Weshalb wir Byron brauchen

Benita Eisler: Byron - Der Held im Kostüm. Aus dem Amerikanischen von Maria Mill, 864 S. mit 16 Seiten Bildteil, Karl Blessing Verlag, München, DM 68.-, ISBN 3-89667.082-4

Die Gestalt des englischen Dichters Lord Byron warf in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Schatten. Nur anderthalb Jahre nach seinem Tod bestieg 1825 einer der Dekabristen, der Verschwörer gegen den Zaren, in St. Petersburg das Schafott mit einen Band Gedichte Byrons in der Hand. Alexander Herzen, ein sozialistischer Gegner des Zaren, beschrieb eine Generation später den Dichter als "drohenden Titanen, der den Menschen seine Verachtung ins Gesicht schleudert". In einem Artikel, den Friedrich Engels 1843 für eine Schweizer Zeitschrift verfasste, machte er die Bemerkung, dass "Byron und Shelley fast ausschließlich von den niedrigeren Klassen gelesen werden". Er wiederholte dies in seiner Lage der arbeitenden Klasse in England und pries Byron wegen "seiner sinnlichen Glut und seiner bittern Satire der bestehenden Gesellschaft"(1)

Die Schwestern Brontë lasen eifrig Byrons Werke in der Ausgabe ihres Vaters. In ihrem Roman Wuthering Heights( Sturmhöhe) schuf Emily Brontë in Heathcliff eine Byron nachempfundene Figur. Der Dichter begeisterte die Maler Delacroix und Turner. Schumann, Berlioz und Tschaikowsky komponierten Stücke nach Dichtungen von Byron; Verdi schrieb zwei Opern, die sich auf Dramen von ihm stützten. Ein Kreis, dem der Dichter Théophile Gautier angehörte, machte sich zur Aufgabe, Byrons Stammsitz in ihrem Pariser Café nachzubilden. Sein Einfluss auf das intellektuelle Leben in Europa war zu seinen Lebzeiten und auch zwei Jahrzehnte nach seinem Tode im Jahr 1824 noch außerordentlich groß.

Es ist für uns vielleicht schwer zu begreifen, wie stark er die Einbildungskraft so vieler Menschen als Objekt leidenschaftlicher Verehrung und Ablehnung beschäftigte. Vieles von dem, was seine Persönlichkeit für ein früheres Zeitalter repräsentierte, findet seit langem keinen Widerhall mehr bei dem Publikum, von dem man erwarten könnte, dass es ihn vielleicht liest. Die Gesellschaft hat soviele grundlegende Veränderungen erfahren und katastrophale Erschütterungen erlebt, die notwendigerweise das allgemeine Empfinden geprägt haben. Unter den Gegnern des gegenwärtigen Zustands der Gesellschaft ist der "Byronsche Held" längst aus der Mode gekommen. Das mag so auch in Ordnung sein. Der schwärmerische, menschenverachtende Ausgestoßene, der auf windumtosten Klippen steht, drohte schon zu Lebzeiten seines Schöpfers zu einer Parodie seiner selbst zu werden.

Aber Byron ist viel mehr als das, und sogar das enthält ein Element der Faszination. Eindreiviertel Jahrhunderte nach seinem Tod lässt sich feststellen, dass seine große Popularität keine zufällige Erscheinung war, die auf einer vorübergehenden Stimmung oder einem Missverständnis beruhte. In seinem Leben und Werk war etwas Geniales, und es hätte sicher eine heilsame Wirkung auf unsere zeitgenössische Kultur und Gesellschaft, wenn es gelänge, etwas von dem außerordentlichen Interesse an den Besten seiner Werke und an seinem Beispiel wiederzubeleben.

Benita Eisler hat eine gewissenhafte Darstellung von Byrons Leben geschrieben. Die Losung der zeitgenössischen Biographen ist Detailtreue, und da ihnen allzuhäufig eine historische Perspektive fehlt, begnügen sie sich in mehr oder weniger gelungener Form, mit den gut geordneten und sorgfältig präsentierten Details. Eisler hätte durchaus auf einige der Fakten verzichten können, die sie ausbreitet, aber mit ihrem Buch lässt sie ein Porträt des Dichters entstehen und verschafft ihren Lesern und Leserinnen die Möglichkeit, eigene weitergehende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Wie die Autorin berichtet, führt die Familie Byron ihren Ursprung auf zwei Brüder zurück, die in Begleitung Wilhelm des Eroberers 1066 nach England kamen. Der Stammsitz der Familie, Newstead Abbey in Nottinghamshire, war von Heinrich II. als Kloster gegründet worden und von Heinrich VIII. während der Reformation John Byron, dem ersten Lord dieses Namens, geschenkt worden. Als der Dichter geboren wurde, saß sein Großonkel, der fünfte Lord Byron - wegen seiner Zügellosigkeit und Gewalttätigkeit als der "Böse Lord" bekannt - auf Newstead.

Der Vater Byrons, genannt "Mad Jack", war ein verkommener Trinker, der zweimal heiratete, um an Geld zu kommen (seine zweite Frau war Byrons Mutter Catherine Gordon). Er schlief mit seiner Schwester und starb schließlich verarmt an Tuberkulose und Alkoholismus im Alter von 36 Jahren in Frankreich (im gleichen Alter wie später sein Sohn und seine Enkelin). Als der "Böse Lord" 1797 starb, wurde der neunjährige George Gordon, der mit seiner verarmten (republikanisch gesonnenen) Mutter in beengten Verhältnissen in Aberdeen in Schottland lebte, der sechste Baron Byron of Rochdale.

Geldprobleme bestimmten weiterhin das Leben des jungen Byron, und so sollte es fast sein gesamtes Leben lang bleiben. Sein Sexualleben begann in ziemlich jungem Alter, "so früh - dass es mir nur wenige glauben würden", schrieb er später.(2) In Harrow, einer exklusiven Privatschule, und in seinen ersten Jahren in Cambridge - wo er berühmt dafür war, dass er einen zahmen Bären in seinem Quartier hielt - waren Knaben und junge Männer die Objekte seiner Leidenschaft.

