Des Kaisers neue Kleider

Wo liegt der Weg zu wirklicher Demokratie in der Türkei?

Allenthalben vernimmt man jetzt in der Türkei den Ruf nach einer "Demokratisierung" der politischen Verhältnisse. Vor der versammelten Crème der Staats- und Regierungsträger inklusive der Armee - nur der Oberbefehlshaber fehlte - forderte der Vorsitzende des Obersten Kassationsgerichts, Sami Selcuk, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die Türkei könne nicht mit einer Verfassung in das neue Jahrhundert eintreten, deren Legitimität geradezu bei Null liege. Der größte Unternehmerverband des Landes, Tüsiad, bläst seit langem in dasselbe Horn. Einflussreiche Tageszeitungen schließen sich an.

Diese Kampagne setzte unmittelbar nach dem furchtbaren Erdbeben vom 17. August ein, das auf einen Schlag Millionen Menschen die vollkommene Fäulnis des türkischen Staates vor Augen geführt hatte. Die von Korruption und Verbrechen zerfressene Regierung zeigte sich nicht nur unfähig, die einfachsten Rettungsmaßnahmen für Verletzte und Veschüttete in Gang zu bringen - Gesundheitsminister Osman Durmus von der faschistischen MHP wehrte sich sogar gegen Hilfe aus dem Ausland, lehnte Blutkonserven der "Rassenfeinde" Griechenland und Armenien ab und meinte: "Wenn das Erdbeben von Gott gesandt ist, dann lässt Gott diejenigen am Leben, die ihm wohlgefallen."

Ein Staat, der die zweitgrößte Armee der NATO unterhält und bei dem Vernichtungskrieg gegen die Kurden innerhalb von zwölf Stunden zehntausend Soldaten quer durch das ganze Land verlegen kann, setzte ca. 50.000 Soldaten nicht etwa für Rettungsarbeiten ein, sondern lediglich, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Bis heute hausen die Obdachlosen, deren Häuser zerstört wurden, in mangelhaften, durchnässten Zelten ohne ordentlichen Boden oder müssen sogar unter freiem Himmel nächtigen.

Das Erdbeben zerriss den Schleier des angeblichen "Fortschritts", den westliche Institutionen wie der IWF oder die EU der Türkei in den vergangenen zehn Jahren, seit dem Ende der letzten direkten Militärherrschaft, angedichtet hatten. Die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Regime und der Bevölkerungsmehrheit lässt sich nicht mehr vertuschen.

Nicht zufällig war die altorientalische Genusssucht unter den Schwerreichen der Türkei in jüngster Zeit wieder in Mode gekommen. Restaurants und Hotels bieten zahlungskräftigen Touristen "osmanisches" Ambiente, wo man sich in goldstrotzenden Räumen auf dicken Teppichen erlesenen und weniger erlesenen Vergnügungen hingibt. Die legendäre Verschwendungssucht des Sultans, gepaart mit einem sprichwörtlichen Günstlingswesen auf der einen und blutigem Despotismus auf der anderen Seite, gilt nicht umsonst als der letzte Schrei - er entspricht den heutigen politischen Verhältnissen. Nicht nur die Bauunternehmer, deren Häuser zu Massengräbern wurden, das gesamte staatliche Establishment der Türkei steht als eine Bande von raffgierigen Verbrechern da.

Das bis ins Mark verfaulte Regime zeugt von der Unfähigkeit der türkischen Bourgeoisie, Armut und Rückständigkeit zu überwinden. Es ist das traurige Endprodukt der offiziellen Staatsideologie, des Kemalismus. Seine Bilanz lautet Massenarmut, schreiende soziale Ungleichheit, Aufstieg der Faschisten und Islamisten, und ein unbeschreibliches Flüchtlingselend für die Kurden.

Kein einziges Problem, das die Türkei vom zerfallenden Osmanischen Reich ererbt hat, ist wirklich gelöst worden. Von der brutalen Unterdrückung nationaler Minderheiten zeugt der Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes, der von allen objektiven Beobachtern als Vernichtungsfeldzug gewertet wird. Vom unbewältigten Elend der Bauern und der armen Landbevölkerung zeugt die Fortexistenz von Großgrundbesitzern, feudalen Clanstrukturen und Abhängigkeitsverhältnissen in den weniger entwickelten Landesteilen ebenso wie die hohe Landflucht. Die Trennung von Religion und Staat besteht kaum noch auf dem Papier, der Einfluss des Islamismus wächst mit staatlicher Förderung. Riesige Elendsviertel legen sich wie Gürtel um die Großstädte des Landes. Arbeitslosigkeit und Armut bedrohen das Leben der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit.

