte international grundlegend verändert. Die Pose der einzig übriggebliebenen Supermacht, die sich auf ihre unstrittige militärische Übermacht stützt, bringt die USA zunehmend in Konflikt mit ihren bisherigen Verbündeten. Wer die Rolle des "Weltpolizisten" spielt, der bestimmt auch die Regeln. Und nicht nur die sogenannten Kriminellen laufen Gefahr, den amerikanischen Knüppel auf den Kopf zu bekommen.

Le Soir schreibt weiter: "Er [Michel] stellt sich außerdem die Frage, ob die USA nicht auch auf dem Balkan strategische Interessen verfolgt hätten, um ein erweitertes Europa hinauszuzögern."

Der belgische Außenminister kann relativ unghemmt äußern, was die europäischen Mächte umtreibt. Aber die Befürchtungen, die Michel in Brüssel offen ausspricht, werden hinter verschlossenen Türen auch in London, Paris und Berlin erörtert. Mark Eyskens, ein früherer belgischer Premierminister, faßte das zentrale Problem zusammen, mit dem die Europäische Union vor einigen Jahren konfrontiert war, als er sagte: "Europa ist ein ökonomischer Riese, ein politischer Zwerg und, was noch schlimmer ist, ein Wurm, wenn es darum geht, eine Verteidigungskapazität entwickeln."

Europäische Versuche, dieses militärische Ungleichgewicht zu überwinden, sind nicht ungefährlich. Erhöhungen der Rüstungsausgaben, wie sie für eine Armee erforderlich sind, die es mit "Onkel Sam" aufnehmen möchte, bedeuten im Inland die Zerschlagung der immer noch beträchtlichen Sozialausgaben. Nach außen kann eine solche militaristische Politik ihre eigene Dynamik entwickeln. Die Entwicklung einer unabhängigen militärischen Fähigkeit Europas bedeutet die Wahrnehmung besonderer europäischer Interessen.

Diese Gedanken hat Michel im Hinterkopf, wenn er fordert, Europa müsse eine aktivere Rolle in Afrika spielen. Er sagte gegenüber Le Soir: "Ich befinde mich noch im Stadium der Untersuchung, aber meine Analyse, was in Afrika auf dem Spiel steht, lautet... Ich glaube, und das ohne irgendwelche neo-kolonialen oder kommerziellen Hintergedanken, dass nicht nur Zentralafrika, sondern ganz Afrika früher oder später auf der geopolitischen und Weltebene bevorzugter Partner Europas werden muss. Es könnte sich für Europa sehr wohl als nützlich erweisen, sich im Rahmen einer Vision von Partnerschaft für Menschenrechte, Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung mehr in Afrika zu engagieren.

Schließlich ist eine bevorzugte Partnerschaft mit Afrika ein Weg, den man gehen muss, wenn man die geopolitischen und geostrategischen Interessen Europas verfolgt." Als Vorbild für eine engere europäische Beteiligung in Afrika nennt Michel die Bedingungen, die die Westmächte nach dem NATO-Krieg auf dem Balkan Jugoslawien aufgezwungen haben. "In meinen Augen ist ein Partnerschaftspakt nach dem Beispiel des Stabilitätspakt auf dem Balkan dort ein wichtiges Element."

Auch Belgien dürfe die Intervention Europas in Afrika nicht verpassen. Michel sagt, es sei notwendig, "einige kleine Zeichen eines erneuerten belgischen Interesses an den Ereignissen in Zentralafrika zu setzen".

Die belgische Kolonie in Afrika war der Freistaat Kongo; er wurde erst kürzlich in Demokratische Republik Kongo umbenannt. Hier hat der Bürgerkrieg Zehntausende tote und verletzte und über eine halbe Million heimatlose Menschen hinterlassen. Jahrzehntelang hat die westliche Marionette Mobutu die Reichtümer des Landes geplündert. Auf jeden Fall kümmerten sich die belgischen Politiker bisher kaum um das Elend der einfachen kongolesischen Bevölkerung; es reichte gerade für ein armseliges Hilfspaket über ca. 1,7 Millionen DM.

In einem Dokument des belgischen Außenministeriums heißt es, dass "die wachsende Globalisierung der Wirtschaft neue Perspektiven für die wirtschaftliche Expansion unseres Landes eröffnet und den Kampf um die internationalen Märkte beeinflußt, wo Belgien seine Position konsolidieren und in neue Bereiche des Markts vordringen möchte."

Dieser Prozeß der Globalisierung treibt alle großen (und kleinen) Mächte dazu, neue Märkte für ihre Produkte und neue Quellen für Rohmaterialien und billige Arbeitskräfte zu suchen. Dies nimmt immer mehr die Form an, dass das Interesse der ehemaligen Kolonialmächte an ihren verlorenen Besitztümern wieder auflebt: wie vor kurzem auch dasjenige Portugals an Osttimor. Aber solche offen imperialistischen Absichten werden normalerweise hinter dem wolkigen diplomatischen Gerede der "Demokratisierung" und der "Menschenrechte" versteckt.

In Afrika befinden sich einige der größten unberührten natürlichen Ressourcen der Welt. Es ist ein riesiger potentieller Markt für westliche Güter, und eine Quelle für Billiglohnarbeit, die Südostasien und Lateinamerika in den Schatten stellen könnte. Seine Küste liegt nicht weit entfernt auf der andern Seite des Mittelmeers. Zweifellos hat ein neuer "Wettlauf nach Afrika" begonnen. Aber Michels Bemerkungen zeigen, dass in diesem Wettlauf einmal mehr Großmachtinteressen aufeinander stoßen.

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