St. Pauli Nacht

Ein neuer Film von Sönke Wortmann

Der Regisseur Sönke Wortmann (40) hat sich bisher vor allem im heiteren Metier ausprobiert. Beziehungskomödien wie etwa Eine Wahnsinnsehe(1990), Allein unter Frauen(1991) oder Das Superweib(1995) müssen sich, bei gleichzeitig anerkennenswertem Gespür für die grotesken Momente des Lebens, dabei den Vorwurf des Banal-Witzigen gefallen lassen. Am bekanntesten ist Wortmanns Komödie Der bewegte Mann (1994), die in der Berliner Schwulenszene angesiedelt ist. In seinem letzten Film Der Campus begibt sich der Regisseur in die Welt etablierter Dozenten und Professoren einer deutschen Universität.

Wer ähnliche Kost von Wortmanns neuestem Film erwartet, ist wahrscheinlich etwas enttäuscht. Es ist weder eine Komödie, noch verbirgt sich hinter dem Titel des Films eine anrüchig-prickelnde Story, obwohl nichts fehlt, was zu einem zünftigen Film über das berühmte Hamburger Rotlichtviertel St. Pauli gehört. Ein ehemaliger Zuhälter wird von einem nackten Amok-Läufer erschossen, dieser von einem Kampfhund übel zugerichtet, der wiederum von der Polizei erschossen, ein Dachstuhl gerät in Brand, eine Prostituierte wird von ihrem Boss angezündet und ein jugendlicher Krimineller bei seiner Flucht vor der Polizei von einem Taxi überfahren.

Was Wortmann davor bewahrt, einen mit den üblichen Klischees beladenen, eindimensionalen Film über das "Milieu" zu drehen, ist seine persönliche Sichtweise - er betrachtet den Hamburger Kiez als Ganzes. "Bei uns geht es nicht nur um die Davidswache und die Luden, sondern auch um sogenannte normale Leute," erklärt er in einem Presseinterview.

Um das nächtliche Leben mit all seinem Kommen, Gehen und unverhofften Zufällen einzufangen, verzichtet der Film, wie schon die Romanvorlage von Frank Göhre, auf eine durchgehende Handlung. Nur die ersten Szenen haben den Ansatz einer festen Story: Charly wird aus dem Gefängnis entlassen, vorzeitig, wegen guter Führung. Mit seiner Freundin, einer Sparkassenangestellten will er ein neues, solides Leben beginnen, jenseits alter Zuhälter-Kreise. Da erhält er eine telefonische Morddrohung, begibt sich wieder in die Szene, um zu erfahren, was dahinter steckt und wird wenig später auf offener Straße erschossen, von einem aus dem Bordell wankenden, betrunkenen Postangestellten, der gerade von seiner Frau verlassen worden ist, wie man später erfährt.

Für den Hauptteil des Films stecken Ort und Zeit lediglich den Rahmen ab, innerhalb dessen sich eine Reihe verschiedener Episoden abspielen. Als Bindeglied fungiert ein koreanischer Taxifahrer, der nahezu alle Protagonisten irgendwann einmal durch das nächtliche Viertel fährt.

Das Beeindruckende an St. Pauli Nacht sind seine Charaktere. Sie wirken lebensecht, weil der Regisseur das Rotlicht-Milieu nicht streng von der Außenwelt abgrenzt, sondern es durchmischt mit dem normalen Leben im Bezirk. So zeigen sich bei den Ganoven auch Seiten, die üblichen Vorurteilen widersprechen.

Das beginnt schon in der Eingangszene, wo Zuhälter einen ihrer, nicht auf natürliche Art verstorbenen, Kollegen zur letzte Ruhe geleiten. Gerade als die Urne zu Wasser gelassen werden soll, äußert einer der Luden besorgt, dass eine Seebestattung auf dem Hafengelände ja eigentlich verboten sei. Da wird plötzlich für einen kurzen Augenblick etwas sichtbar, was so gar nicht zu dem Verhalten eines Berufskriminellen zu passen scheint, dessen ganze Existenzgrundlage völlig ungesetzlich und illegal ist.