Die gesamte Geschichte der Türkei legt davon Zeugnis ab, dass es auf kapitalistischer Grundlage kein Entkommen aus diesen Zuständen gibt. Die Probleme der Türkei liegen nicht daran, dass sie bisher nicht energisch genug versucht hätte, zu einem "modernen kapitalistischen Staat nach westlichem, europäischen Muster" zu werden. Diese gängige Darstellung gehört das Reich der Legenden. Im Gegenteil. Der heutige Zustand des Regimes ist ein Resultat der jahrzehntelangen Unterordnung der Türkei unter die imperialistische Herrschaft, insbesondere unter die USA. Er steht nicht im Gegensatz zur "westlichen Welt", sondern resultiert daraus. Die weltweite Vorherrschaft des Imperialismus lässt keinen Spielraum für einen organischen, demokratischen Entwicklungsweg von Ländern mit verspäteter industrieller Entwicklung.

Als die unabhängige Türkei 1923 aus der Taufe gehoben wurde, hatte der Klassenkampf auf Weltebene bereits die Sowjetunion hervorgebracht. Staatsgründer Mustafa Kemal, der sich später Kemal Atatürk nannte, war von Anfang an damit konfrontiert, dass große Teile der Arbeiter und armen Bauern, die den türkischen Befreiungskrieg von 1919-22 gegen den britischen und französischen Imperialismus trugen, gleichzeitig die russische Oktoberrevolution von 1917 begeistert begrüßten. Sie erhofften sich, dass nun auch in der Türkei die Zeit der Ausbeutung und Unterdrückung durch Grundbesitzer, korrupte Staatsbeamte und imperialistische Großmächte vorüber sein würde. Sozialistische und kommunistische Ideen waren zwar diffus, aber weit verbreitet.

Diese Konstellation der Klassen bedingte den Charakter des Kemalismus. Aufgrund der schwachen Entwicklung der türkischen Bourgeoisie hatte bereits seit der Zeit der "Jungtürken" zu Beginn des Jahrhunderts das Militär die führende politische Rolle im Kampf für die Bildung einer kapitalistischen Nation übernommen. Die Kemalisten setzten diese Tradition fort und reagierten zugleich auf die Mobilisierung der Volksmassen, indem sie - erfolgreich - um die Unterstützung der jungen Sowjetunion buhlten und beteuerten, ihre Bewegung sei revolutionär und keineswegs bürgerlich, ja, sie setze sich den Aufbau einer Nation "ohne Klassenunterschiede und Privilegien" zum Ziel.

Zur selben Zeit ermordeten sie alle Führer der türkischen Kommunistischen Partei und anderer linker, insbesondere bäuerlicher Organisationen. Auch auf die Religion konnten die Kemalisten nicht verzichten, um die politische Kristallisation einer Klassenbewegung zu unterbinden. So stellten sie im Befreiungskrieg die Losung der "Einheit der osmanischen Moslems" (Türken und Kurden) gegen die "Ungläubigen" auf. Dies richtete sich nicht nur gegen britische und griechische Invasoren und armenische Separatisten, sondern auch gegen die Bedrohung des Eigentums alter und neuer Ausbeuter durch eine soziale Revolution.

In den Jahren nach seiner Machtübernahme verfügte Mustafa Kemal nach und nach eine Reihe von Reformen. Neben Akten wie der Einführung des gregorianischen Kalenders und des lateinischen Alphabets sowie weiteren eher symbolischen Anordnungen - wie das obligatorische Tragen des Hutes statt des Fez - stand im Mittelpunkt eine neue, an das Modell des fortgeschrittenen Europas angelehnte Zivil- und Strafgesetzgebung, die die nötigen Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Entwicklung in kapitalistischen Bahnen schaffen sollte. Das Kalifat wurde abgeschafft, religiöse Orden verboten, die Islam-Schulen zugunsten staatlicher Bildungseinrichtungen geschlossen. Die Gesetzgebung schuf den Rahmen für eine leitende Rolle des Staates bei der wirtschaftlichen Entwicklung und enthielt Regelungen, die dem Einfluss ausländischen Kapitals Grenzen setzen sollte.