Hours of Idleness (Stunden der Muße), Byrons erster dem Publikum zugänglicher Gedichtband, erschien 1807. Die Edinburgh Review, eine führende Literaturzeitschrift, verriss das Buch und provozierte so eine satirische Antwort des Dichters. 1809 wurde Byron volljährig und erhielt damit seinen Sitz im Oberhaus. Im Juli desselben Jahres machte er eine Reise, die ihn nach Portugal, Spanien, Malta, Albanien, Griechenland und in die Türkei führte. Seine Erlebnisse bildeten die Grundlage für die beiden ersten Gesänge von Childe Harold's Pilgrimage (Childe Harolds Pilgerfahrt),die 1812 erschienen. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf diese fiktionalisierten und romantisierten Reiseberichte war spontan. Er sei erwacht, sagte er, und plötzlich sei er berühmt gewesen. Bald war er ebenso berüchtigt.

Im Februar 1812 hielt Byron seine erste Rede im Oberhaus, in der er das Vorhaben der Regierung geißelte, ein Gesetz gegen die revoltierenden Weber von Nottinghamshire zu verabschieden, durch das die Zerstörung von Maschinen mit dem Tode bestraft werden sollte. Gleichzeitig führte er eine Kampagne für die Rechte der irischen Katholiken. In dieser Zeit hatte er zudem eine ganze Reihe von bedeutsamen Liebesaffären. Die bekanntesten waren die mit Caroline Lamb, der Ehefrau eines künftigen Premierministers, und die mit Lady Oxford, einer führenden Intellektuellen der liberalen Whig-Partei. 1813 begann seine intime Verbindung mit seiner Halbschwester Augusta Leigh. Byron fand aber um 1813/1814 auch die Zeit, eine Reihe orientalischer und anderer exotischer Dichtermärchen zu schreiben: Der Giaur, Die Brücke von Abydos, Der Korsar(dessen erste Ausgabe von 10.000 Exemplaren am Tag ihres Erscheinens ausverkauft war, ein Erfolg, der wohl nie wieder einem poetischen Werk beschieden war) und Lara.

Obwohl er die Liebesaffäre mit Augusta fortsetzte, warb Byron um Annabella Milbanke und gewann ihr Herz. Sie heirateten am 2. Januar 1815. Die Verbindung erwies sich als katastrophal. Byron, der erfüllt war von Selbsthass, Schuldgefühlen und vielleicht auch durch den Gedanken in Panik geriet, dass er sich an einen eher konventionellen Charakter gebunden hatte, behandelte seine Frau abscheulich. Einmal z. B. machte das Paar einen vierzehntägigen Besuch bei Augusta. Bruder und Halbschwester blieben die halbe Nacht auf und amüsierten sich, während Annabella in ihr Zimmer geschickt wurde. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit kehrte Lady Byron in das Haus ihrer Eltern zurück; ein gesetzlicher Trennungsvertrag wurde aufgesetzt und im April 1816 unterzeichnet. Die Londoner Gesellschaft, die Byron vor allem schon wegen seiner radikalen politischen Ansichten missbilligte, stürzte sich auf das skandalöse Zerbrechen dieser Ehe und die Inzestgerüchte und strafte ihn mit Verachtung. Die Ansicht von Caroline Lamb, Byron sei "wahnsinnig, schlimm, ihn zu kennen, gefährlich" (3) teilte offensichtlich ein großer Teil der Gesellschaft oder unterstütze sie zumindest. Außerdem befand sich der Dichter in ernsthaften Geldproblemen, bevor er England 1816 für immer verließ.

Byron ließ sich zunächst in Genf nieder, wo er mit seinen Dichterkollegen Percy Bysshe Shelley, Mary Godwin Shelley und Marys Stiefschwester Claire Clairmont zusammentraf. Mit letzterer hatte Byron in London eine Affäre begonnen, und sie bekam ein Kind von ihm. Im Juni 1816 tauschte die Gruppe ihre Geistergeschichten untereinander aus und Mary Shelley begann ihre Arbeit an Frankenstein. Etwas später im gleichen Sommer erwanderten Byron und Shelley gemeinsam die Ufer des Genfer Sees und besichtigten all die Orte, an denen der Philosoph Jean Jacques Rousseau sich aufgehalten hatte. Um diese Zeit schrieb Byron den dritten Gesang des Childe Harold und der Gefangene von Chillon. Um einen Eindruck von dem Ruf zu vermitteln, den Byron damals genoss, berichtet Eisler von einer Einladung in der Schweiz bei der bekannten Madame de Staël, wo "eine Engländerin,... als sie seinen Namen angekündigt hörte, vor Schreck in Ohnmacht fiel".(4)

Im Oktober 1816 kam Byron nach Italien, wo er den größten Teil seines ihm noch verbleibenden Lebens verbringen sollte. In den Jahren 1817 und 1818 hielt er sich überwiegend in Venedig auf, wo er "ein lockeres Leben mit wechselnden Liebschaften" führte, wie es ein Kommentator ausdrückte, und "viele Affären mit Frauen der niedrigeren Klassen hatte". Dort begann er auch mit der Arbeit an seinem Meisterwerk, dem Don Juan. 1819 begegnete er der Gräfin Teresa Guiccioli, mit der er die am längsten dauernde Liebesbeziehung seines Lebens haben sollte. Über Teresas Bruder und Vater kam er in Kontakt mit italienischen patriotischen Zirkeln und schloss sich einer revolutionären Geheimgesellschaft an. Anfang 1821 war Byron von dem kläglichen Scheitern einer geplanten Revolte gegen Österreich tief enttäuscht. (Eisler führt Byrons Wiedergabe eines Gesprächs mit Teresa an: ",Schade‘, sagte sie mit Tränen in den Augen, ,nun müssen die Italiener wieder Opern komponieren.‘ ,Das fürchte ich auch‘, stimmte Byron ihr zu, ,das und Maccaroni (sic), das sind ihre Stärken.‘") (5)

Nach der gescheiterten italienischen Revolution begann der Dichter, der immer noch am Don Juan arbeitete (der bis zu seinem Tod unvollendet bleiben sollte), sich für die Sache der griechischen Unabhängigkeit zu interessieren und schrieb sich im März 1823 als Mitglied des Londoner Griechischen Komitees ein. Zwei Monate später verließ er Italien und Teresa und verbrachte die restlichen Monate seines Lebens in Griechenland, wo er den zerstrittenen nationalistischen Kräften zu helfen versuchte, sich zum Kampf gegen die Herrschaft der Türken zusammenzuschließen. Er starb an einem Fieber und infolge der falschen Behandlung durch seine Ärzte im April 1824.

