Michigan, USA:

13-Jähriger wegen vorsätzlichen Totschlags schuldig gesprochen

Bittere Wahrheiten über einen widerwärtigen Gerichtsprozess

Der Schuldspruch gegen den 13-jährigen Nathaniel Abraham, den die Geschworenen des Bezirksgerichts von Oakland County in Pontiac (Michigan) am 16. November bekannt gaben, hat vielerorts heftige Reaktionen und nicht wenig Empörung ausgelöst. Auch beim World Socialist Web Site gingen zahlreiche Leserbriefe ein; eine Auswahl (in englischer Sprache) kann unter http://www.wsws.org/articles/1999/nov1999/corr-n23.shtml abgerufen werden. Mit dem Abraham-Prozess und seinem Ergebnis stellen sich recht wichtige Fragen über die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft.

Ausgangspunkt jeder ernsthaften Analyse sind für uns zwei Grundpositionen:

Erstens: Es war von vornherein abscheulich, dass Nathaniel Abraham überhaupt vor Gericht gestellt wurde, weil er im Alter von elf Jahren ein Gewehr abgefeuert hatte. Ein allgemeiner und ein besonderer Faktor hatten die Eröffnung dieses Verfahren ermöglicht: das dumpfe politisch-gesellschaftliche Klima sowie ein im Januar verabschiedetes Gesetz des Staates Michigan, wonach Kinder nach dem Erwachsenenstrafrecht angeklagt werden können. Dieser Versuch, die Gesellschaft um hundert Jahre zurückzuwerfen, sagt an sich schon genug über die amerikanische Gesellschaft sowie deren politisches und juristisches Establishment aus.

Zweitens: Abrahams Anwälte wiesen nach, dass die Beweislage noch nicht einmal für eine Mordanklage gegen einen Erwachsenen ausgereicht hätte, von einem Kind ganz zu schweigen. Die Tatumstände schlossen einen Tötungsvorsatz aus. Ronnie Greene starb infolge eines tragischen Unfalls. Sämtliche Juristen, die sich zu dem Fall äußerten, sogar die meisten Kommentatoren des Fernsehsenders, der den Prozess begleitete, hielten die Mordanklage für unberechtigt. Die Schwäche der Anklage lässt den Schuldspruch um so bedenklicher erscheinen.

Gewisse Faktoren wirkten zweifellos zugunsten der Anklage. Die Bevölkerung von Pontiac, Nathaniel Abrahams Wohnort, kam aus Gründen der Gerichtsbarkeit für eine Beteiligung an der Jury weitgehend nicht in Frage. Große Teile der schwarzen und ärmeren arbeitenden Bevölkerung konnten daher nicht an der Entscheidung über sein Schicksal mitwirken.

Der Schuldspruch war auch nicht repräsentativ für die öffentliche Meinung in Pontiac, einer Autostadt nahe Detroit. Viele Gebiete in Oakland County außerhalb Pontiacs sind vergleichsweise wohlhabend. Und wie überall in den USA ist die Bevölkerung seit zwei Jahrzehnten mit rechtsgerichteter Propaganda nach dem Motto "weniger Steuern, mehr Gesetz und Ordnung" bombardiert worden.

Hinzu kamen wohl noch mehr oder weniger zufällige Faktoren. Der Anwalt der Verteidigung, Geoffrey Fieger, äußerte gegenüber der Presse, dass zumindest ein Geschworener von vornherein eine politisch rechts stehende Zielsetzung verfolgte, die er auf jeden Fall erreichen wollte. Das ist sehr wohl denkbar. Abraham hatte es womöglich mit einer für ihn besonders ungünstigen Jury zu tun.

Dennoch bildeten die Geschworenen insgesamt einen Querschnitt durch die Bevölkerung, zumindest durch eine bestimmte Schicht. Sie enthielt Lehrer, Angehörige höherer Berufsklassen, Pensionäre usw. Einige hatten Unbehagen geäußert, dass ein Kind abgeurteilt werden solle. Die lange Dauer ihrer Beratungen deutet darauf hin, dass es zumindest gewisse Meinungsverschiedenheiten gegeben hat.

Wie also soll man ein derart brutales und unmenschliches Ergebnis erklären? Wie konnte eine Jury, die nicht aus Ungeheuern bestand, einen so ungeheuerlichen Spruch fällen?