Linke Organisationen und selbst Gewerkschaften blieben während der gesamten Regierungszeit Atatürks (er starb 1938) im Namen der "Einheit aller Türken" verboten. Bezeichnenderweise übernahm er 1926 das Arbeits- und Strafgesetzbuch des faschistischen Italien unter Mussolini.

Besonders im extrem zurückgebliebenen kurdischen Osten sammelten währenddessen unter dem Banner des Islam feudale Kräfte, denen nun die neureichen "Emporkömmlinge" die Fleischtöpfe streitig machten, rückständige bäuerliche Schichten hinter sich, die unter den neuen Herren oft noch mehr leiden mussten, als unter den alten. Auch rechte, sich als staatstragend verstehende Parteien wie die "Progressive" und die "Freie" Partei, die zum politischen Ausdruck einer solchen Opposition werden konnten, wurden, kaum gegründet, wieder verboten.

Der kurdische Bevölkerungsteil, soeben noch als Bruder in einer gemeinsamen Türkei umworben, wurde nun einer starken Diskriminierung ausgesetzt. Mehrere Aufstände in den Kurdengebieten wurden während Atatürks Regierungszeit niedergeschlagen.

Angesichts der tiefen sozialen Gegensätze konnte das kemalistische Regierungssystem keine oppositionellen Parteien dulden. Jede politische Öffnung brachte die Gefahr mit sich, dass die angestaute soziale Unzufriedenheit durch die Spalten des Regimes brechen würde. Demokratische Auseinandersetzungen, und sei es auch nur innerhalb der herrschenden Klasse, waren unter diesen Umständen nicht möglich. Die Bourgeoisie brauchte immer jemanden, der unter Berufung auf eine unantastbare Autorität alle Fragen verbindlich entschied. Hier liegt die Quelle für den Kult um den Staat und seinen Gründer Atatürk ("Vater der Türken") und für die anhaltend starke Stellung der Armee. Trotz der unterschiedlichen sozialen Grundlagen erkennt man deutliche Parallelen des Kemalismus zum Stalinismus - der Führer- und Staatskult, der Nationalismus, die Unterdrückung und Korruption. Nicht umsonst blieb Atatürk bis zu seinem Tode ein Bewunderer Stalins.

Der Staatsgründer und sein Nachfolger Ismet Inönü hatten noch zwischen England, Frankreich, Deutschland, den USA und der Sowjetunion balancieren und das Land aus dem Zweiten Weltkrieg heraushalten können. Gerade die industrielle Entwicklung mit einem Fünfjahresplan nach sowjetischem Vorbild und mit deutschen Finanzen unterhöhlte jedoch die Voraussetzungen für diese Politik. Sie brachte eine immer noch nicht allzu große, aber militante Arbeiterklasse auf der einen und eine Unternehmerschaft mit sozialen und politischen Ängsten auf der anderen Seite hervor. Die Verarmung der Bauernschaft schritt voran. Die herrschende Klasse entwickelte ein starkes Bedürfnis nach Krediten, Investitionen und nicht zuletzt politischen Stützen im westlichen Ausland. 1950 beteiligten sich türkische Truppen im Rahmen der UN am Koreakrieg, 1952 wurde das Land in die NATO aufgenommen.

In den fünfziger Jahren ging die wirtschaftsliberale und pro-amerikanische Politik der Regierung Menderes/Bayar mit einer systematischen Hochrüstung der Armee, dem Aufbau der "Konterguerilla" und der Förderung des Islam einher. 1960 putschte das Militär, um die Verhältnisse unter Kontrolle zu halten. Damals allerdings gab es noch gewisse Voraussetzungen für eine gezielte, staatlich gesteuerte Politik des wirtschaftlichen Aufbaus. Das Militär begründete daher - natürlich unter Berufung auf Atatürk - den Staatsstreich mit Notwendigkeiten der ökonomischen Entwicklung und versprach auch eine Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung. Das rasche Wachstum der Arbeiterklasse leitete allerdings die Periode heftiger Klassenkämpfe ein, die die sechziger und siebziger Jahre prägten.

Alparslan Türkes, der Gründerführer der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), der "Grauen Wölfe", war als Oberst führend an dem Putsch von 1960 beteiligt. Er hatte bereits 1943 (!) gute Beziehungen zu Nazi-Deutschland unterhalten. Zeit seines Lebens prahlte er damit, seinerzeit wegen Bestrebungen, die Türkei an der Seite Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion kämpfen zu lassen, verurteilt worden zu sein.

