Leserbrief

Deutschland und die NATO

Das wsws erhielt den folgenden Leserbrief zum Artikel "Der Kosovokrieg, das nationale Interesse und die Rechtswendung der SPD", den wir zusammen mit der Antwort der Redaktion wiedergeben:

Lieber Herr Schwarz,

ich habe Ihre Analyse über den Kosovokrieg mit Vergnügen gelesen. Die vorherrschende Auffassung hier in Amerika lautet, die deutsche Teilnahme an der Bombardierung unter Führung der SPD sei ein Signal, dass die Außenpolitik des Landes jetzt unwiderruflich mit jener der USA und der NATO verbunden sei. Es scheint, dass die USA den Krieg mit dem Motiv entfesselt haben, die Außenpolitik der Europäer ihrer eigenen unterzuordnen - d.h. die Rolle der NATO zu bestätigen und die Entstehung einer unabhängigen europäischen Außenpolitik zu verhindern. Darin scheinen die USA Erfolg gehabt zu haben, zumindest teilweise.

Sie dagegen betrachten den Krieg als Schritt zur Wiederbelebung einer deutschen Außenpolitik auf der Grundlage des "nationalen Interesses" und des Antiamerikanismus. Sind sie der Ansicht, dass sich diese beiden Sichtweisen des Kosovokriegs gegenseitig ausschließen? Wie ist es möglich, dass die deutsche Beteiligung an einem amerikanisch geführten NATO-Krieg eine Wende zu größerer deutscher Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten signalisiert?

Ihr S.A.

* * *

Lieber Herr A.,

vielen Dank für Ihre Anfrage zu meinem Artikel über den Kosovo-Krieg und die SPD.

Sie stellen die Frage: "Wie ist es möglich, dass die deutsche Beteiligung an einem amerikanisch geführten NATO-Krieg eine Wende zu größerer deutscher Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten signalisiert?" Der in dieser Frage angesprochene Widerspruch löst sich auf, wenn man den Krieg in einem größeren politischen und historischen Zusammenhang betrachtet.

Seit Anfang der neunziger Jahre finden innerhalb der NATO intensive Auseinandersetzungen über ihre zukünftige Rolle und Strategie statt. Mit der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Zerfall der Sowjetunion hatte sie ihre ursprüngliche Aufgabe als territoriales Verteidigungsbündnis verloren. Der gemeinsame Feind war abhanden gekommen. Der Vorschlag, die Nato nach und nach aufzulösen und durch ein rein europäisches Militärbündnis zu ersetzen, wie er vor allem von Frankreich vertreten wurde, konnte sich damals allerdings nicht durchsetzen. Bereits im November 1991 beschloss die Konferenz von Rom, die NATO zu einem Interventionsinstrument umzubauen, das auch außerhalb des eigenen Territoriums tätig wird.

Die deutsche Regierung unterstützte diese Entscheidung, weil sie ihr die Möglichkeit bot, ihre eigenen Interessen auf internationaler Ebene aggressiver zu verfolgen. Nur zwei Monate nach der Entscheidung von Rom - im Januar 1992 - definierte sie die Aufgaben der Bundeswehr in einem Strategiepapier völlig neu. Sie sollte in Zukunft für die "Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität" und für die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen" sorgen. Bisher hatte die deutsche Verfassung - so die übereinstimmende Auffassung aller politischer Parteien - den Einsatz militärischer Gewalt nur zur Verteidigung gegen einen Angriff von außen erlaubt.

Die Umwandlung der Bundeswehr aus einer Verteidigungs- in eine Interventionsarmee stieß aber auf eine Reihe von Hindernissen.

Am leichtesten ließ sich das juristische überwinden: 1994 interpretierte das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz im Sinne des oben angeführten Strategiepapiers völlig neu und gab grünes Licht für internationale Militäreinsätze.

Als viel größeres Problem erwies sich das durch die Erfahrung zweier Weltkriege genährte Misstrauen der Bevölkerung. Um es zu überwinden, entschloss sich die Regierung für eine Salami-Taktik. Anfangs wurden nur Sanitätseinheiten in Konfliktgebiete geschickt (Kambodscha). Es folgten Truppen, die für Logistik (Somalia), das Räumen von Minen (Golf) und die Sicherung eines Friedensabkommens (Bosnien) zuständig waren. Erst im Kosovo-Krieg beteiligte sich die deutsche Luftwaffe erstmals direkt an Kampfhandlungen. Wesentliche Voraussetzung dafür war die Einbeziehung der SPD und der Grünen, die bisher den Protest gegen den Militarismus organisiert hatten, in die Regierungsverantwortung.