In Sidney Lumets Film 12 Angry Men ("Die zwölf Geschworenen") von 1957 versucht ein Geschworener (gespielt von Henry Fonda) die anderen elf davon abzubringen, einen Jungen so rasch wie möglich für schuldig zu sprechen. Fonda argumentiert von einem liberalen Standpunkt aus leidenschaftlich gegen Sozialdarwinismus, ordnungs- und rechtsfanatische Rachsucht und alle möglichen Vorurteile. In Lumets Film setzt sich der Held am Ende durch.

Einige Episoden dieses Films erschienen zwar recht weit hergeholt, doch die Möglichkeit eines positiven Ausgangs war nicht aus der Luft gegriffen. Die Bürgerrechtsbewegung war bereits ebenso im Kommen wie eine starke Bewegung gegen die Todesstrafe, und der Sozialreformismus, dem auch die Gewerkschaften noch lose anhingen, stellte eine einflussreiche Tendenz im amerikanischen Leben dar.

Der Spruch im Fall Nathaniel Abraham muss letztlich mit den Veränderungen erklärt werden, die sich im gesellschaftlichen Leben Amerikas vollzogen haben, und mit den Problemen im Denken sehr vieler Menschen. Seit zwanzig Jahren wird die Bevölkerung der USA von den Medien und dem politischen Establishment wie eine Stopfgans mit reaktionärem Einheitsfraß zwangsgemästet. Militarismus, Chauvinismus, der Kult des freien Marktes, die Heiligsprechung der Selbstsucht - all dies blüht und gedeiht. Die Leute werden täglich gemahnt, dass das Individuum und sein Weg zum finanziellen Erfolg das einzige sind, was wirklich zählt.

Diese Verpestung der ideologischen und moralischen Atmosphäre in den Betrieben, Schulen und anderswo ging mit der Verbreitung einer heuchlerischen und hohlen Frömmigkeit in den offiziellen Kreisen einher. Politiker, die mit ultrarechten Fanatikern kungeln und sich von Großunternehmen aushalten lassen, predigen jenen Millionen, die sich wirtschaftlich immer mehr nach der Decke strecken müssen, eifrig "christliche Werte".

Zugleich haben viele der einstmaligen Sozialreformer in der Demokratischen Partei sowie in liberalen oder radikalen Kreisen, die im großen und ganzen reich und behäbig geworden sind, eine deutliche Wende nach rechts vollzogen. Immerhin ist auch der offizielle Vertreter der Humanität in Amerika jener stets mitfühlende Bill Clinton, der das soziale Sicherungssystem zerstört sowie Iraker und Serben bombardiert.

Diese Vorgänge sind nicht ohne Wirkung geblieben. Das Spektrum der offiziellen amerikanischen Politik ist, sofern überhaupt erkennbar, außerordentlich schmal. Um es mit Dorothy Parkers Worten zu sagen, wir haben die ganze Vielfalt der Meinungen von A bis B. Die Demokraten und Republikaner stellen in politischer Hinsicht eine Partei, nämlich die Partei der wohlhabenden Elite dar. Gleichgültigkeit gegenüber der Lage der Bevölkerungsmasse, sowohl innerhalb der USA als auch im Ausland, ist offizielle Regierungspolitik. Das Justizsystem, vom Obersten Gerichtshof abwärts, weckt in seiner Wirkungsweise Erinnerungen an das Mittelalter. Einige dieser Richter und Ankläger werden nicht rasten und nicht ruhen, bis Auspeitschen, öffentliche Hinrichtungen, Hängen und Vierteilen wieder eingeführt werden.

Die politische Atmosphäre bestimmen rechte Binsenweisheiten, die von den Massenmedien weder kritisiert noch jemals in Frage gestellt werden. Jedem gesellschaftlichen Übel begegnet man mit dem rituellen Verweis auf die "Eigenverantwortung".

Auch die Geschworenen im Abraham-Prozess standen eindeutig unter dem Einfluss solcher Ideen. Nach der Entscheidung erklärte ihr Sprecher Daniel Stolz gegenüber der Presse, man habe sich den Standpunkt der Anklage zu eigen gemacht, dass zwischen dem Denken eines Kindes und jenem eines Erwachsenen keine gravierenden Unterschiede bestünden - woraus folgt, dass Nathaniel Abraham, der sich zum Zeitpunkt des Unglücks auf dem geistigen Entwicklungsstand eines Sechs- bis Achtjährigen befand, die Verantwortung für sein Handeln übernehmen müsse.

Stolz vor einer Pressekonferenz: "Da stand Ronnie Greene... Das Gewehr hebt sich nicht von allein. Er musste zielen und abdrücken, und dies ist eine vorsätzliche Tat."