Nach dem Krieg wurde er in den USA ausgebildet, geschult und als Vertreter der türkischen Streitkräfte im US-Verteidigungsministerium eingesetzt. Ab Mitte der sechziger Jahre rief der damalige Regierungschef Demirel offen dazu auf, gegen "kommunistische Ungläubige zu kämpfen", ab 1968 wurden die Grauen Wölfe gezielt als Terrororganisation gegen die linke Arbeiter- und Studentenbewegung aufgebaut. Ihre Morde verteidigte Demirel als "patriotische Taten".

Die NATO züchtete die türkischen Militärs, Faschisten und Todesschwadronen im Rahmen des sogenannten "Gladio"-Programms systematisch hoch, war das Land doch schon 1953 von J.F. Dulles zum wichtigen Bindeglied im "Nördlichen Gürtel" ("Northern Tier") gegen die Sowjetunion erklärt worden und diente als Brückenkopf der NATO im Nahen Osten. Dazu brauchte die "demokratische" Nordatlantische Allianz natürlich Kräfte in der Türkei, die zu einem rücksichtslosen und aggressiven Vorgehen gegen jegliche "kommunistische Bedrohung" im Innern und Äußern fähig und bereit war. Die USA und die NATO unterstützten den türkischen Staats- und Militärapparat mit Milliardensummen und gaben auch den folgenden Putschen von 1971 und 1980 ihre Rückendeckung.

In den siebziger Jahren eskalierte die soziale und politische Krise. Auf einer Woge von Hoffnungen und Illusionen zahlreicher Arbeiter wurde Bülent Ecevit 1974 an die Regierung gespült. Ecevit, der auch heute wieder das Amt des Premierministers innehat, wird allgemein als Sozialdemokrat bezeichnet. Seine Partei, die CHP (Republikanische Volkspartei) hatte jedoch keinerlei Wurzeln in der Arbeiterbewegung, sondern war im Gegenteil die frühere Staatspartei Atatürks, die Ecevit als neuer Vorsitzender 1972 auf einen linkeren Kurs gebracht hatte.

In der alten Tradition des Kemalismus griff Ecevit angesichts der militanten Arbeiterkämpfe wieder auf soziale Demagogie zurück. Er versprach mehr soziale Gerechtigkeit, Kampf gegen Spekulation, Öffentliche Kontrolle der Bergbauindustrie, Förderung des Genossenschaftswesens und Mitbestimmung. Außerdem griff er den Terror von Islamisten und faschistischen Todesschwadronen gegen die Arbeiterbewegung in scharfen Worten an.

Auf dieser Grundlage fand er bei den Wahlen von 1973 eine enorme Resonanz. Einmal an der Regierung, vermied er jedoch sorgfältig alles, was einer linken Mobilisierung hätte weiteren Auftrieb geben können. Er bildete vielmehr eine Koalitionsregierung mit der islamistischen MSP (Nationale Heilspartei) von Necmettin Erbakan, marschierte nach einem von der Militärjunta in Griechenland inszenierten Putsch auf Zypern dort ein und ließ den Nordteil der Insel besetzen. Ebenfalls in der alten Tradition des Kemalismus setzte er auf die Förderung religiöser Rückständigkeit und auf das Schüren von Nationalismus, um der sozialen Spannungen Herr zu werden. Anschließend bildete Demirel die "Nationalistische-Front"-Regierungen mit MSP und MHP. Spätestens seit diesem Zeitpunkt begann die Verflechtung von Faschisten, Mafia und Staat symbiotisch zu werden und die Islamisierung nicht nur immer stärker zu wachsen, sondern auch parteipolitischen Ausdruck zu finden.