Eine reaktionäre Epoche

"Ich war zur Opposition geboren", sagte Byron von sich selbst. Und er hatte viel Gelegenheit, diesen Charakterzug auszuleben, denn der größte Teil seines Lebens fiel in eine zutiefst reaktionäre Epoche. Die herrschende Klasse Großbritanniens reagierte auf den Terror der Französischen Revolution durch die Errichtung eines "Polizeistaats", wie Eisler auf den ersten Seiten ihres Buchs berichtet. Sie hebt hervor: "Der Krieg mit Frankreich begann, als Byron fünf Jahre alt war; er ging 1815 - Byron war siebenundzwanzig - zu Ende."(6) Nach der Niederlage Napoleons triumphierte die Reaktion.

Die Biographin berichtet diese Fakten, aber sie bleiben eher eine Art passiver Hintergrund. Die Beziehung zwischen der historischen Entwicklung und dem Gefühlsleben der Menschen zu erkunden, ein auch in der marxistischen Literatur recht unerforschtes Gebiet, kommt den meisten Literaturhistorikern der Gegenwart nicht in den Sinn. Aber wir wollen für einen Augenblick als Arbeitshypothese annehmen, dass ganze Völker oder soziale Klassen ebenso wie Individuen (infolge von Konterrevolution oder Unterdrückung,Verrat, der Zerschlagung von fortschrittlichen Bewegungen, des Verschwindens jeglicher Hoffnung) traumatische Erlebnisse haben können und dass dies für die sensibelsten Individuen möglicherweise lebensbestimmende Konsequenzen haben kann.

In diesem Licht betrachtet, ist man leicht versucht zu bemerken, dass 1815, das Jahr in dem Byron die größte persönliche Katastrophe erlebte, gleichzeitig aus der Sicht der fortschrittlichen sozialen Bestrebungen der Menschheit eines der entmutigendsten Jahre der Geschichte war. In diesem Jahr endete der Wiener Kongress (jene Versammlung von Tyrannen, welche die Monarchie oder die traditionelle Dynastie in Frankreich, Österreich, Preußen , Spanien, Sardinien, der Toskana, Modena und dem Vatikan restaurierte). Es war das Jahr der Niederlage von Waterloo, von Napoleons Exil auf St. Helena und der Erneuerung der konterrevolutionären Viererallianz zwischen England, Österreich, Preußen und Russland.

Dass Byron gerade in diesen zwölf Monaten seiner Frau und sich solchen Schmerz zufügte, das war natürlich ein zufälliges Zusammentreffen - wenn sich der historische Prozess in den Personen so genau und unmittelbar widerspiegelte, dann gäbe es keinerlei Notwendigkeit für irgendeine Analyse! In einem grundlegenderen Sinn würde ich aber doch von einem Zusammenhang sprechen wollen, und sei es nur insoweit als Byrons außerordentliche Qualen in dieser Zeit, bewusst oder unbewusst, auch ein Element der Verzweiflung über die Restauration des Ancien Régime in ganz Europa und über den Triumph der konservativen Tories in England enthielten. Sein Gemütszustand (verschlimmert durch seine furchtbaren Geldsorgen) hätte jede Beziehung sehr belastet und ein harmonisches Zusammenleben mit einem Menschen, der offensichtlich, wenn auch ohne eigene Schuld, ein Repräsentant der etablierten und verhassten Ordnung war, geradezu unmöglich gemacht. "Ich bin entschlossen, mit dem Elend um mich herum zu werfen & es auf alle zu schleudern, mit denen ich zu tun habe", schrieb er zu jener Zeit an seine Schwester und seine Worte erwiesen sich als zutreffend. (7)

Darüberhinaus zu gehen und im Detail zu untersuchen, wie die historischen Fakten die Personen durchdringen, wäre die Aufgabe eines Spezialisten, wenn sich denn jemand finden würde, der sich dafür interessierte.

Ein derartiges Vorhaben könnte die Untersuchung der psychologischen Entwicklung eines Individuums nicht ersetzen, aber es würde einer solchen Untersuchung eine neue Bedeutung und Konkretheit verleihen. Im Fall Byrons sind die historischen ebenso wie die persönlichen Elemente gleichermaßen spektakulär. Wenn man die Umstände seiner Kindheit bedenkt (die Kluft zwischen dem aristokratischen Erbe seiner väterlichen Familie, ihren dementsprechenden Ansprüchen und ihren höchst beschränkten Verhältnissen in Betracht zieht; dazu eine beherrschende, emotional und finanziell verzweifelte Mutter, ein abwesender, halbverrrückter und alkoholabhängiger Vater, sexueller Missbrauch und Misshandlung durch sein schottisches Kindermädchen usw.), all das in einer politischen Situation, die in den Augen des Dichters höchst verzweifelt gewesen sein muss, kann dann das äußerst unbeständige und launenhafte Verhalten Byrons überraschen? Diese Umstände tragen dazu bei, die einander oft widersprechenden Momente der Unbekümmertheit und der in sich gekehrten Selbstbeobachtung, des sprühenden Witzes und der Desillusionierung zu erklären, auf die man in seinen Dichtungen und seiner Prosa trifft, manchmal in verschiedenen Werken, seltener miteinander verbunden (wie im Don Juan, in den letzten Gesängen des Childe Harold, einigen Gedichten, seinen Briefen).