Abgesehen von der absurden Gleichsetzung eines versehentlichen Abdrückens mit der vorsätzlichen Tötung eines Menschen, die erst einmal über jeden begründeten Zweifel hinaus bewiesen werden müsste, bevor die juristische Definition des vorsätzlichen Totschlags erfüllt wäre, formuliert Stolz hier eine ganz bestimmte Einstellung. Nach dieser Haltung spielen die Gesellschaft und die sozialen Umstände keine prägende Rolle für das menschliche Handeln. Jeder ist ein ungebundenes Atom und kann sich jederzeit einfach so benehmen, wie der angesehene, gesetzestreue Bürger mit eben dieser Einstellung. Das ist die Art und Weise, wie die Wohlsituierten denen ganz unten Moral predigen.

Um so schlimmer, dass es arbeitende Menschen gibt, die auf dieses Argument hereinfallen und sagen: "Nun, ich lebe auch in Armut, und doch habe ich noch nie auf jemanden geschossen." Natürlich greift nicht jeder, der in Nathaniel Abrahams Lage steckt, nach einem Gewehr und drückt ab. Doch das soziale Elend in Pontiac und der Mangel an Hilfeleistungen für jene, die wirtschaftlicher oder psychologischer Unterstützung bedürfen, sorgen garantiert dafür, dass einzelne unter den Schwächsten irgendwann einmal so etwas tun. Die heutige soziale Lage in Amerika wird immer wieder solche Tragödien hervorbringen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Doch damit bleiben noch Fragen offen. Nichts deutet darauf hin, dass die Mehrheit der Bevölkerung insgesamt, oder auch nur die Mehrheit der Geschworenen in Pontiac rechten und rachsüchtigen Einstellungen anhinge. Weshalb hat sich in diesem Fall das rückschrittlichste Denken durchgesetzt?

Die Briefe an das wsws legen nahe, dass die Opposition gegen den Schuldspruch, so aufrichtig und von Herzen kommend sie sein mag, im großen und ganzen nicht das Niveau eines bewussten gesellschaftlichen Standpunkts erreicht. Ihr fehlt die Perspektive. Instinktiv empfinden viele Menschen Entsetzen über den Ausgang des Verfahrens und über Nathaniel Abrahams Schicksal. Doch sie wissen selbst nicht recht, wie sie die Sache verstehen sollen. Mit wenigen Ausnahmen verfügen sie noch nicht über die geistigen und politischen Waffen, mit denen man dem rechten Flügel entgegentreten könnte.

Dieses Dilemma hängt eng mit der Ohnmacht und dem Bankrott des Liberalismus zusammen. Demokraten wie Clinton, Jesse Jackson und Ted Kennedy, reich und korrupt, predigen jenen Millionen, die immer schwerer über die Runden kommen, allgemeine Brüderlichkeit und Toleranz. Wer diese Problematik nicht kritisch durchdenkt, dem erscheint es einfach so, als ob die Anstrengungen zur Bekämpfung der Armut in den sechziger Jahren ebenso wie das Sozialstaatssystem und überhaupt jegliche Versuche zur Sozialreform von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wären. "Die Lage ist schlimmer als vorher, aber die Steuern sind höher, und was ist dabei herausgekommen?"

Das Scheitern der staatlichen Bemühungen um eine Verbesserung der Dinge wird dann gegen die Auffassung ins Feld geführt, dass die Quelle von Verbrechen, Jugendstraffälligkeit und einer Vielzahl weiterer Übel letztlich in der Gesellschaft liegt. Die sozialen Umstände, heißt es, ließen sich eben nicht verbessern, also müsse das Problem anderswo liegen. Wo? Hier sind reaktionäre Ideologen mit Antworten rasch zur Hand, man denke nur an die "Bell Curve"-These, wonach die Armen genetisch minderwertig sind, oder das "bad seed"-Argument, wonach einige Menschen eben einfach böse auf die Welt kommen.

Doch der Liberalismus scheiterte nicht daran, dass der "Krieg gegen die Armut" verloren gegangen wäre, sondern daran, dass er niemals ernsthaft geführt wurde. Die sozialreformistischen Bemühungen seitens des politischen Establishments in den USA blieben bestenfalls eine Kette von Halbherzigkeiten. Die Maßnahmen zielten nicht auf eine Veränderung der von Grund auf ungerechten und irrrationalen ökonomischen Beziehungen in der Gesellschaft ab, sondern sollten im Gegenteil Protesten und Aufständen gegen diese Beziehungen den Wind aus den Segeln nehmen.