Ende der siebziger Jahre steckte die Türkei in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, die in den direkt von den USA organisierten Putsch vom September 1980 mündete. Das Militärregime und Regierungschef Turgut Özal ersetzten in den folgenden Jahren die traditionelle kemalistische Wirtschaftspolitik, die auf den Aufbau einer nationalen Industrie vermittels Importsubstitution gesetzt hatte, durch die rückhaltlose Öffnung der Türkei für ausländisches Kapital. Sicherheitskräfte, rechte Mafia und Wirtschaft verschmolzen, förderten die Islamisierung und den Chauvinismus, während ihre Wirtschaftspolitik eine Schicht mafioser, extrem skrupelloser und korrupter Unternehmer nach oben brachte. Die Privatisierung und Zerschlagung des ehemals staatlichen Wirtschaftssektors führte zum Aufstieg einer Schicht von Kleinkapitalisten im Osten des Landes, die sich 1990 im muslimischen Unternehmerverband MÜSIAD organisierten. Einige dieser Unternehmer, die in der Regel die islamistische Partei unterstützen, sind mittlerweile steinreich geworden. Eine lebende Legende ist Fethullah Gülen, der inzwischen ein umfangreiches Netz islamischer Schulen im Ausland und in Turkmenistan sogar eine eigene Universität unterhält.

In die Mitte der achtziger Jahre fällt auch der Beginn des Krieges, der im Namen der "Terrorismusbekämpfung" gegen die PKK geführt wurde, sich aber in der Realität gegen die gesamte kurdische Bevölkerung richtete.

Die Einbeziehung der Türkei in die Globalisierung, die "Liberalisierung" nach den Rezepten des Internationalen Währungsfonds steigerte so die sozialen und regionalen Gegensätze im Lande auf das Äußerste. Sie führte zugleich zu einer zügellosen Ausbreitung von Korruption im gesamten Staatsapparat. Der Kemalismus näherte sich allmählich seinem heutigen, beklagenswerten Zustand. Es wurde deutlich, dass sich das Regime auf den alten Grundlagen nicht mehr lange würde halten können. Um so heftiger klammerte es sich an die USA; während des ersten Golfkrieges wurden diese von der türkischen Regierung entgegen großen Protesten der Bevölkerung geradezu sklavisch unterstützt.

Geopolitische Veränderungen

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989-91 änderte sich auch die geopolitische Lage der Türkei und brachte neue Erfordernisse mit sich. Das Land ist für die imperialistischen Mächte von enormer strategischer Bedeutung, fast noch mehr als während des Kalten Krieges. Im direkten Umfeld der Türkei liegen jene Regionen, in denen ein neues weltweites Ringen um Rohstoffe und Einflusssphären einsetzt: der Balkan, der Kaukasus, der Persische Golf, Zentralasien. Sie ist für die USA ebenso wie für die EU als Basis im Kampf um die Neuaufteilung der Welt unverzichtbar.

Doch wie kann die kapitalistische Herrschaft in der Türkei stabil gehalten werden? Das ist die eigentliche Frage hinter der begonnenen "Demokratisierungs"-Debatte. Auch diese ist, wie bei politischen Initiativen der türkischen Bourgeoisie üblich, nicht ohne den Segen der imperialistischen Regierungen in die Wege geleitet worden. Erst am 5. August, keine zwei Wochen vor der Erdbebenkatastrophe, hatte der zuständige Unterstaatssekretär der USA, Harold Koh, in der amerikanischen Botschaft in Ankara die Machthaber beschworen: um die Rolle der Türkei als "Bollwerk der Stabilität" in der Region aufrecht zu erhalten, seien "Fortschritte in Demokratie- und Menschenrechtsfragen" unvermeidbar. Koh stellte sich hinter den eingangs erwähnten Richter Selcuk und traf sich sogar demonstrativ im Gefängnis mit prominenten inhaftierten kurdischen Politikern und mit Menschenrechtlern. Dahinter steckt die Befürchtung, dass das sklerotische Regime des Militärs, das im Nationalen Sicherheitsrates die Fäden der Macht in der Hand hält, nicht in der Lage ist, die Türkei durch die stürmischen innen- wie außenpolitischen Gewässer zu steuern, in die sie jetzt segelt.