Das bisher größte Hindernis für internationale Einsätze der Bundeswehr ist technischer Natur. Die deutsche Armee verfügt - wie die europäischen Armeen insgesamt - nicht oder nur beschränkt über die modernen Waffensysteme, die für solche Einsätze erforderlich sind: Transportkapazitäten, Satellitenüberwachung und Lenkwaffen. Deren Anschaffung verschlingt Milliardenbeträge, die nur durch innenpolitisch riskante Kürzungen bei den Sozialausgaben aufzubringen sind.

Deutschland - und Europa insgesamt - sind daher für ihre eigene militärische Expansion auf die Unterstützung der Nato und die Zusammenarbeit mit den USA angewiesen. Die USA ihrerseits haben gegen ein verstärktes militärisches Engagement der Europäer nichts einzuwenden, solange es sich nicht gegen die USA selbst richtet. Die deutsche Teilnahme am Kosovo-Konflikt wurde weitgehend von solchen Überlegungen bestimmt.

Die Entscheidung, sich am amerikanisch geführten NATO-Krieg zu beteiligen, war deshalb kein "Signal, dass die Außenpolitik des Landes jetzt unwiderruflich mit jener der USA und der NATO verbunden ist", wie dies Ihrem Brief nach in den USA interpretiert wurde. Die Entscheidung entsprang vielmehr dem Wunsch, die militärische und politische Initiative nicht allein den USA zu überlassen. Hätte sich Deutschland nicht am Krieg beteiligt, wären erstens seine Bemühungen, die Bundeswehr entsprechend dem Strategiepapier von 1992 umzuwandeln und langfristig auf eigene Füße zu stellen, zurückgeworfen worden. Und zweitens wäre sein Einfluss auf dem Balkan, wo es über umfassende ökonomische und strategische Interessen verfügt, zurückgedrängt worden.

Im Verlaufe des Krieges sind die Spannungen zwischen Deutschland und den USA dann deutlich zutage getreten. Der stellvertretende US-Außenminister Strobe Talbott hat nach dem Krieg in einer BBC-Sendung sogar erklärt, dass "es zunehmend schwierig gewesen wäre, innerhalb des Bündnisses die Solidarität und Entschlossenheit zu bewahren", wenn der jugoslawische Präsident Milosevic nicht nachgegeben hätte.

Während sich die Vertreter der deutschen Regierung mit Kritik an den USA zurückhielten, äußerten sich andere Politiker wesentlich deutlicher. Bezeichnend war das Auftreten von Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1975 bis 1982, der in der Wochenzeitung Die Zeit einen Leitartikel unter der Überschrift "Die Nato gehört nicht Amerika" veröffentlichte. Darin warf er den Amerikanern vor, sie hätten "keine langfristig angelegte Gesamtstrategie" und würden "nur ihre Vorstellung von ihrer eigenen künftigen machtpolitischen und militärischen Weltrolle" verfolgen.

Dass die deutsche Außenpolitik das Ziel verfolgt, die Hegemonie der USA in der NATO einzuschränken, wird in der politischen Fachliteratur seit langem offen diskutiert. So erklärt z.B. Werner Link, Professor an der Universitär Köln, in der einflussreichen Zeitschrift Außenpolitik (Heft 2/1999) in einem Beitrag über die deutsche Außenpolitik, die Tendenz "zur Begrenzung amerikanischer Macht", zur "Gegenmachtbildung gegen einen Welthegemon bzw. gegen die negativen Wirkungen einer hegemonialen Position der USA" sei unverkennbar.

Ich hoffe, dass diese Zeilen Ihre Frage geklärt haben. Mehr Einzelheiten finden sie außerdem in folgenden Artikeln auf dem World Socialist Web Site.

Zu den Spannungen und Konflikten innerhalb der NATO:

Zum deutschen Militarismus:

Ihr Peter Schwarz

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