Neben dem Rückgriff auf diverse sozialdarwinistische Klischees beobachten wir die Neigung, leichte, pragmatische, rasch wirksame Lösungen auf komplexe Probleme zu bemühen: Bei vielen Gewalttaten sind Waffen im Spiel - daher führt die liberale Seite des politischen Establishments schärfere Waffengesetze als Allheilmittel an. Kriminalität ist eine brennende Frage - daher, da sind sich praktisch alle Politiker einig, muss der Staat so viele Menschen wie möglich so lange wie möglich wegschließen. Die "Kriminellen" werden immer jünger - also fordert die Law-and-Order-Lobby, ohne seitens des liberalen Establishments auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, die Senkung des vollen Strafmündigkeits-Alters bei Kindern.

Sei es aus geistiger Trägheit oder Ratlosigkeit, die Komplexität der Probleme wird beiseite geschoben. Jahrzehnte der Regierungspropaganda und des künstlichen Werbegegackers, die offizielle Kultur des Konformismus und der Oberflächlichkeit haben zu einem allgemeinen Niedergang des intellektuellen Niveaus geführt. Breiten Schichten der Bevölkerung bereitet es Mühe, einen Prozess oder ein Phänomen eigenständig zu überdenken oder zu analysieren. Der Spruch der Geschworenen im Abraham-Fall war unter anderem auch ein klägliches Scheitern kritischen Denkens.

Selbst einige Leute, denen Nathaniel Abraham leid tut und die sich über die Law-and-Order-Fanatiker aufregen, scheinen nicht abgeneigt, ihre Hände letztlich in Unschuld zu waschen: "Was soll man mit solchen Kids auch anderes anfangen?" Jeglicher ernst gemeinte Ansatz, jugendliche Straftäter zu behandeln und zu rehabilitieren, ist in den USA im wesentlichen aufgegeben worden.

Ist es nicht auffallend, dass es in einem Land, das gerade den größten Profit- und Aktienboom seiner Geschichte feiert und dessen Politiker sich des Abbaus aller Defizite rühmen, keine Gelder gibt für psychologische Einrichtungen, für Erziehungsberatung und -hilfen, für Kinderbetreuung und überhaupt für das Wohlergehen der Bevölkerung? Liegt es denn so fern, sich eine andere gesellschaftliche Organisationsform vorzustellen, in der die offenkundig vorhandenen Ressourcen zur Befriedigung dringender gesellschaftlicher Bedürfnisse verwendet werden?

All dies muss man bedenken, wenn man die Entscheidung der Geschworenen im Abraham-Prozess bewertet. Es ist schwer, mit den Folgen der sozialen Verrohung umzugehen, wenn die Medien und die Politiker eine groteske Ungleichheit und Armut als gegeben hinnehmen und es keine Arbeiterbewegung mit Massenbasis gibt, die sich eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft zum Ziel setzt, ja noch nicht einmal eine aktive Stimme des organisierten liberalen Protests. Denn auffallend an dem Abraham-Prozess war auch, dass keine der etablierten Bürgerrechtsgruppen wie etwa die NAACP bundesweit gegen die Anklage protestierte oder mobilisierte.

Einmal angenommen, einzelne Geschworene bedrückte Abrahams Lage - wie konnten sie in konsequenter Opposition gegen die Rechten bleiben, die darauf beharrten, dass er als Schuldiger zur Verantwortung gezogen werden musste, und es ablehnten, den Hintergrund des Jungen in ihre Überlegungen einzubeziehen? Irgendwann müssen sie es einfach aufgegeben haben.

Der Schuldspruch in Pontiac, eine persönliche Tragödie für Nathaniel Abraham und seine Familie, unterstreicht die Dimension des politischen und ideologischen Kampfes, den man in den USA führen muss. Doch die objektiven Voraussetzungen für ein Wiederaufleben des kritischen, revolutionären Denkens und für eine Massenbewegung gegen das Profitsystem reifen heran. Manches deutet auf eine Veränderung im Empfinden der Massen hin: wachsende Opposition gegen die Todesstrafe, ablehnende Reaktionen auf das rechtsgerichtete Treiben des Kongresses unter den Republikanern, Abwendung von beiden Parteien des Big Business. Bislang ist die Opposition gegen die Zustände noch überwiegend passiv, doch auch das wird sich ändern.

Siehe auch:
Geschworene sprechen den 13-jährigen Nathaniel Abraham des vorsätzlichen Totschlags schuldig
(19. November 1999)
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