Nachdem die Türkei durch die Unterstützung des Golfkrieges und des Kosovo-Krieges der NATO bewiesen habe, dass sie außenpolitisch die Menschenrechte verteidige, so Koh in unübertrefflichem Zynismus, müsse sie dieselbe Politik nun auch innenpolitisch in die Wege leiten. Solange die Türkei durch Bürgerkriege gelähmt und ständiger Kritik wegen mangelnder Meinungsfreiheit ausgesetzt sei, so auch Stephen Kinzer, der Redaktionsleiter der New York Times in Istanbul, könne sie auch ihre Rolle im Nahen Osten nicht so spielen, wie die USA dies wünschten. Immerhin sei sie Mitglied der NATO, und möglicherweise würde diese in unmittelbarer Nachbarschaft der Türkei neue Kriege führen müssen: "Es liegt im Interesse des Westens, dass die Türkei stark genug ist, um in diesen Kriegen ihre Rolle, möglicherweise als Frontstaat, zu erfüllen", schrieb Kinzer in einem Beitrag für die jüngste Ausgabe der Zeitschrift "private view", die vom Unternehmerverband Tüsiad herausgegeben wird. "Aber weder die Vereinigten Staaten noch Europa können die Türkei so bewaffnen, wie sie eigentlich wollen, wenn die Türkei so bleibt, wie sie ist. Nur wenn die Türkei als wirklich demokratischer Staat anerkannt wird, werden ihre Freunde sie als vollwertigen Partner akzeptieren können." Die Welt habe sich seit dem Fall der Berliner Mauer geändert, nun müsse sich auch die Türkei ändern.

Unter "Demokratisierung" verstehen diese Kreise die Wahrung ihrer eigenen Interessen. Zu diesem Zweck erstreben sie die Versöhnung aller gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die ein gemeinsames Klasseninteresse gegen die arbeitende Bevölkerung verbindet. Ziel ist offenbar die Einbeziehung und Zähmung sowohl kurdischer Nationalisten als auch "gemäßigter" Islamisten. Kinzer appelliert an die Armee, über ihren eigenen Schatten zu springen. Er zitiert einen "amerikanischen Beamten, der täglich mit der Türkei-Politik befaßt ist": "Am liebsten wäre uns, wenn die Armee die kurdischen Nationalisten ebenso wie die Fundamentalisten in ihre Arme nehmen und ihnen sagen würde: ‚Schaut her, wir sind alle Türken. Wir müssen miteinander auskommen. Lasst uns eine Basis für eine Koexistenz finden, eine Formel, mit der wir alle leben können.‘" Doch leider sei diese Möglichkeit so gut wie ausgeschlossen.

Das Erdbeben hat nur allgemein sichtbar gemacht, was sich aufmerksameren Beobachtern längst erschlossen hatte: Das alte kemalistische Regierungssystem hat jegliche Glaubwürdigkeit und seine Fähigkeit zur Kontrolle der sozialen Gegensätze eingebüßt. Sowohl innen- wie außenpolitisch müssen neue Mechanismen zur Sicherung der kapitalistischen Herrschaft gefunden werden. Daher entdecken das amerikanische Außenministerium und das türkische Establishment - dieselben Leute, die jahrzehntelang Folter und brutale Unterdrückung betrieben - nun plötzlich die "Demokratie".

In einem äußerst umfangreichen und detaillierten Papier mit dem Titel "Perspektiven der Demokratisierung in der Türkei" des Unternehmerverbandes Tüsiad, das bereits 1997 verfasst wurde, heißt es: "Die Türkei, die nun einmal in einem kritischen Teil des Nahen Ostens und der islamischen Welt gelegen ist, steht vor zwei brennenden Problemen: der Versöhnung des Laizismus mit dem Islam und der Versöhnung des nationalen Staates mit unterschiedlichen ethnischen Identitäten."

Eine außenpolitische Rolle für den Islam

Teile der maßgeblichen US-Politiker sind eindeutig dabei, die Rolle des Islam neu zu bewerten. Einer von ihnen ist Edward P. Djerejian vom James A. Baker III Institute for Public Policy at Rice University. Er war früher US-Botschafter in Syrien und stellvertretender Außenminister für Angelegenheiten des Nahen Ostens:

"Eine durchdachte Rahmenpolitik gegenüber dem Islam ist zwingend notwendig geworden, da sich in dem ‚Krisenbogen‘, der vom Balkan über den Kaukasus, Nordafrika, den Nahen Osten sowie Zentral- und Südasien erstreckt, neue außenpolitische Herausforderungen stellen... Dessen Bedeutung für die Interessen der USA... liegt in dem entscheidenden geographischen Faktor, dass sich in diesem Krisenbogen riesige Öl- und Gasreserven befinden... Er beheimatet rund drei Viertel der weltweiten Öl- und Gasreserven... Wir haben ja gerade vor kurzem einen Krieg im Persischen Golf geführt, um eine Aggression zurückzuschlagen und eben diese Interessen zu verteidigen."

