Die Sackgasse von Chavez' "Revolution"

In Venezuela mehren sich Warnungen vor einem Putsch

Die anhaltende Verfassungskrise in Venezuela, die durch die Wahl des ehemaligen Offiziers und Putschisten Hugo Chavez zum Präsidenten heraufbeschworen wurde, droht in einen Militärputsch zur Unterdrückung sozialer Unruhen zu münden. Die Gefahr einer militärischen Intervention schien zum Greifen nahe, als am 27. August vor Venezuelas Parlamentsgebäude Straßenkämpfe ausbrachen und sich Sympathisanten von Chavez und der neu gewählten verfassungsgebenden Versammlung mit Anhängern der alten herrschenden Parteien Venezuelas prügelten, die nach wie vor die Legislative kontrollieren.

Einheiten der Nationalgarde und der Polizei gingen gemeinsam gegen die Straßenschlacht vor dem Parlamentsgebäude vor, während die katholische Landeskirche einen Kompromiss zwischen dem Chavez-Regime und den alten Parteien aushandelte.

Chavez, ein ehemaliger Fallschirmjäger, der es bis zum Oberstleutnant gebracht hat, hatte 1992 einen missglückten Putschversuch gegen die Regierung Carlos Andres Perez unternommen und war dafür ins Gefängnis gekommen. Sechs Jahre danach wurde er als Führer des Patriotischen Pols, einer Wahlpattform, bestehend aus seiner eigenen "Bewegung der fünften Republik" und verschiedenen kleinbürgerlich nationalistischen linken Parteien, zum Präsidenten gewählt.

Der kometenhafte Aufstieg des "Kommandanten" Chavez lässt erkennen, wie weit die bürgerlichen Herrschaftsformen in Venezuela schon verfault sind. Die zwei Parteien, die über vierzig Jahr lang das Monopol der politischen Macht ausübten und sich mit schöner Regelmäßigkeit im Präsidentenpalast abwechselten - die Demokratische Aktion (Accion Democratica, verbunden mit der internationalen Sozialdemokratie) und die COPEI (die Christdemokraten) - sind vollkommen diskreditierte politische Agenturen der korrupten herrschenden Elite von Venezuela.

Obwohl Venezuela durch seine immensen Ölreserven zu den reichsten Länder Lateinamerikas gehört, leben achtzig Prozent seiner Bevölkerung in Armut. Dreißig Prozent sind arbeitslos und fünfzig Prozent derjenigen, die sich ihren Unterhalt selbst verdienen, leben von der sogenannten Schattenwirtschaft, das heißt sie arbeiten als Straßenhändler, Schrottsammler, Tagelöhner etc. Die Mittelklasse ist über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg siebzig Prozent ihrer Kaufkraft beraubt worden, und der Schuldendienst, der viertgrößte in Lateinamerika, verschlingt volle vierzig Prozent des nationalen Haushalts. Das ganze politische und wirtschaftliche Leben des Landes mit seiner Bevölkerung von 23 Millionen ist schon seit Jahrzehnten vollkommen auf die Aufrechterhaltung eines Luxuslebens für die oberen Zehntausend und auf die Zinszahlungen für die von der Wall Street kontrollierten Auslandsschulden ausgerichtet.

Wie stark die Parteien, die mit diesem repressiven System identifiziert werden, von der Bevölkerung abgelehnt werden, drückte sich in der 56-prozentigen Mehrheit aus, mit der Chavez im Februar zum Präsidenten gewählt wurde, und noch stärker in der Wahl der verfassungsgebenden Versammlung, in der die Parteien des neuen Regierungslagers 92 Prozent der Stimmen erhielten und somit 120 der 131 Sitze innehaben. Im Kongress (Parlament), dessen Mitglieder schon vor Chavez' Aufstieg zur Macht gewählt worden waren, haben Parteien, die den neuen Präsidenten unterstützen, nur 33 Prozent der Sitze inne.

Während Chavez‘ populistische Demagogie und seine Ausfälle gegen die herrschenden Oberschicht ihm große Popularität eingetragen haben, bewegt sich seine Politik vollkommen im Rahmen der Richtlinien des Internationalen Währungsfonds und der Wall Street. Trotz Wahlversprechen auf massive Staatsausgaben, Lohnerhöhungen und Währungskontrollen hat die neue Regierung die öffentlichen Ausgaben im Vergleich zum letzten Jahr um zwanzig Prozent reduziert. Die Löhne im öffentlichen Dienst wurden eingefroren und ein neues Gesetz zur Regelung von Erdgas-Investitionen bietet dem in der ganzen Hemisphäre aktiven Auslandskapital die günstigsten Bedingungen. Die Regierung hat außerdem Vorschläge für eine Privatisierung der Aluminiumindustrie und der Elektrizitätswirtschaft in Umlauf gebracht.

