Türkischer Staat richtet Massaker unter politischen Häftlingen an

In der Nacht zum vergangenen Sonntag stürmten Sicherheitskräfte das Zentralgefängnis von Ankara, das nach Unruhen von linken politischen Häftlingen besetzt worden war. Sie richteten ein entsetzliches Blutbad an. Mindestens zehn Gefangene wurden getötet, Dutzende zum Teil schwer verletzt.

Daraufhin ist es auch in anderen Gefängnissen der Türkei zu Revolten gekommen. Gefangene haben sich verschanzt und insgesamt siebzig bis neunzig Beamte als Geiseln genommen. Sie fordern die Verurteilung der politischen Verantwortlichen, bessere Haftbedingungen und keine Isolierung politischer Gefangener voneinander.

Verschiedene türkische Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Anwaltsorganisationen verurteilten das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte als "Massaker". Ein weiteres Blutbad ist zu befürchten. Um die anderen besetzten Haftanstalten ist ein riesiges Aufgebot von Sicherheitskräften zusammengezogen worden. Der sozialdemokratische Regierungschef Bülent Ecevit hat erklärt, die "Autorität des Staates" müsse gewahrt werden, "koste es, was es wolle".

Vieles deutet darauf hin, dass es sich um eine kaltblütig geplante staatliche Aktion handelte. Schon seit Jahren versucht der Staat immer wieder, die großen organisierten Gruppen linker politischer Häftlinge in den überfüllten Gefängnissen aufzubrechen. Da die Gefangenen ahnen, dass sie im Fall der Isolation von ihren Gesinnungsgenossen der Willkür und Folter der Wärter vollends schutzlos ausgeliefert sein würden, kommt es regelmäßig zu Hungerstreiks, Aufständen und Geiselnahmen bei versuchten Verlegungen.

Im Ulucanlar-Zentralgefängnis in Ankara hatten einige Tage vor dem Angriff Gefangene aus Protest gegen Verlegungen Zählappelle verweigert und ihre Zelle besetzt. Die Gefängnisleitung behinderte daraufhin den Besuch von Anwälten und Verwandten. Am Freitag hatte sich Ecevit kurz vor seinem Flug in die USA mit Staatspräsident Demirel und den Führern seiner Koalitionspartner, Mesut Yilmaz von der konservativen ANAP und Vizepremier Develt Bahceli von der faschistischen MHP getroffen. Nach einem Bericht der Milliyet soll er mit ihnen unter anderem besprochen haben, in den Gefängnissen "Vorkehrungen gegen Gewalt zu treffen".

Der Angriff der Polizei erfolgte mit der offiziellen Begründung der Suche nach Waffen. Ungefähr zeitgleich mit der Erstürmung wurde eine Reihe von Angehörigen der Häftlinge festgenommen, die sich vor dem Gefängnis versammelt hatten. Nach Angaben von Anwälten, Ärzten und Angehörigen wurde erst am Montag abend, also fast einen Tag später, eine Autopsie der Toten begonnen. Ihren Anwälten wurde die Teilnahme daran verweigert. Gesichter und Hälse der getöteten Gefangenen sollen völlig mit Messern zerschnitten, ihre Arme und Beine gebrochen gewesen sein. Verletzte sollen erst mit sechsstündiger Verspätung ins Krankenhaus gebracht und noch auf der Bahre von Soldaten geschlagen worden sein. Bei anschließenden Protestkundgebungen wurden nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD möglicherweise bis zu 300 Verwandte von Gefangenen, Rechtsanwälte, politische und Menschenrechts-Aktivisten festgenommen.

Das Vorgehen des Staates gegen die rebellierenden Häftlinge, meist Angehörige maoistischer Gruppen (die Gefangenen der kurdisch-nationalistischen PKK sollen sich auf Weisung ihrer Führung sofort der Polizei ergeben haben), steht in auffälligem Gegensatz zu seinem Umgang mit den wenigen Mafiosi und faschistischen Gangstern, die inhaftiert sind. Eine Woche vorher waren bei Kämpfen zwischen rivalisierenden rechten Mafia-Banden sieben Gefangene umgekommen, 14 Wärter als Geiseln genommen und ein Gefängnistrakt angezündet worden. Die Sicherheitskräfte krümmten den Mafiosi, deren oberste Paten sich gegen entsprechende Bezahlung in den Gefängnissen regelrechte Luxusappartements eingerichtet haben, kein Haar. Kein Wunder, immerhin sitzt mit der MHP ja geradezu ihre parlamentarische Vertretung in der Regierung!

Erst vor wenigen Wochen ist ein von der Regierung eingebrachtes Amnestiegesetz, das die Befreiung aller Folterknechte, faschistischen Mörder und rechtsradikalen Mafia-Banden beinhalten sollte, am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. Laut einem Bericht der Turkish Daily News gab die Gefängnisleitung der Forderung der Angehörigen nach einem neuen Zellentrakt die zynische Antwort: "Wartet eine Weile, nach der Amnestie wird es genügend Zellentrakte für die linken Gefangenen geben!"

Das Massaker von Ulucanlar ist, wie allein schon die Äußerungen von Ecevit deutlich machen, ein Versuch des Staates, "Stärke" zu demonstrieren und jede mögliche Opposition einzuschüchtern. Der Staat hat sich in den letzten Wochen in den Augen von Millionen türkischer Arbeiter diskreditiert. Gegen den Willen der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung beugte sich das Parlament dem IWF und der Weltbank und verabschiedete ein Gesetzespaket von drastischen sozialen Kürzungen und Privatisierungen.

Das Erdbeben vom 17. August enthüllte mit einem Schlag die ganze Korruption, Raffgier und Bösartigkeit des politischen und wirtschaftlichen Establishments. Das geplante Amnestiegesetz setzte dem ganzen die Krone auf. Da der türkische Staat aber nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich bankrott und deshalb auf Kredite und Investitionen der internationalen Banken und Konzerne dringend angewiesen ist, kann er seiner Bevölkerung bei allem Gerede über "Demokratisierung" nichts bieten außer noch mehr Ausbeutung, noch mehr Armut und noch mehr Bereicherung einer kleinen Minderheit von Geschäftsleuten auf Kosten der arbeitenden Bevölkerungsmehrheit. Unter diesen Umständen nimmt das Gewicht der extrem rechten Tendenzen im Staatsapparat und dessen Zuflucht zu offen faschistischen Methoden zwangsläufig zu.

Siehe auch:
Des Kaisers neue Kleider - Wo liegt der Weg zu wirklicher Demokratie in der Türkei?
(16. September 1999)
Nach dem Erdbeben: Türkische Regierung amnestiert Folterer und Kriminelle
( 3. September 1999)
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