Die Stammwähler verweigern sich

Dramatische Verluste der SPD in ihren Hochburgen

Eine Woche nachdem die SPD in Brandenburg und im Saarland die Mehrheit eingebüßt hat, musste sie am 12. September in Thüringen und Nordrhein-Westfahlen (NRW) erneut erdrutschartige Stimmenverluste hinnehmen.

Bei den Landtagswahlen in Thüringen verlor sie im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren knapp die Hälfte ihrer Wähler und rutschte von 29,6 auf 18,5 Prozent - ein Minus von 11 Prozent. Damit scheidet die SPD, die bisher in einer großen Koalition mit der CDU regiert hatte, in Thüringen aus der Regierung aus. Verglichen mit den Bundestagswahlen vor genau einem Jahr ist das Ergebnis noch deutlicher. Zwei Drittel der Wähler kehrten in dieser kurzen Zeit der SPD den Rücken.

Der unmittelbare Nutznießer ist die CDU. Sie konnte ihren Stimmenanteil um 8 Prozent steigern und wird mit 51 Prozent in Erfurt allein regieren. Ein Blick auf die absoluten Zahlen zeigt allerdings, dass auch die CDU 13.000 Stimmen verloren hat und dass ihr prozentualer Zuwachs lediglich auf die außerordentlich niedrige Wahlbeteiligung zurückzuführen ist. Nur knapp 60 Prozent der Wahlberechtigten gingen am vergangenen Sonntag an die Urnen. Das sind nahezu 15 Prozent weniger als bei den letzten Landtagswahlen (74,8) und ein Drittel weniger, als bei den Bundstagswahlen im vergangenen Jahr.

Die PDS gewann 12.000 Stimmen hinzu und erreichte 21,4 Prozent. Sie überrundete die SPD und wurde zum ersten Mal in einem Bundesland zweitstärkste Partei. Aber ihr Wahlziel, zusammen mit der SPD die große Koalition abzulösen, scheiterte an der Schwäche der SPD.

Auffallend ist, dass keine der kleineren Parteien in der Lage war, die drastischen Verluste der SPD zu kompensieren, wie dies in früheren Wahlen zum Teil der Fall war. Die Grünen verloren zwei Drittel ihrer Wähler und erreichten nur noch 1,9 Prozent. Die FDP wurde fast gevierteilt (1,1 Prozent). Die rechtsradikale DVU, die erst kurz vor der Wahl mit einer massiven Plakataktion versuchte, die wachsend Unzufriedenheit auf ihre Mühlen zu lenken, erreicht auf Anhieb 3,1 Prozent der Stimmen.

Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, fiel die Ohrfeige, die die Wähler der SPD verpassten, noch deutlicher aus. Im größten industriellen Ballungszentrum Deutschlands, dem Ruhrgebiet, in dem die SPD seit Generationen die stärkste Partei war und die politische Macht nahezu uneingeschränkt ausübte, gingen die roten Rathäuser reihenweise an die CDU.

Mit 50,3 Prozent der Stimmen, einem Plus von zehn Prozent, erzielte die CDU erstmals im Landesdurchschnitt die absolute Mehrheit. Die SPD büßte in ihrer bisherigen Hochburg landesweit 8,4 Prozent ein und kam nur noch auf 33,9 Prozent. Die Grünen verloren 2,9 Prozent und kamen noch auf 7,3 Prozent, während die FDP mit 4,3 Prozent leicht hinzu gewann und die PDS deutlich machte, wie sehr sie eine reine Ost-Partei ist. Sie erreichte nur 0,8 Prozent der Stimmen.

Die Wahlbeteiligung lag in NRW noch niedriger als in Thüringen und sank mit 55 Prozent auf den niedrigsten Stand seit der Gründung der Bundesrepublik. Ein detaillierter Blick auf die Stimmenhaltung in einigen Städten macht deutlich, wie stark die Stammwähler der SPD die Gefolgschaft verweigerten. In den großen Industriestädten wie Köln, Duisburg und Gelsenkirchen lag die Wahlbeteiligung noch um zehn Prozent unter dem Landesdurchschnitt.

In Essen gingen in den traditionellen Arbeitergebieten im Norden der Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit nur noch 39 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Obwohl die CDU in dieser Stadt gegenüber den Kommunalwahlen vor fünf Jahren fast 10.000 Stimmen einbüßte, stieg ihr Stimmenanteil um 15 Prozent und der CDU-Oberbürgermeisterkandidat setzte sich auf Anhieb durch.

Erstmals durften auch Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren zur Wahl gehen. Nach ersten Presseberichten war die Verweigerung unter ihnen besonders hoch, nur die CDU konnte einige wenige mobilisieren. Für die überwiegende Mehrheit der Jüngsten gab es nichts zu wählen.

Trotz lokaler Einflüsse dominierten zwei Fragen diese Kommunalwahl. Die Ablehnung des weitverbreiteten Filz und Klüngel, der auf allen Ebenen der Stadt- und Gemeindeverwaltungen vorherrscht und sich in einer Reihe von Skandalen äußerte, kam zusammen mit einer immer stärker werdenden Opposition gegen die völlig unsoziale Sparpolitik der rot-grünen Bundesregierung.

