Zehn Jahre seit dem Fall der Mauer

Was wir damals schrieben

Heute vor zehn Jahren hat der Fall der Berliner Mauer das Ende der DDR eingeläutet. Sämtliche Medien veröffentlichen dazu Rückblicke und Sondersendungen. Doch kaum einer dieser Beiträge ist in der Lage, die tiefe Kluft zwischen den damaligen Hoffnungen nach einem besseren Leben und der heutigen bitteren gesellschaftlichen Realität zu erklären. Nicht so das World Socialist Web Site. Der Bund Sozialistischer Arbeiter, Vorgänger der Partei für Soziale Gleichheit, hat damals zahlreiche Artikel, Stellungsnahmen und Erklärungen zu den aktuellen Ereignissen verfasst, die die anschließende Entwicklung erstaunlich genau voraussahen. 1992 wurden sie in einem Sammelband unter dem Titel "Das Ende der DDR" veröffentlicht. Wir geben hier zwei Kapitel aus dem Vorwort - "Das Ende der DDR" und "Was nun?" - wieder.

Das Ende der DDR

Die Demonstrationen, die im Herbst 1989 die gesamte DDR wie eine Flutwelle überschwemmten, sind rückblickend oft als Revolution bezeichnet worden. Betrachtet man die hohe Zahl der Teilnehmer, die Tatsache, dass die Massen hier direkt in die Politik eingriffen und ein verhasstes Regime stürzten, so hat diese Bezeichnung eine gewisse Berechtigung. Hält man aber Ausschau nach den bewussten, zielstrebigen Elementen, nach den mutigen Anführern, den begabten Rednern und den Visionären, die noch jeder großen Revolution in der Geschichte ihr Gepräge gaben, so sucht man sie vergebens. Es war eine Revolution ohne Revolutionäre.

Was im Herbst 1989 mit elementarer Wucht zum Ausbruch kam, war der tiefe soziale Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und der herrschenden Bürokratenkaste. Alle Enttäuschungen und Demütigungen, die die Masse der Bevölkerung hatte schlucken müssen, die angestaute Wut und Unzufriedenheit machten sich Luft. Doch so reif die Lage für eine soziale Explosion war, so wenig war die Arbeiterklasse politisch darauf vorbereitet. Wie wenig sie ein politisches Ziel vor Augen hatte, zeigte schon die individualistische Form, in der die Bewegung anfing: einer Massenflucht in den Westen.

Es gab unter den Arbeitern der DDR noch nicht im Ansatz politische Strömungen, die der Bewegung hätten ein Ziel geben können. Die jahrzehntelange Unterdrückung jeder unabhängigen politischen Regung zeigte ihre Wirkung. Die Aktivitäten der Stasi hatten sich hauptsächlich gegen die Bedrohung des Regimes von seiten der Arbeiter gerichtet. Hinzu kam, dass die Bürokratie durch die systematische Verfälschung des Marxismus und seine Verwandlung in eine Staatsideologie die Arbeiterklasse ihrer eigenen politischen Traditionen beraubt hatte. Nur so ist es zu erklären, dass sich im Herbst 1989 Zufallsfiguren zu Wortführern der Bewegung aufschwangen, die ebensowenig in der Lage waren, die Dinge vorauszusehen, wie die Auswirkungen ihres eigenen Handelns zu verstehen.

Die Hauptakteure des Herbsts 1989 stammten ausnahmslos aus kleinbürgerlichen Schichten, es waren Künstler, Akademiker, Rechtsanwälte und vor allem evangelische Pfarrer. Einige von ihnen waren - wie die Sprecherin des Neuen Forums, Bärbel Bohley - schon früher mit dem Regime in Konflikt geraten und hatten deshalb einige Zeit im Gefängnis verbracht. Sie hatten aber kein zusammenhängendes Programm vorzuweisen; ihre oppositionelle Tätigkeit beschränkte sich auf Forderungen nach mehr individuellen Freiräumen, einseitiger Abrüstung und Umweltschutz. Die meisten Rechtsanwälte und Pastoren hatten dagegen über lange Zeit eine staatstragende Rolle gespielt. Sie waren - wie die Rechtsanwälte Wolfgang Schnur, Lothar de Maizière und Gregor Gysi - als Vermittler zwischen dem Staat und oppositionellen Kreisen tätig, oder sorgten - wie Manfred Stolpe - als Kirchenvertreter und Pastoren dafür, dass die Opposition nicht über den Rahmen des gesetzlich Erlaubten hinausging. Viele Rechtsanwälte und Pastoren betätigten sich dabei als Informanten für die Stasi und taten dies - wie sich später herausstellen sollte - auch weiterhin.