Chavez hat die verfassungsgebende Versammlung benutzt, um den "Ausnahmezustand" zu erklären und den alten politischen Institutionen des Staates Venezuela den Kampf anzusagen. Angeblich sollte diese Versammlung eine neue Verfassung entwerfen, um die alte zu ersetzen, die 1961 nach dem Fall der zehnjährigen US-gestützten Militärdiktatur unter General Marcos Perez Jimenez in Kraft getreten war. Kurz nach ihrer Konstituierung erwies sich diese Versammlung jedoch immer mehr als Rammbock gegen das bestehende Parlament und die Justiz, wie auch gegen Venezuelas nationalen Gewerkschaftsdachverband, den CTV (Konföderation der Arbeiter Venezuelas).

Die Straßenschlacht zwischen den Chavez-Anhängern und denjenigen der traditionellen herrschenden Parteien wurde durch den Versuch der verfassungsgebenden Versammlung provoziert, den Kongress aufzulösen und sich dessen sämtliche Vollmachten anzueignen. Zwar warnte der Präsident der Deputiertenkammer, Henrique Capriles, nach dieser Konfrontation, Venezuela sei "auf dem Weg in einen Bürgerkrieg", aber die Massen hatten bemerkenswert wenig Anteil daran genommen. Einige Grüppchen von ein paar hundert "linken" Chavez-Anhängern tauschten Schmähungen und Handgreiflichkeiten mit einer ähnlich großen Anzahl angeheuerter Schläger der COPEI und der Demokratischen Aktion aus, worauf etwa 200 Sicherheitskräfte die Streithähne mit Tränengas auseinander trieben.

Am 9. September wurde ein politischer Kompromiss bekannt gegeben, den die katholische Kirche ausgehandelt hatte; er sieht für eine kurze Periode eine politische "Kohabitation" (Zusammenleben) zwischen dem Kongress und der verfassungsgebenden Versammlung vor. Diese Waffenruhe ermöglicht es dem Kongress, seine Funktionen weiter auszuüben, bis Mitte Dezember ein nationales Referendum über eine neue Verfassung entscheidet und das Parlament neu gewählt wird.

Obwohl die Notstandsdekrete in Kraft bleiben, scheint die Chavez-Regierung eine etwas vorsichtigere Haltung gegenüber Parlament und Justiz einzunehmen, vor allem, weil sie Opposition in der Militärführung befürchtet.

Laut der spanischen Zeitung El Pais hat Chavez im vergangenen März direkt an den Generalstab appelliert, um Unterstützung für seine Reorganisierung der Staatsstruktur und die Auflösung des Kongresses zu erhalten. Es gelang ihm nicht, die Unterstützung der Kommandanten zu gewinnen. Das Militär scheint heute so gespalten wie damals, als der Ex-Leutnant vor sieben Jahren einen Putsch versuchte. Eine Gruppe junger Offiziere, die meisten von ihnen im Rang eines Hauptmanns oder Majors, die den Putsch unterstützt hatten, stehen auch heute auf der Seite des neuen Präsidenten. Aber andere Kommandeure, die schon 1992 gegen Chavez waren und seinen Aufstand unterdrückten, verhalten sich seiner neuen Regierung gegenüber distanziert. Viele von denen, die 1992 dem Präsidenten Andres Perez die Treue hielten, wurden natürlich befördert und stiegen in der Militärhierarchie in führende Positionen auf. Dieser hohen Offiziere fürchten nicht nur Chavez‘ populistische Rhetorik, sondern viel konkreter eine mögliche Beschneidung ihres Einflusses auf Beförderungen und Auszeichnungen, und dass er stattdessen seine eigenen Gefolgsleute nach oben hieven könnte.

Sogar unter Chavez‘ früheren Waffenbrüdern vom Putschversuch 1992 gibt es tiefe Risse. Viele verabscheuen die neue Allianz des Präsidenten mit Venezuelas kleinbürgerlicher Linken und in die Politik aufgestiegenen Ex-Guerilleros, wie den Führern der MAS (der Bewegung für Sozialismus), deren Generalsekretär Leopoldo Puchi der neuen Chavez-Regierung in den ersten Monaten als Arbeitsminister angehörte.