In einer kürzlich erschienenen Besprechung des Buches von Eisler schreibt John Updike, einer der besten amerikanischen zeitgenössischen Romanschriftsteller, im New Yorker, dass diese Biographie "uns wenig an Byron zu schätzen übriglässt außer seinen geschriebenen Werken". Ich weiß nicht, bis zu welchem Grade dies ein Zugeständnis an die ahistorische Charakteranalyse ist, die gegenwärtig vorherrscht, oder ob es eher Updikes instinktive Ablehnung dessen ist, was er Byrons "gegen das Establishment gerichteten Radikalismus und Anarchismus" nennt, jedenfalls kann ich mit seiner Schlussfolgerung nicht übereinstimmen. Ich finde, es gibt an Byron ein Menge zu schätzen und zu bewundern.

Sicher hat er zahlreiche arrogante, unverantwortliche und üble Dinge getan; er verließ Dutzende von Geliebten; er misshandelte seine Frau; Freunde von ihm brachte er dazu, Wechsel und andere finanzielle Vereinbarungen mit zu unterzeichnen, und wenn er nicht zahlen konnte, ließ er sie auf dem Trockenen sitzen; seine uneheliche Tochter brachte er in einem Kloster unter und besuchte sie danach nicht ein einziges Mal, bis sie starb; in Italien handelte er mit armen und weniger armen Eltern den Preis aus, um den ihre Töchter seine sexuellen Bedürfnisse befriedigten. All das und vielleicht Schlimmeres.

Aber Eisler beschreibt auch Situationen, in denen er sich äußerst selbstlos, geduldig und warmherzig verhalten hat, abgesehen natürlich von seiner unbestrittenen Furchtlosigkeit und seinem Heldentum. Ein junger Amerikaner, George Ticknor, der Byron im Sommer 1815 auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit besuchte, war erstaunt, dass der Dichter "in allem... ganz anders" war als die Charaktere, die er geschaffen hatte. Ticknor berichtete von Byrons "liebenswürdigen" Manieren und seinem "natürlichen und unaffektierten" Wesen. Nach einem zweiten Besuch notierte er: "Über seine eigenen Arbeiten äußert er sich mit Bescheidenheit und über die seiner Konkurrenten oder vielmehr Zeitgenossen mit Billigkeit, Großzügigkeit und kritischer Anerkennung."(8) Sogar Annabella schrieb mitten in dem unglücklichen Jahr ihrer Ehe in ihrem Tagebuch , dass er seine Pflichten "aus instinktiver Herzensgüte" heraus erfülle.(9) Wie lässt sich dieser Mann begreifen?

Bis zu einem gewissen Maß ist sein Verhalten sicher zeitbedingt. Byron konnte ebensowenig aus seiner Haut heraus wie irgendjemand heute. Es sollte zuerst einmal genügen, daran zu erinnern, dass er aus den Überresten der landbesitzenden Aristokratie stammte. (Trotz all seines Radikalismus war Byron sehr stolz auf seinen Titel und alles, was damit verbunden war. Wenn es nach Eisler zwischen Byron und Shelley trotz ihrer Außenseiterrolle und ihrer gemeinsamen sozialen Ansichten Barrieren gab, weil ersterer "seinem Freund Shelley niemals erlaubte, die Distanz zu vergessen, die einen Peer des Königreiches vom Nachkömmling eines Landadligen trennte", dann sagt dies einiges über die außerordentlich feste Macht der Tradition.) (10)

Es gibt Episoden im Leben des fünften Lord Byron, des "Bösen Lord", der unmittelbar vor ihm den Titel innehatte, die von äußerster Primitivität und Brutalität zeugen, wie sie typisch für die Feudalzeit waren. 1765 hatte der Böse Lord z. B. in einer Taverne einem Verwandten sein Kurzschwert in den Leib gerammt und ihn getötet, ein Verbrechen, für das er offensichtlich nicht bestraft wurde. Eisler schreibt: "Hin und wieder wurde der grüblerische Groll des fünften Lords von einem Wahnsinnsanfall unterbrochen." Es wurden Geschichten erzählt, dass "seine Lordschaft seinen Kutscher wegen einer Lappalie totgeschossen, dann die Leiche mit seiner Frau in die Kutsche gewuchtet habe, anstelle des unglücklichen Dieners auf den Bock gesprungen und davongejagt sei. Anderen Gerüchten zufolge soll er, immer wenn er schlechter Laune war, Lady Byron in den Teich geworfen haben."(11)

Dies war der soziale und moralische Ausgangspunkt für Byron, ungeachtet der Rolle, die seine eher demokratisch eingestellte Mutter spielte. Ohne sein tadelnswertes Verhalten entschuldigen zu wollen, bin ich darüber jedoch weniger erstaunt als über seine emotionale Kraft wie auch seine gelegentlich gezeigte Fähigkeit, ganz selbstkritisch und mit beträchtlichem Humor seine eigenen Unzulänglichkeiten zu sehen sowie weitsichtig und gründlich seine Zeit und seine Gesellschaft zu analysieren. Dadurch zeichnete er sich als ein relativ bewusster moderner Mensch aus. Und sein Werk legt auch den Gedanken nahe, dass mit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die industriell-technischen und menschlichen Kräfte entstanden, die in der Lage waren, aus dem edlen Traum von der Freiheit ein realistisches gesellschaftliches Projekt zu machen.

Wie dem auch sei, dieser Mensch schrieb drei Jahre vor seinem Tod: "Die Mächte sinnen Krieg gegen die Völker. Die Nachricht scheint verlässlich - mag es also sein - sie werden doch geschlagen zum Schluss. Die Zeiten der Könige nähern sich rasch ihrem Ende. Es wird Blut vergossen werden wie Wasser, und Tränen werden sein wie Schleier; doch die Völker werden schließlich siegen. Ich werde es nicht mehr erleben, doch ich sehe es voraus. Die Wellen, die ans Ufer schlagen, werden eine nach der anderen gebrochen, aber der Ozean bleibt trotzdem der Sieger."(12)

Die Liebe zur Freiheit

Was war Byrons soziale Perspektive? Ich glaube nicht, dass es sehr zweckmäßig wäre, diese Frage einigermaßen exakt beantworten zu wollen. Man könnte etwas pedantisch sagen, dass er ein bürgerlicher Demokrat gewesen sei, aber ich bin nicht überzeugt, dass es sinnvoll ist, bestimmten Künstlern ein solches Attribut anzuheften. Entspricht es nicht viel eher der Wahrheit, zu sagen, dass bedeutende künstlerische Persönlichkeiten - und gerade dies ist die Definition ihrer überragenden Bedeutung - von der absoluten Liebe zur Freiheit durchströmt werden, und dass dieser Strom in ihrem Werk, natürlich abhängig von historischen oder individuellen Umständen und der Art der ästhetischen Erkenntnis, einen relativen und unvollkommenen Ausdruck findet?