In organisierter Form trat die kleinbürgerliche Opposition vor dem Herbst 1989 nur vereinzelt als "Friedensinitiativen" in Erscheinung, die sich unter Obhut der Kirche zu Diskussionen und Gebeten trafen. Erst nachdem die Massenfluchtbewegung das SED-Regime bereits gründlich erschüttert hatte, schossen neue Parteien und Bürgerbewegungen wie Pilze aus dem Boden. Im September erschien die Böhlener Plattform "Für eine Vereinigte Linke", veröffentlichte das Neue Forum seinen Gründungsaufruf und meldete sich die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt erstmals zu Wort. Im Oktober folgten der Demokratische Aufbruch und die Sozialdemokratische Partei der DDR.

Die Gründungsdokumente all dieser Organisationen gehen nicht über vage Forderungen nach mehr Demokratie und einem "demokratischen Dialog" hinaus. Vom Willen zur revolutionären Veränderung findet man darin keine Spur. Um so lauter spricht dagegen der Schreck über das jähe Aufbrechen der dumpfen, spießigen DDR-Atmosphäre und die Angst vor den entfesselten sozialen Kräften aus jeder Zeile. So wird der Gründungsaufruf des Neuen Forums mit den Worten eröffnet: "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört." Und Demokratie Jetzt leitet ihre "Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR" mit dem Satz ein: "Das Ziel unserer Vorschläge ist es, den inneren Frieden unseres Landes zu gewinnen und damit auch dem äußeren Frieden zu dienen." Diese Aufrufe sind nicht revolutionär, sondern - im buchstäblichen Sinne des Wortes - konservativ, darauf ausgerichtet, das Bestehende zu erhalten. Die Forderung nach Reformen entspringt nicht dem Wunsch nach, sondern der Angst vor einer Revolution. Sie entspricht der sozialen Lage ihrer kleinbürgerlichen Verfasser, die bereit sind, sich mit der stalinistischen Diktatur über die Arbeiterklasse abzufinden, vorausgesetzt, diese gewährt ihnen selbst etwas mehr Spielraum.

Ihre Autorität verdankte die kleinbürgerliche Opposition weniger ihren eigenen Worten und Taten, als den wütenden Repressionsmaßnahmen, mit denen der Staat gegen sie vorging. Von Stasi und Vopo zu Märtyrern gestempelt, standen sie plötzlich an der Spitze einer Bewegung, die Millionen umfasste. Sie wussten damit nichts besseres anzufangen, als die Initiative so schnell wie möglich an die Regierung zurückzugeben. Kaum war Honecker am 18. Oktober zurückgetreten, bemühten sich das Neue Forum und die verschiedenen Bürgerbewegungen um eine Verständigung mit seinen Nachfolgern. In echt christlicher Nächstenliebe erteilten sie ihren Peinigern von gestern die Absolution und setzten sich mit ihnen an einen Tisch, um die revolutionäre Bewegung gemeinsam abzublocken. Mit ihrer Teilnahme am Runden Tisch und schließlich dem Eintritt in die Regierung Modrow warfen sie ihre gesamte Autorität in die Waagschale - und verspielten sie. Bei der Volkskammerwahl vom 18. März erhielten sie kaum mehr Unterstützung. Sie verschwanden wieder von der politischen Bildfläche und zogen sich in den Schmollwinkel zurück, bitter enttäuscht darüber, dass ihr Einsatz so wenig honoriert worden war.

Die Demokraten vom Herbst 1989 erwiesen sich in jeder Hinsicht als würdige Nachfolger der Demokraten von 1848, der Abgeordneten der Paulskirche, über die Engels einst so treffend schrieb: "Diese Versammlung alter Weiber hatte vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen." Auf ihre Leistungen trifft dasselbe Urteil zu, das Engels schon über jene ihrer historischen Vorgänger gefällt hatte: Sie können "mit Recht als Maß dessen genommen werden, wessen das deutsche Kleinbürgertum fähig ist - zu nichts anderem als dazu, jede Bewegung zugrunde zu richten, die sich seinen Händen anvertraut." [...]