Er plädiert dann stark dafür, bei den islamischen Bewegungen zwischen Worten und Taten zu differenzieren und nicht alle über einen Kamm zu scheren. Mit den Gemäßigten müsse man unbedingt enger zusammenarbeiten. Ein gemäßigter Islam könne als nützliche Brücke zur muslimischen Welt im Nahen Osten und Zentralasien, sprich als nützliches Werkzeug des wieder erwachenden Kolonialismus dienen: "Ein Beispiel hierfür ist die Türkei mit ihrem säkularen Modell einer islamischen Gesellschaft und ihrem potentiellen Zugriff auf die turksprachigen Länder Zentralasiens..." Man könnte zahlreiche ähnliche Zitate anführen. Derselbe Autor zitiert begeistert den saudischen Innenminister Prinz Naif Bin Abdul Azziz mit den Worten: "Der Islam ist eine Religion des Friedens, der Liebe und der Sicherheit."

Sicherlich bestehen innerhalb der türkischen und internationalen Politik Meinungsverschiedenheiten darüber, ob man die bestehende islamistische Bewegung unter Necmettin Erbakan stärker legitimieren, oder ob man die Islamisierung weiter unter ausschließlicher Kontrolle des Militärs betreiben sollte. Tatsache ist jedoch, dass Erbakan während seiner Zeit als Premierminister 1996-97 dem westlichen Ausland seine Treue und Nützlichkeit unter Beweis gestellt hat. Bei aller populistischen Rhetorik gegen die USA und die EU hielt er sich an sämtliche Vereinbarungen. Er ließ die USA weiter wie eh und je vom Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus den Irak bombardieren und wandte sich, als seine "Wohlfahrtspartei" Refah 1998 verboten wurde, ironischerweise hilfesuchend an den Europäischen Gerichtshof eben jener EU, die er soeben noch wortreich verdammt hatte.

Auch vom IWF geforderte Verfassungsänderungen, die das türkische Parlament kurz vor dem Erdbeben verabschiedete, waren erst möglich geworden, nachdem die "Tugendpartei" (Nachfolgerin der Refah) zugestimmt hatte. Im Gegenzug wurde der Tugendpartei zugesichert, dass Erbakan nunmehr in die Politik zurückkehren dürfe.

Auch stützen sich die türkischen Islamisten, die zu Beginn der neunziger Jahre mit ihrer sozialen Demagogie unter der armen Stadtbevölkerung starke Stimmengewinne verzeichneten, immer deutlicher auf eine relativ starke Unternehmerschaft, die im Namen des Islamismus blühende Geschäfte mit den entsprechenden Nachbarländern treibt, aber auch ein starkes Interesse an Verbindungen zum westlichen Ausland, insbesondere zur EU hat.

Grundzüge eines Programms für die Arbeiterklasse

Ein Land, das als Ausgangsbasis für die imperialistische Neuaufteilung der Region (und die Eroberung der ehemaligen Sowjetrepubliken) dienen soll, kann im Innern nicht demokratisch sein, wenn man unter Demokratie politische Rechte für die Masse der Bevölkerung versteht. Das Gewicht des Militärs in der Gesellschaft würde auch bei einer Umorientierung auf eine stärkere öffentliche Anerkennung und Gewichtung der islamistischen und kurdischen Kräfte nicht abnehmen, im Gegenteil: die außenpolitischen Eroberungsstrategien erfordern eine starke Armee. Um nach außen hin schlagkräftig zu sein, müsste jeder Dissenz im Innern des Landes rücksichtslos niedergeschlagen werden - vielleicht nicht mehr unbedingt im Namen Atatürks, sondern, wie einst in Chile, im Namen der "Demokratie".

Es mag in diesem Sinne eine Aussöhnung von Kemalismus, Islamismus und kurdischen Nationalisten denkbar sein. Sind sie auch untereinander zerstritten, so verbindet sie doch ein gemeinsames Interesse am Erhalt der kapitalistischen Türkei. Eine Versöhnung zwischen den Belangen der herrschenden Kreise und jenen der Bevölkerung ist dagegen schlechterdings unmöglich.

Die schrecklichen Lebensbedingungen der Bevölkerung in Russland und die Ausplünderung dieses Landes durch kriminelle Elemente sollten außerdem zu denken geben. All dies wurde zu Beginn der neunziger Jahre im Namen der "Demokratisierung" in die Wege geleitet. Äußerste Vorsicht ist angebracht, wenn das alte Establishment im Chor mit westlichen Diplomaten die "Demokratisierung" im Munde führt.