Ich würde Byron beim Wort nehmen, wenn er in sein Tagebuch schreibt: "Ich habe meine politischen Ansichten zu einem absoluten Abscheu gegenüber allen existierenden Regierungen vereinfacht," (13) oder wie es im IX. Gesang des Don Juan heisst:

Krieg schwör ich jedem, wenigstens in Reden, Vielleicht in Taten einst, der den Gedanken Bekriegt, und jeden Sykophanten, jeden Despoten fordre ich in meine Schranken. Ich weiß es nicht, wer siegt in diesen Fehden, Doch wüsst ich´s auch, ich würde nimmer schwanken; Nichts wird den tiefen, offnen Hass je ändern, Hass aller Tyrannei in allen Ländern.(14)

Eine Zeitlang spielte Byron mit dem Gedanken, Land in Amerika zu kaufen. Die Existenz der Sklaverei hielt ihn jedoch davon ab. Er notierte in seinem Tagebuch: "Vor zwei oder drei Jahren dachte ich daran, in eines der beiden Amerikas auszuwandern, in das englische oder das spanische. Aber die Berichte, die ich auf meine Anfragen aus England erhielt, entmutigten mich... es gibt keine Freiheit dort, nicht einmal für die Herren inmitten ihrer Sklaven; mein Blut kocht, wenn ich daran denke. Ich wünsche mir manchmal, ich sei der Besitzer von Afrika, um zu tun, was [der britische Befürworter der Sklavenbefreiung William] Wilberforce einmal tun wird, - die ganze Sklaverei hinwegfegen und dem ersten Tanz ihrer Freiheit zuschauen."(15)

Ebensolche demokratischen Empfindungen können auch Byrons Begeisterung erklären, als er die Aufgabe übernahm, Gedichte für den jungen jüdischen Komponisten Isaac Nathan zu schreiben, die dieser dann auf der Grundlage traditioneller hebräischer Musik vertonte. Nachdem er schon als "Ungläubiger" beschimpft wurde, notierte Byron die Bemerkung seiner Schwester, "als nächstes werden sie dich einen J uden schelten."(16) Eisler bemerkt dazu: "In seiner Begeisterung für die Wiederentdeckung folkloristischer Traditionen war er ein typischer Romantiker; erhaltene Spuren alter Volkskulturen hatten ihn stets fasziniert, und ganz besonders inspirierten ihn ,Relikte‘, die verachteten oder vergessenen Völkern ihre Stimme zurückgaben." Byron schrieb einige seiner bemerkenswertesten Gedichte, darunter "She walks in Beauty" ("In ihrer Schönheit wandelt sie") für Nathans Hebräische Melodien.

In einem Artikel für ein Magazin schrieb Byron 1820: "Das Leben eines Schriftstellers, hat [Alexander] Pope glaube ich gesagt, sei‘ein Krieg auf Erden'." Byron hielt sich ernsthaft an diese Anweisung. Der Dichter schleuderte ohne jede Furcht dem britischen Establishment seinen Hass ins Gesicht. Wenn auch der Ruhm seiner orientalischen Dichtungen ziemlich verflogen ist und seine Darstellungen des gemarterten, einsamen Helden in Manfred und anderen Dichtungen mit etwas Salz versehen werden müssen, um sie zu genießen, hat die Anziehungskraft seiner ätzenden und wirklich amüsanten Angriffe auf die Mächtigen, wie auch einiger seiner etwas lockeren lyrischen Arbeiten eher zugenommen. Byron war vielleicht der einzige der romantischen Dichter, der Popes Werk, insbesondere seine Satiren richtig einschätzte. (Byron nahm seine literarischen Vorbilder sehr ernst. Er hatte gegenüber John Keats einige Vorbehalte und unterschätzte ihn bis zu dem Zeitpunkt, als der jüngere plötzlich starb, vor allem weil dieser kundgetan hatte, dass Pope ihm nicht gefiel.)

In Die Vision des Gerichts feierte Byron den Tod Georgs III., der 1820 nach Jahrzehnten der Krankheit gestorben war. ("Er starb! Sein Tod bewegte nicht die Welt; ...Der prächt´ge Sarg versank in dunkle Mauern - O Spott der Hölle! Diese achtzig Jahre Verwesung eingehüllt in Goldtalare!") (17) Diese "aufwieglerische" Satire, wie Eisler sie nennt (die deutsche Übersetzerin schreibt "vernichtend"), die dazu führte, dass sein Verleger wegen Beleidigung des Königs angeklagt wurde, war eine Antwort auf eine Lobeshymne von Robert Southey, Englands damaligem Hofdichter, einem ehemaligen Radikalen. Byron hatte gute Gründe, Southey zu verachten. Der Hofdichter hatte Shelley und Byron angeklagt, eine "Vereinigung für den Inzest" gegründet zu haben, und Byron als "Führer eine satanischen Schule" verleumdet.