Was nun?

Der Zusammenbruch der DDR, dem 1991 die Auflösung der Sowjetunion folgte, hat keine neue Blütezeit des Kapitalismus eingeleitet, wie die Prediger vom "Scheitern des Sozialismus" gerne weismachen möchten. Stattdessen sind weltweit alle ökonomischen, sozialen und politischen Gegensätze des Imperialismus, die bereits die erste Hälfte dieses Jahrhunderts zur gewalttätigsten Periode der menschlichen Geschichte gemacht haben, wieder aufgebrochen.

Wie wir bereits gesehen haben, wurde die Krise in der DDR und der Sowjetunion durch den Konflikt zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaat ausgelöst, der sich in den achtziger Jahren drastisch zuspitzte. Doch dieselben grundlegenden Veränderungen wirken sich auch auf die kapitalistischen Länder aus, die den Rahmen des Nationalstaats, den sie als Beschützer des Privateigentums benötigen, ebensowenig wie ihre stalinistischen Gegenstücke überwinden können. Die Bourgeoisie hat sich als völlig unfähig erwiesen, die Anforderungen der modernen Technologien und globalen Produktivkräfte mit dem Privateigentum und dem Nationalstaat in Einklang zu bringen.

Es mutet wie ein historischer Anachronismus an, dass ausgerechnet jetzt, wo Handel, Kapital und Produktion scheinbar jede Grenze gesprengt haben, überall neue Klein- und Kleinststaaten aus dem Boden sprießen, die vehement auf ihre Souveränität pochen. Kein Flecken ist zu klein, kein ethnisches, religiöses oder sprachliches Merkmal zu unbedeutend, als dass nicht der Anspruch auf eine eigene Nation und einen eigenen Staat daraus abgeleitet würde. Tatsächlich ist dies selbst nur ein Ausdruck des verschärften Kampfs um den Weltmarkt. Es ist der archaische Kampf von jedem gegen jeden, übersetzt in die Sprache der Rasse und der Nation. Das Ergebnis ist jenes blutige Gemetzel, das in Jugoslawien und Teilen der früheren Sowjetunion bereits in vollem Gange ist.

Aber nicht nur die neugeschaffenen Kleinstaaten, auch die großen imperialistischen Mächte treiben unaufhörlich auf neue Kriege zu. Die Spannung zwischen den Handelsblöcken, die sich um die USA, Japan und Deutschland gruppiert haben, verschärfen sich Monat für Monat. In den USA mehren sich die Stimmen, die offen einen Krieg gegen Japan fordern, um den Niedergang der amerikanischen Industrie zu stoppen. In Deutschland verlangen die Generäle seit dem Golfkrieg wieder offen den weltweiten Kriegseinsatz der Bundeswehr. Jeder regionale Konflikt wird zum Anlass scharfer Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten. Statt der versprochenen Abrüstung blüht der Militarismus auf.

In seinem Innern hat der Kapitalismus die Fähigkeit eingebüßt, durch soziale Zugeständnisse die Klassengegensätze zu dämpfen. Das einst so hoch gelobte "Modell Schweden" ist lautlos untergegangen. In Amerika, früher Symbol des kapitalistischen Fortschritts, hat die Kluft zwischen Arm und Reich noch nie dagewesene Ausmaße angenommen: jedes vierte Kind lebt unter der Armutsgrenze, Millionen haben kein Dach über dem Kopf, und in den Ghettos der Großstädte ist die Säuglingssterblichkeit höher als in den Armenhäusern Asiens. Rebellieren verarmte Arbeiter gegen diese Zustände, fällt - wie jüngst in Los Angeles - die Maske der Demokratie und die Bourgeoisie antwortet mit Ausnahmezustand, Polizeiterror und der Entsendung der Armee.

In den weniger entwickelten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist der Kapitalismus völlig unfähig, das Erbe des Kolonialismus zu überwinden und einen Ausweg aus der chronischen Armut zu weisen. Die Kredite an diese Länder sind völlig eingetrocknet, in den letzten Jahren haben die Banken wesentlich mehr aus ihnen herausgeholt als in sie hineingesteckt. Den Preis bezahlen die Massen durch unbeschreibliche Entbehrungen. Täglich sterben Zehntausende an Unterernährung.