Die Führer der traditionellen Parteien sind sich über die Unruhe innerhalb des Offizierskorps wohl bewusst und haben einen direkten Appell an die bewaffneten Streitkräfte gerichtet, "die Verfassung gegen Chavez zu verteidigen". Cesar Perez Rivas, Chef der COPEI-Parlamentsfraktion, gab gemeinsam mit der Demokratischen Aktion und der konservativen Venezolanischen Projektpartei eine Erklärung ab, in der er gegen das Vorgehen der verfassungsgebenden Versammlung gegen den Kongress protestierte.

Auch die Erklärungen aus Washington drücken "wachsende Besorgnis" über die Verfassungskrise in einem Land aus, das ein führender Rohöllieferant für die USA ist. Das internationale Kapital brachte seine Vorbehalte durch einen vierzigprozentigen Rückgang der Direktinvestitionen im vergangenen Jahr zum Ausdruck.

Währenddessen ist das Chavez-Regime von seiner ursprünglichen Ankündigung, den CTV aufzulösen, ein wenig abgerückt. Der CTV besteht aus 4.000 Gewerkschaften und hat über zwei Millionen Mitglieder. Stattdessen hat die neue Regierung die Subventionen gestrichen, die der Gewerkschaftsbürokratie während der letzten vierzig Jahre gewährt wurden, und will den 24-Millionen-Dollar-Jahreshaushalt des CTV genauestens überprüfen. Weil der CTV für seine Korruption, die inflationären Gehälter seiner Führer und die Unterdrückung von Streiks berüchtigt ist, ist kaum zu befürchten, dass diese Aktionen Widerstand von Seiten der Arbeiter Venezuelas auslösen werden. Es haben sich mittlerweile sogar schon Führer der links-nationalistischen Parteien mit der "Arbeitsreform" der Regierung identifiziert, weil sie darin ein Mittel sehen, die alte mit der Demokratischen Aktion verbundene Bürokratie zu verdrängen.

Viele linke Nationalisten in Venezuela, und überhaupt in ganz Lateinamerika, sehen im Aufstieg von Chavez eine revolutionäre Entwicklung. Eifrige linke Journalisten aus Buenos Aires, Mexico City und anderswo berichten voller Stolz über ihre Pilgerreisen zum Miraflores, dem Präsidentenpalast in Caracas, wo der Präsident und Ex-Fallschirmjäger ihnen persönliche Interviews gewährt.

Diese Leute repräsentieren eine Schicht in der Gesellschaft, die zwar nichts vergisst, aber auch nichts lernt. Die gleichen Tendenzen verherrlichten beispielsweise den "Anti-Imperialismus" von Leuten wie dem General J. J. Torres in Bolivien, die "humanistische Revolution" von Velasco Alvarado in Peru, die "Revolution für die Enteigneten" des Generals Omar Torrijos in Panama und die "nationalistisch revolutionäre" Haltung von General Rodriguez Lara in Ecuador. Wie Chavez bedienten sich die meisten der genannten Militärherrscher radikaler reformistischer Rhetorik und nahmen eine freundliche Haltung gegenüber Kuba ein.

Ausnahmslos bereiteten sie jedoch nur den Weg für viel reaktionärere Regime, oft für Militärdiktaturen, die mit den mageren Reformen schnell aufräumten und die politischen Rechte und sozialen Bedingungen der Arbeiter gnadenlos angriffen. Die Unterstützung von kleinbürgerlichen Linken für die "revolutionären" Offiziere diente immer nur dazu, die Arbeiterklasse zu desorientieren und politisch zu entwaffnen, während die Generalstäbe dieser Länder bereits alle nationalistisch-reformistischen Täuschungsmanöver fallen ließen und einen deutlichen Rechtsschwenk vollzogen.

Venezuelas eigene Geschichte ist das klarste Beispiel für diese immer wiederkehrende politische Entwicklung. 1945 ergriff eine Gruppe junger Offiziere, die mit der Demokratischen Aktion verbunden waren, die Macht und bildete eine zivil-militärische Junta, die versuchte, die Verfassung zu revidieren und verschiedene Reformen einzuführen. Andere Schichten der Armeeführung sahen ihre Interessen bedroht und organisierten mit Unterstützung Washingtons, der Ölgesellschaften und der rechten Oppositionsparteien ihrerseits einen Putsch, der das Polizeistaats-Regime von Perez Jimenez für die nächsten zehn Jahre an die Macht brachte.

Chavez versucht, seine Aktionen scharf von denjenigen der venezolanischen Offiziere der vierziger Jahre abzugrenzen. Aber die Entwicklung der letzten Wochen enthüllt die wachsende Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholen könnte, jedenfalls so lange die Kampfkraft der venezolanischen Arbeiterklasse den politischen Manövern des Chavez-Regimes untergeordnet bleibt.

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