Byron führte seinen vernichtendsten Angriff auf Southey und das gesamte britische Establishment im Don Juan, dessen berühmte Zueignung mit den folgenden Versen beginnt:

Bob Southey! du bist Dichter - Hofpoet und Typus aller dieser großen Lichter, Und ein bekehrter Tory; das versteht Sich freilich ganz von selbst für solch Gelichter. .... Du Bob, bist etwas frech - das macht die Galle; Was du versuchtest, war verführerisch: Wegdrängen wolltest du die Vögel alle Und einz´ge Meise sein auf jenem Tisch; Doch du verrenktest dich und kamst zu Falle, Herniederpurzelnd wie ein Fliegefisch, Und schnappst nach Luft; du willst zu hoch hinaus, Bob, Und zappelst nun - das Wasser geht dir aus Bob. (18)

Im Englischen lauten die letzten Verse: ... you soar too high, Bob, And fall, for lack of moisture, quite a dry, Bob!" und Eisler erklärt, dass sie besonders beleidigend seien, weil "a dry bob" im Slang soviel bedeutet wie "trockener Fick". (19)

Don Juan ist ein Werk, das viel mehr gelesen werden sollte. Byrons Held ist nicht der weibersüchtige Edelmann von Tirso di Molina, Molière oder Mozart. Er ist ein schüchterner und relativ passiver spanischer junger Mann, ein Naiver, der in der Welt herumwandert und in eine Reihe von Affären und Abenteuern verstrickt wird.

Hier drängt sich eine andere Frage auf. Eisler gibt dazu eine Reihe von Hinweisen, aber sie wendet sich nie wirklich der Tatsache zu, dass Don Juan viel näher an einer Selbstdarstellung Byrons ist, als man zunächst vermuten würde, wenn man seinen Ruf als aggressiver sexueller Draufgänger, der eine breite Spur in der weiblichen Bevölkerung aller Klassen und etlicher Nationen hinterlassen hat, zugrundelegt. Die Art seiner Sexualität und seiner Beziehungen zu Männern wie zu Frauen zu ergründen, würde eine spezielle Studie erfordern. Soviel jedenfalls können wir Eislers Buch entnehmen: Wie er auch immer anderen gegenüber erscheinen wollte, privat fühlte Byron sich der Gnade der weiblichen Sexualität ausgeliefert und war ein eher passiver Liebhaber, jemand auf den eingewirkt wurde. Die Anziehung seiner Halbschwester für ihn, dies wiederholte Byron immer wieder, lag darin, dass sie die einzige war, die ihn führen oder mit ihm fertigwerden konnte.

Ich denke von diesem Gesichtspunkt her sind die gelegentlichen Bemerkungen von Eisler über Byrons "Frauenfeindschaft" verfehlt. Eher könnte man, diesen komplexen Zusammenhang vereinfachend, sagen, dass er aus Angst über die Tiefe seiner Empfindungen und aus einem Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber den Frauen heraus zu ihnen manchmal in Verteidigungsstellung ging und mit Wut und großer Aggressivität auf sie reagierte, wobei das Ganze in den Bahnen der Vorurteile und dem Dünkel seiner Klasse und Epoche verlief.

Seine Unfähigkeit bis gegen Ende seines Lebens, wenn überhaupt je Beziehungen zu Frauen einzugehen, die seinen intellektuellen Fähigkeiten entsprachen, hebt Byron kaum aus der Geschichte des männlichen Geschlechts hervor. Das außergewöhnliche Element in seinen endlosen Liebesgeschichten war eine Kombination von Umständen - seine psychologische Verfassung ohne jede Selbstbeschränkung, seine außerordentliche Berühmtheit und, ich würde sagen, seine Sehnsucht nach Zuflucht vor einer niederdrückenden politischen Situation - all dies erlaubte ihm, seinem Verlangen nachzugeben.

Satire über die Übel der Gesellschaft

Vor allem im Don Juan geben die Umherschweifungen und Intrigen des Protagonisten dem Autor Gelegenheit, seine Gedanken über das Leben und die Moral seiner Zeitgenossen auszudrücken. Oder wie Byron 1822 an seinen Verleger schrieb: "... Don Juan wird nach und nach so bekannt werden, wie er beabsichtigt wurde - eine Satire der Übel des gegenwärtigen Zustands der Gesellschaft, keine Lobpreisung der Schändlichkeit; mag er hier und da wollüstig sein, das kann ich nicht ändern." (20)

"Hier und da" schweift Byron ab von seiner Erzählung und spricht über das politische Leben seiner Gegenwart. Der berühmte IX. Gesang spricht unverschlüsselt vom Duke of Wellington, dem seinerzeit in England sehr gefeierten Sieger über Napoleon von Waterloo. Die vierte Stanze lautet:

Du bist "der beste Kehlabschneider" - sacht! ´s ist Shakespeares Wort und konveniert uns beiden. Krieg ist, wenn ihn das Recht nicht heilig macht, Bloß Hirnzerschmettern und Luftröhrenschneiden. Ob du ein einz´ges edles Werk vollbracht, Die Welt - nicht ihre Herren - mag´s entscheiden. Ich bitt, wer ist heut noch froh (Außer den Deinen) über Waterloo. (21)

Man kann, ohne näher in die Materie einzudringen, sicher sein, dass es irgendwo einen "radikalen" Historiker oder Literaturwissenschaftler gibt oder auch mehrere, die es zu ihrer Angelegenheit gemacht haben, Byron seines Mythos als Oppositioneller zu berauben: "Dieser Aristokrat, Frauenschänder, Kriegstreiber, Heuchler und moralisch Aussätzige!" Was mich angeht, wenn ich auf solche Passagen treffe wie die über Wellington oder Byrons unversöhnlichen Angriff auf Lord Castlereagh, den reaktionären Kabinettsminister und Unterdrücker des irischen Volkes, der 1822 Selbstmord verübte ("So hat er sich schließlich die Kehle durchschnitten! Wer? Er?/ Der Mann, die die seines Landes längst schon durchtrennte"), dann frage ich mich, wer in dieser Zeit außer einem Individuum, das aus den höchsten sozialen Schichten stammte, würde das Wissen, das Selbstvertrauen und den besonderen Mut besessen haben, solche Zeilen zu schreiben, den Vertretern der herrschenden Klasse direkt in die Augen zu schauen und sie anzuspucken? Der Gedanke, dass jemand aus der eigenen Klasse ihre Schurkereien vor der Welt entlarvte, versetzte die führenden Kreise in Großbritannien in Wut und Entsetzen.