Auch die veränderte Sozialstruktur in vielen Ruhrgebietsstädten spielt eine gewisse Rolle. Seit Jahr und Tag werden in diesem ehemaligen Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie massiv Arbeitsplätze vernichtet. Gleichzeitig versuchten die sozialdemokratischen Kommunalverwaltungen Dienstleistungsbetriebe und Kleinunternehmen anzusiedeln, in der Hoffnung dadurch eine "stabile Mittelschicht" der Gesellschaft aufzubauen. Doch die Steuervergünstigungen, die neue Unternehmen anlocken sollten, wurden durch drastische Sparmaßnahmen in allen Sozialbereichen finanziert. Statt Prosperität kam Verfall, während gleichzeitig die Niedriglöhne in den neuen Dienstleistungsbetrieben die soziale Polarisierung verschärften.

NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) ist ein vehementer Verteidiger von Schröders Kurs in der SPD. Bodo Hombach, einer der Autoren des Schröder-Blair-Papiers, der vom Kanzleramt aus die Wirtschaftslobby in der SPD organisierte, bevor seine Intrigen und eine Korruptionsaffäre dazu führten, dass er als Balkankoordinator der EU abgeschoben wurde, ist ein enger Vertrauter von Clement und war früher Wirtschaftsminister in seiner Regeierung.

Am Wahlabend erklärte Clement, er sei über das Ausmaß der sozialdemokratischen Stimmenverluste überrascht. Obwohl er als Ministerpräsident nicht zur Wahl stand, war es die erste Wahlentscheidung über seine Politik. Für die Landtagswahlen, die im Mai nächsten Jahres in diesem Bundesland stattfinden, bestehen nun die denkbar schlechtesten Voraussetzungen und viele SPD-Funktionäre sehen hier bereits die nächste Katastrophe auf sie zukommen. Dennoch betonte Clement, er werde am Kurs seiner Politik nichts ändern.

Das war der Tenor aller Stellungnahmen der sozialdemokratischen Spitzenpolitiker. Kanzler Schröder trat nach den ersten stabilen Hochrechnungen vor die Kameras und wiederholte fast Wort für Wort, was er bereits nach den Wahlniederlagen vor einer Woche gesagt hatte. Er verstehe den Denkzettel und kenne auch die Adresse, an die er gerichtet sei. Doch zur Sparpolitik seiner Regierung gebe es keine Alternative. Er werde an dieser Politik unverändert festhalten. Lediglich die Überzeugungsarbeit über die Notwendigkeit der Sparmaßnahmen werde intensiviert, fügte Müntefering als designierter Generalsekretär hinzu.

Zum zehnten Jahrestag des Endes der DDR, als Politiker aller Couleur das Hohe Lied auf die Demokratie sangen und das Volk als "Souverän im parlamentarischen System" feierten, erteilen die SPD-Führer eine Lehre in Sachen Demokratie: Egal wie deutlich sich die Wähler gegen die Regierungspolitik aussprechen, sie haben keinerlei Einfluss darauf. Die Regierung hält an ihrer unsozialen Politik mit aller Macht fest. Franz Müntefering soll die Kritiker in den eigenen Reihen mit Zuckerbrot und Peitsche unter Kontrolle halten, während gleichzeitig eine große Propaganda- und Medienkampagne für die Regierungspolitik inszeniert wird.

Im Bundesrat hat sich nun das Gewicht endgültig in Richtung CDU verschoben. Bereits im April war die rot-grüne Hochburg Hessen an die CDU verloren gegangen und am 5.Sepember folgten das Saarland und Brandenburg, wo zukünftig eine Koalition regieren wird. Alle Gesetzesmaßnahmen und Regierungsentscheidungen, die einer Zustimmung in der Länderkammer bedürfen, müssen nun in Zusammenarbeit mit der CDU überarbeitet werden. Oppositionsführer Wolfgang Schäuble (CDU) hat bereits angekündigt, dass seine Partei "keine Blockadepolitik" betreiben werde. In Bezug auf die Rentenkürzungen stimme sie mit den Plänen von Arbeitsminister Walter Riester (SPD) weitgehend überein.

Einige in der SPD-Führungsriege sehen in einer engeren Zusammenarbeit mit der CDU eine Möglichkeit, die Regierung zu stabilisieren. Deshalb übt Kanzler Schröder hinter den Kulissen auch Druck auf die SPD in Brandenburg aus, um sie zu einer Koalition mit der CDU zu bewegen. Doch auf Bundesebene reagiert die CDU zurückhaltend. Trotz ihres Wahlsiegs war die Freude im Konrad-Adenauer-Haus verhalten. Die CDU sei für vier Jahre in die Opposition gewählt worden, betonte Angela Merkel, als CDU-Generalsekretärin, wohl wissend, dass eine schnelle Rückkehr der CDU an die Regierung deutlich machen würde, dass auch in den Unionsparteien tiefe Konflikte über die zukünftige Politik bestehen.

Bei den Landtagswahlen in Sachsen am kommenden Sonntag und den Berliner Senatswahlen am 10. Oktober wird sich die Opposition gegen die Sparpolitik erneut zeigen. Doch Schröder ist entschlossen seine Politik gegen die Bevölkerung durchzusetzen.

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