Am drastischsten zeigt sich aber die Sackgasse, in welche die kapitalistische Gesellschaft geraten ist, in der ehemaligen Sowjetunion und den Ländern Osteuropas. Die Beseitigung der staatlichen Planung und die Zerschlagung des nationalisierten Eigentums hat zur Zerstörung von Millionen Arbeitsplätzen geführt; Erziehung, Altersfürsorge und medizinische Versorgung werden ebenso zerschlagen wie sämtliche kulturellen Errungenschaften. Das Elend, das für die wirtschaftlich rückständigsten Länder so kennzeichnend ist, taucht nun auch hier wieder auf. Die gestrigen Helden der "Demokratie" erweisen sich dabei als Gangster, die im Wettkampf mit der Mafia um die Abfallbrocken aus der Konkursmasse streiten.

In Deutschland hat die Wiedervereinigung das Ende der wirtschaftlichen und politischen Stabilität eingeläutet. Im Osten sind Industrieanlagen in einem Ausmaß zerstört worden, für das es selbst in Kriegszeiten keine historische Parallele gibt. Über fünf von zehn Millionen Beschäftigten haben ihren Arbeitsplatz verloren; die Jugend steht ohne Zukunft da. Alle sozialen Errungenschaften, die die Arbeiterklasse dem SED-Regime abgetrotzt hat, fallen dem Rotstift zum Opfer. Nachdem die deutsche Bourgeoisie wie eine Horde Barbaren über den Osten hergefallen ist, hat sie nun auch der Arbeiterklasse im Westen den Kampf angesagt. Die "Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West" soll, geht es nach dem Willen der Bourgeoisie, in der Weise stattfinden, dass auch im Westen der Lebensstandard auf das Ostniveau abgesenkt wird.

In welch auswegloser Lage sich die kapitalistische Gesellschaft befindet, zeigt sich auch auf ideologischem Gebiet. Nicht ein einziger intellektueller Vertreter der Bourgeoisie - ob Politiker, Philosoph oder Schriftsteller - hat heute eine ernsthafte Zukunftsperspektive anzubieten. Am freimütigsten hat dies wohl der tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel ausgesprochen, als er vor einer Versammlung von Unternehmern und Politikern in Davos verkündete, mit dem "Ende des Kommunismus" sei das "moderne Zeitalter" insgesamt abgeschlossen. Dieses Zeitalter habe mit der Renaissance begonnen und sei von dem Glauben beherrscht worden, "dass die Welt vollkommen erkennbar" sei und vom Menschen "in vernünftiger Weise zu seinem eigenen Nutzen gelenkt werden" könne. Nun sei das Zeitalter der "arroganten, absoluten Vernunft" zu Ende. "Die Haltung des Menschen zur Welt" müsse "radikal verändert" werden. Die "Eigenschaften, die der Politiker der Zukunft pflegen" solle, seien "Seele, individuelle Sinnlichkeit, persönliche Einsichten aus erster Hand, der Mut, sich selber zu sein und seinem Gewissen zu folgen, Demut angesichts der mysteriösen Ordnung des Seins, Vertrauen in dessen natürliche Entwicklung und, vor allem, Vertrauen in die eigene Subjektivität als wichtigstes Verbindungsglied zur Subjektivität der Welt". Das ist Mystizismus wie in den dunkelsten Tage des Mittelalters. Man fragt sich, ob in Prag nach den Statuen von Marx und Lenin nicht bald auch jene von Jan Hus, der 1415 als Aufklärer verbrannt wurde, vom Sockel gestürzt werden.