Don Juan zusammen mit einigen anderen kürzeren Versdichtungen muss als unverzichtbar gelten, aber ihm sind unbedingt Byrons Briefe und sein Tagebuch an die Seite zu stellen. Wunderbar flüssig und spontan geschrieben, gebildet ohne eine Spur von Affektiertheit, höchst amüsant und obszön, gibt es einfach nichts, was mit Byrons Prosa zu vergleichen wäre. Er schießt unbekümmert um sich. Es brächte nichts, hier Auszüge wiederzugeben, diese Prosa muss zusammenhängend gelesen werden. Hier verteidigt Byron z. B. Don Juan oder "Donny Johnny", wie er ihn nennt, einem Freund gegenüber: "Was den Don Juan betrifft - gesteh - gesteht - du Hund und sei ehrlich - dass es das Sublimste in dieser Art Schrifttum ist - es mag unflätig sein - aber ist es nicht gutes Englisch? - es mag liederlich sein - aber ist es nicht Leben, ist es nicht das Werk? - Hätte das jemand schreiben können - der nicht in dieser Welt gelebt hat? - und in einer Postchaise sein Gerät gebraucht? In einer Droschke? In einer Gondel? Gegen eine Wand? In einer Hofkutsche in einem Vis à vis - auf einem Tisch? - und darunter?" (22)

Übertriebene Empfehlungen

Dies mag natürlich nicht nach jedermanns Geschmack sein. Und sicher gibt es auch Passagen, die niemandem gefallen können. Ganz allgemein gesagt, ist es auch nicht notwendig, bei dem Versuch das Wesentliche aus Byron herauszuholen, seine Unzulänglichkeiten aus dem Blick zu verlieren oder die Dinge an irgendeiner Front zu beschönigen. Die in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft vorherrschende Richtung mag sich darum bemühen, so wenig Wertvolles wie möglich in den Werken vor allem derjenigen zu finden, die gegen die existierende gesellschaftliche Ordnung waren (nach dem Motto: Jeder erweist sich schließlich als Heuchler, als einer der ein doppeltes Spiel spielte usw.) Machmal findet sich unter uns aber auch eine entgegengesetzte Tendenz: nämlich die progressive Rolle eines Künstlers, einer Künstlerin oder deren moralische Kompetenz zu übertreiben, um unsere Vorliebe für ihr Werk zu rechtfertigen.

In dieser Disziplin haben stalinistische Literaturwissenschaftler immer brilliert. Annette Rubinsteins The Great Tradition in English Literature from Shakespeare to Shaw(Die große Tradition der englischen Literatur von Shakespeare bis Shaw) ist, was das darin enthaltene Material angeht, ein wertvolles Werk, aber die Autorin neigt dazu, in den Menschen nur "das Beste" zu finden, d.h. ihr unwandelbar fortschrittliches Verhalten und ihren demokratischen Geist. Die unerfreulichen Erscheinungen werden unter den Teppich gekehrt.

Das Bemühen, die rauhen Enden der Geschichte abzuschleifen, kann nur verheerende Folgen haben. Es führt die Menschen in die Irre, was den Charakter ihrer eigenen Zeit angeht, und lullt sie in den Schlaf. Darüberhinaus, welche politischen Implikationen hat eine Argumentation, die nahelegt, dass Künstler einer früheren Epoche voll ausgebildete Verkörperungen von "Demokraten" oder "sozialistischen Menschen" gewesen seien? Es ist eine Art umgekehrter Reformismus. Eine derartige Auffassung unterschätzt die Beschädigungen, die die Klassengesellschaft verursacht und die Narben, die sie hinterlassen. Sie lässt insbesondere den ungeheuren sozialen und psychologischen Druck außer acht, der vom Establishment auf den Künstler ausgeübt wird. (E. P. Thompson schildert in seinem wichtigen Buch The Romantics[Die Romantiker] im Detail die unablässige Feindschaft, der sich William Wordsworth ausgesetzt sah, weil er die Französische Revolution und ihre demokratischen Ideale in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts unterstützte und dies mehr oder weniger 15 Jahre lang durchhielt.) Ganz allgemein ist eine solche Konzeption nicht in der Lage zu begreifen, wie dringend der gegenwärtige Zustand der Dinge umgestürzt werden muss.

Das Bestreben, den ideologischen Standpunkt von Künstlern der Vergangenheit zu "verbessern", ist auch insofern falsch, als es dazu tendiert, ihre Subversivität in ihren bewussten Anschauungen und nicht in ihren Werken zu suchen. Don Juan ist nicht einfach ein "Ausdruck" der Anschauungen und Gefühle Byrons; ein Werk, das einen Durchbruch schafft, entwickelt ein Eigenleben, der Künstler geht über sich heraus, steigert seinen Antagonismus zur der Gesellschaft auf ein Höchstmaß, übertreibt ihn, bringt ihn auf den Punkt und stürzt dabei in eine innere Krise.Wenn er das tut, dann zeichnet der Künstler nicht nur die Wahrheit seines eigenen Inneren, sein isoliertes Wesen auf, sondern er saugt die wichtigsten Emotionen und intellektuellen Forderungen aus der ihn umgebenden Atmosphäre auf und fügt sie seinem Werk hinzu.

Wenn der bedeutende Künstler solch ein "kommunzierendes Gefäß" ist, dann sollte man sich weniger für die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des Gefäßes, sondern mehr für die Reinheit und die Inhalte des Stromes interessieren, der es durchfließt.

Der Byronismus und mit ihm Byron verlor in revolutionären Kreisen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ziemlich an Sympathie. (Obwohl festgehalten werden muss, dass Trotzki im Mai 1924 in seiner Stegreifrede, die unter dem Titel Klasse und Kunst bekannt geworden ist, gegen die Unterdrücker der Kultur in der Sowjetunion als erste die Namen von "Shakespeare und Byron" einfallen.) Es ist verständlich, warum Byrons Werk und Leben einiges von seiner Anziehungskraft verloren haben. Byrons Kampf haftet etwas Utopisches, Führeifes und Vergebliches an, oder zumindest wurde es so aufgefasst. Das Wachstum der modernen Industrie und Produktion und eine sozialistische Massenbewegung der Arbeiter bedeuteten das Ende eines historischen Stadiums und seiner zeitbedingten Vorstellungen von Opposition und hatten diese Opposition im Kern in etwas ganz anderes umgewandelt.