Dasselbe Parlament, das jetzt eine neue Verfassung ausarbeiten und ratifizieren soll, hatte soeben das Amnestiegesetz verabschiedet, das sämtliche staatlichen Folterer und Mafiosi befreit hätte, während ihre Opfer weiter festgehalten werden sollten. Es segnete außerdem das Gesetz zur Erhöhung des Rentenalters und sämtliche Maßnahmen des IWF in den letzten Jahren ab. Es schämte sich nicht einmal, die Situation unmittelbar nach dem Erdbeben ausnutzen, um soziale Angriffe zu beschließen, die kurz zuvor auf heftigen Protest gestoßen waren.

Wirkliche Demokratie kann nur entstehen, wenn die sozialen Gegensätze abgebaut werden und die aggressive Außenpolitik der Türkei durch ein Bündnis mit der Bevölkerung der umliegenden Länder abgelöst wird. Dazu ist nur die gesellschaftliche Kraft in der Lage, die kein Interesse an der Ausbeutung der Region im Dienste des Kapitals hat. Die Arbeiterklasse stellt die einzige solche Kraft dar. In der Tat beschwor das Erdbeben eben dieses Schreckgespenst herauf. Hier, und weniger in reiner Menschenliebe, dürfte der eigentliche Grund für das rasche Zusammenrücken sämtlicher benachbarter Regime nach der Katastrophe liegen. In dem Hexenkessel der Kriege und Intrigen im Nahen und Mittleren Osten förderte das Erdbeben einen weiteren, bislang weniger beachteten Anwärter auf die Macht zutage.

Nur durch die Verwirklichung sozialistischer Maßnahmen können die ungelösten Aufgaben der demokratischen Entwicklung erfüllt werden. Grundlegende Ansätze sind folgende:

Ohne eine gerechte und gleiche Verteilung des Reichtums kann es auch keine politische Gleichberechtigung geben. Zu diesem Zweck müssen die tatsächlichen Herrschaftsstrukturen in der Türkei offengelegt werden. Die Vertreter der herrschenden Klasse sind dazu nicht in der Lage. Davon zeugt die Tatsache, dass im Susurluk-Skandal, der die Verstrickung von Regierung, Parlament und Mafia-Strukturen sichtbar werden ließ, auch nach drei Jahren noch keine Aufklärung in Sicht ist.

Notwendig ist die Schaffung von Ausschüssen der Bevölkerung , die dem korrupten und unfähigen Parlament diese Aufgabe aus der Hand nehmen. Notwendig ist eine unabhängige Untersuchung der Verfilzung von Parlamentariern, Mafiosi und Regierungspolitikern. Vermögen, das erwiesenermaßen auf kriminellem Wege erlangt wurde, sollte beschlagnahmt und zur Finanzierung sofortiger Hilfsmaßnahmen für die bedürftigen Bewohner von Elendsvierteln verwendet werden.

Ein weiterer erster Schritt wäre die Beschlagnahme des Besitzes der Bauunternehmer und die Verwendung ihrer Reichtümer zur Bereitstellung der dringendsten Hilfsmaßnahmen für die immer noch unversorgten Erdbebenopfer.

Aus den regierenden Kreisen vernimmt man den Ruf nach einer neuen Verfassung. Der Unternehmerverband hat die entsprechenden Gesetzesartikel gar schon fertig ausformuliert. Doch jeder weiß, dass einige kosmetische Veränderungen auf dem Papier rein gar nichts an den realen Strukturen ändern würden. Das Parlament könnte beschließen, was es wollte; solange der ganze Besitz in den Händen einer winzigen Minderheit ruht, bleiben auch Korruption, Günstlingswirtschaft und Militarismus bestehen.

Eine neue Verfassung muss von der arbeitenden Bevölkerung selbst erstellt werden. Das wäre der Ansatz zu einer wirklichen Volksherrschaft, die endlich die übrigen drängenden Probleme in Angriff nimmt: die Lösung der Bodenfrage durch die Abschaffung des Großgrundbesitzes, die Gleichberechtigung aller nationalen Minderheiten, die Entmachtung der Armee, die Schaffung einer umfassenden, kostenlosen staatlichen Schulbildung und medizinischen Versorgung, und vor allem die Ablösung der aggressiven Außenpolitik durch einen Appell an die Arbeiterklasse der umliegenden Länder.

Siehe auch:
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