Was den Kapitalismus heute noch am Leben erhält, ist die Lähmung der Arbeiterklasse aufgrund des vollkommenen Bankrotts ihrer traditionellen Organisationen. Die Ereignisse in Osteuropa sind nur der schärfste Ausdruck einer umfassenden Krise der gesamten internationalen Arbeiterbewegung. Dieselben Prozesse, die in den letzten Jahren in den stalinistischen Organisationen stattgefunden haben - die restlose Preisgabe der elementarsten Errungenschaften der Arbeiterklasse, die Hinwendung zu einem rein kapitalistischen Programm und schließlich das Auseinanderbrechen der mächtigen Parteiapparate -, spielen sich auch in den sozialdemokratischen Parteien ab. Die SPD in Deutschland, die Labour Party in Großbritannien, die Sozialistische Partei in Frankreich, um nur einige zu nennen - sie alle verfolgen eine arbeiterfeindliche Politik, die von jener der traditionellen bürgerlichen Parteien nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Folge ist, dass ihnen Wähler und Mitglieder in Scharen davonlaufen. In Frankreich wurde die Sozialistische Partei bei den letzten Regionalwahlen zur Bedeutungslosigkeit reduziert; in Großbritannien hat die Labour Party 1992 zum vierten Mal in Folge die Unterhauswahlen verloren; und selbst in Deutschland, wo sich der Unmut über die Kohl-Regierung dem Siedepunkt nähert, verliert die SPD regelmäßig Wählerstimmen. Die Sozialdemokratie hat zu früh über den Zusammenbruch des Stalinismus triumphiert. Verdankte ihr dieser in den zwanziger Jahren seinen Aufstieg, so reißt er sie nun mit in den Abgrund.

Der Grund dafür liegt im Bankrott der nationalistischen Programme, auf die sich Stalinismus und Sozialdemokratie stützen. Seit dem Zweiten Weltkrieg bestand ihre Rolle darin, die Arbeiterklasse durch eine Reihe von Zugeständnissen mit dem System von Nationalstaaten zu versöhnen, das in den Abkommen von Jalta und Potsdam festgelegt worden war. Die stalinistische Bürokratie tat dies im Osten, indem sie deformierte Arbeiterstaaten errichtete, die sozialdemokratische im Westen, indem sie die Arbeiterbewegung möglichst weitgehend in den kapitalistischen Staat integrierte. In der Bundesrepublik schuf sie zu diesem Zweck eine Reihe korporatistischer Institutionen, wie die Mitbestimmung, dem Betriebsfrieden verpflichtete Betriebsräte und andere mehr. Zwischen SED und SPD bestand eine Arbeitsteilung, beide trugen auf ihre Weise zur Stabilisierung des Status quo bei. Das Aufbrechen scharfer Handelskriege hat es unmöglich gemacht, diese Politik weiterhin mit materiellen Zugeständnissen zu verbinden. Es hat den Einfluss von Sozialdemokratie und Stalinismus über die Arbeiterklasse vollkommen unterhöhlt.

Betrachtet man die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, so war sie trotz des relativ hohen Lebensstandards, den viele Arbeiter vorübergehend erreichten, eine Periode des Niedergangs und des Zerfalls. Die Vorherrschaft mächtiger Bürokratien über die Arbeiterbewegung verhinderte jede unabhängige politische Aktivität und erstickte die Entwicklung revolutionären Bewusstseins. Der Zusammenbruch dieser Bürokratien und die enorme Zuspitzung aller sozialen Gegensätze schaffen nun die Voraussetzungen für einen neuen revolutionären Aufschwung. Eine solche Entwicklung kann indessen nicht spontan erfolgen. Das lehren alle Erfahrungen der letzten Jahre, angefangen mit dem Solidarnosc-Aufstand in Polen bis hin zum Herbst '89 in der DDR. Sind sich die bewusstesten Teile der Arbeiterklasse nicht über ihre politischen Ziele im klaren, können die reaktionärsten und bankrottesten Kräfte aus dem Kleinbürgertum das politische Vakuum füllen.

Das Ende der DDR und seine katastrophalen Folgen, dies ist das Fazit dieses Buches, stellt die Arbeiterklasse erneut vor jene Aufgabe, an deren Lösung sie von der Sozialdemokratie und vom Stalinismus siebzig Jahre lang gehindert wurde: die Eroberung der politischen Macht und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft im Rahmen einer sozialistischen Weltrevolution. Der Kapitalismus lässt als Alternative nur den Rückfall in die Barbarei zu.

Das entscheidende Hindernis auf dem Weg zum Sozialismus ist die Krise der Führung der Arbeiterklasse, hervorgerufen durch die Verbrechen der Sozialdemokratie und des Stalinismus. Um sich politisch neu zu bewaffnen, muss sich die Arbeiterklasse die Lehren aus der Oktoberrevolution und ihrer stalinistischen Entartung aneignen. Von ihrer ganzen Geschichte und Tradition her ist nur die Vierte Internationale in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten.

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