Georgi Plechanow stellte in seinem Aufsatz über den norwegischen Autor Knut Hamsun, Doktor Stockmanns Geisteskind,ausdrücklich fest, dass der zeitgenössische "Byronsche Typus" seinen Hass jetzt nicht für die oben, sondern für die da unten reserviert hat. Warum, so fragt er, ist dieser soziale Typus entartet? "Weshalb sind die ,höherstehenden Menschen‘, die einmal den Despotismus gehasst und mit den freiheitlichen Bestrebungen der Völker mehr oder weniger symphatisiert haben, bereit, jetzt begeistert für die Despoten zu schwärmen und die Freiheitsbestrebungen der Arbeiterklasse in den Schmutz zu treten? Weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse von Grund auf verändert haben. Die bürgerliche Gesellschaft macht jetzt eine ganz andere Phase ihrer Entwicklung durch. Sie war noch jung als der echte (nicht entartete) ,Byronsche Typus‘ glänzte. Sie geht jetzt dem Verfall entgegen in einer Zeit, in der - wie eine neue Kupfermünze - der Nietzschetypus in seiner eigenen Art erstrahlt..."(23)

Dies ist ein wichtiges Argument, aber man sollte nichts durcheinanderbringen und Byron nicht für die Sünden seiner vermeintlichen ideologischen Nachfolger verantwortlich machen. Byron war ein unversöhnlicher Gegner jeglicher Reaktion in bezug auf die Institutionen seiner eigenen Zeit. Seine moralischen und intellektuellen Gleichgesinnten in Plechanows Zeit wären (oder waren) ebenso entschlossene Feinde in bezug auf ihre, was hieße, sie hätten ihre Byronsche Haut abgestreift. Diejenigen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer noch mit dem ungetrübten "Byronismus" herumspielten, haben wohl eher eine rückwärtsgerichtete Rolle gespielt.

Uns trennen heute mehr Jahre von dem Plechanow von 1909 als ihn von dem Tod Byrons 1824. Was einem neu erwachenden Interesse an Byron unter den heutigen Umständen entgegensteht, vermute ich, sind nicht so sehr die sozialen Veränderungen, die Plechanow anführt oder bestimmte archaische Ausdrucksweisen in der Sprache des Dichters, sondern eher der weit verbreitete Desillusionismus, Zynismus und die abgrundtiefe Korrumpiertheit, die die heutige Intelligenz erfasst haben. Es sind die Intensität und die Ehrlichkeit Byrons, die heute so fehl am Platze erscheinen.

Zu der Frage, welche Haltung zu diesem Dichter das heutige Lager der politischen Opposition einnehmen sollte, möchte ich zunächst sagen, ohne dieses Thema allzusehr auszubreiten, dass die sozialistische Bewegung auch eine ganze Reihe historischer Stadien durchlaufen hat. Gewisse Attribute, die vor 90 Jahren zu recht oder zu unrecht als überholt galten, könnten heute, auf einem höheren Stadium des historischen Prozesses durchaus wieder von Bedeutung sein. Revolutionärer Individualismus, echte Unabhängigkeit des Denkens, der Hass auf die Tyrannei in all ihren Formen, Entschlossenheit, die bestehende Ordnung, koste es was es wolle, anzugreifen - würde das Wiederauftauchen solcher Qualitäten in einem bedeutenden Teil der Bevölkerung einen Schlag gegen die Sache der Befreiung der Menschheit bedeuten? Das ist wohl kaum der Fall. Wir brauchen Byron, wie sich zeigt, mit seinem großen Genie und seiner großen Zerrissenheit mehr als es seine eigene Zeit tat.

Ich liebte nicht die Welt, die mich nicht liebt Doch will ich scheiden wie ein offner Feind. Ich glaub - obwohl ich sie nicht fand -, es gibt Hoffnung, die Wort hält, Wort, das Wahrheit meint, und Tugend, deren Mitleid nicht versteint, Die keine Netze für die Schwachen spinnt; Vielleicht gibt´s einen, der um andre weint, Zwei oder drei, die was sie scheinen, sind, Vielleicht ist Tugend mehr als Schall und Rauch, Glück mehr als Wind.

(Childe Harolds Pilgerfahrt, III. Gesang) (24)

Anmerkungen:

(1) Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 463. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10720 (vgl. MEW Bd. 2, S. 455f)]

(2) Eisler: Byron - Der Held im Kostüm., München 1999, S. 50

(3) ebd., S. 357(4) ebd., S. 551(5) ebd., S. 699(6) ebd., S. 12(7) ebd., S. 500(8) ebd. S. 489f(9) ebd., S.496(10) ebd. S. 545f(11) ebd. S. 15(12) Lord Byron: Briefe und Tagebücher, Neu herausgegeben von Leslie A. Marchand, aus dem Englischen von Tommy Jacobsen, Frankfurt, 1982, S. 342 (Der letzte Satz des Zitats ist dort nicht abgedruckt)(13) Eisler, a .a .O, S. 426 (14) Byron, George Gordon Lord: Sämtliche Werke, München,Winkler, o. J. Band II, S. 321(15) Rubinstein Annette: The Great Tradition in English Literature: From Shakespeare to Shaw, 1953; S. 504(16) Eisler: a .a. O., S. 476(17) Byron, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 523(18) ebd, Bd. II,, S. 7(19) Eisler, S. 628(20) Byron: Selected Prose; London, Penguin 1972, S. 489(21) Byron, Sämtliche Werke, Bd .II,, S. 316(22) Lord Byron: Briefe und Tagebücher, S. 307f(23) Plechanow, G. W.: Kunst und Lteratur, Berlin 1955, S. 950(24) Byron, Sämtliche Werke, Bd. I, S. 106
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