Ein anderes Beispiel gibt der im Kiez lebende alleinstehende, friesische Bodybuilding-Lehrer ab, im Film ganz ohne die üblichen braungebrannten Muskeln und Goldkettchen, der seiner neuen Bekannten, einer Werbegrafikerin, beichtet regelmäßig zu einer Prostituierten zu gehen und dabei treuherzig erklärt, dass diese ja für einen Blumenladen spare. Die Prostituierte wiederum, statt ihren Stammkunden zu bedienen, bittet ihn in familiären Ton eben mal für eine Stunde auf ihren Kampfhund aufzupassen, da sie dringend weg muss.

Die Luden und Prostituierten gehören nicht zu einer ganz besonderen menschlichen Spezies , die in einer völlig anderen "verruchten" Welt lebt. Man könnte sie sich in anderen Berufen und anderer Gesellschaft vorstellen. Auf der anderen Seite: Um wie viel abgebrühter als die echte Professionelle Roberta wirkt doch im Film die Krankenschwester, wenn sie im Bett mit ihrem Liebhaber zu Gange ist und es fertig bringt, gleichzeitig dabei mit ihrem Ehemann zu telefonieren.

Und wo liegt der grundlegende Unterschied zwischen dem neurotischen Verhalten des farblosen Käsefabrikanten aus der Provinz, und des Punkers Sven? Erscheinen nicht beide gleichermaßen als vom Leben ewig Gehetzte? Während der eine Roberta dafür bezahlt, sich wenigstens einmal verweigern zu dürfen, sie dabei ordinär beschimpfend, spitzelt der andere gleichermaßen für Szene und Polizei, schlägt der Lebensgefährtin seiner Schwester brutal ins Gesicht, um sich unmittelbar danach wieder vor der großen Schwester zu ducken, die es geschafft hat von der Prostitution wegzukommen und wieder ein normales Leben zu führen.

Viele Menschen haben in den letzten Jahren am eigenen Leibe erfahren, wie schnell man sozial abstürzen kann. Wurden Phänomene wie beispielsweise Obdachlosigkeit und Prostitution lange Zeit als Probleme von schwierigen Randgruppen, von Außenseitern der Gesellschaft abgetan, die sogar möglicherweise selbst daran schuld sind, ist es heute offensichtlich, dass zunehmend ganz normale Leute, die meist zuerst ihre Arbeit verloren haben, oder pleite gegangen sind, in die Armut mit all ihren Begleiterscheinungen absinken. Die soziale Unsicherheit als Massenerscheinung bestimmt zunehmend das öffentliche Bewusstsein und verändert es. Davon zeugt auch dieser bemerkenswerte, frische Film, dem wie schon Dresens Nachtgestalten, jede Betroffenheitsmelodramatik und Opfermentalität fremd ist, sondern der Menschen zeigt, die auf aktive Weise versuchen sich in der Welt zu behaupten, mit den Mitteln, die sie zur Verfügung haben.

Am Ende von St. Pauli Nacht räumt Wortmann jedem seiner Charaktere eine neue Chance ein. Der durch den Hund schwerverletzte Postangestellte wird in die Krankenstation eingeliefert, wo seine, ihm davongelaufene Frau arbeitet. Sie werden sich weiter miteinander auseinandersetzen müssen. Sven steigt zu seiner Schwester ins Auto. Werden sie wieder miteinander reden? Der Bodybuilding-Trainer und die Werbegrafikerin werden vielleicht ein Paar.

Zu guter letzt erweist sich der folgenschwere Telefonanruf vom Anfang des Films... als Streich zweier Jugendlicher.

Siehe auch:
Nachtgestalten - ein neuer Film von Andreas Dresen
(2. September 1999)
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