Der Niedergang der SPD

Am kommenden Freitag erscheint die November/Dezember- Ausgabe des Magazins gleichheit. Wir geben an dieser Stelle das editorial wieder.

Der Vertrauensverlust, den die Koalition von SPD und Bündnisgrünen in ihrem ersten Regierungsjahr erlitten hat, ist in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik einmalig. Verheerende Niederlagen bei den Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen, Woche um Woche Demonstrationen von Beschäftigten des öffentlichen Diensts, des Gesundheitswesens, von Rentnern, Arbeitslosen und Bauern in der neuen Hauptstadt Berlin - deutlicher könnte wohl nicht werden, wie sehr es dieser Regierung gelungen ist, sich in wenigen Monaten vollständig zu diskreditieren.

Was sind die Ursachen dafür? Handelt es sich um eine konjunkturelle Erscheinung oder um eine langfristige Tendenz? Bedeutet das Ende des 20. Jahrhunderts, das von einigen als "sozialdemokratisches Jahrhundert" bezeichnet wurde, auch das Ende der Sozialdemokratie?

Antworten, die das Problem lediglich auf das "äußere Erscheinungsbild" der Regierung zurückführen, sind kaum ernst zu nehmen. Sie stammen von Journalisten, Wirtschaftssprechern und Politikern, die im vergangenen Jahr begeistert von Schröders Kurs der "neuen Mitte" schwärmten, dann beleidigt feststellten, dass die SPD die Wahl vor allem aufgrund ihrer sozialen Versprechungen gewann, und seither der Regierung unermüdlich vorwerfen, dass sie ihre Wahlversprechen nicht schnell genug gebrochen habe. Sie halten die Wähler für eine verdummte, grenzenlos manipulierbare Masse und reduzieren jede politische Frage auf ein PR-Problem.

Wer die Enttäuschung von Wählern, die von der neuen Regierung mehr soziale Gerechtigkeit erhofft hatten, für den Niedergang von SPD und Grünen verantwortlich macht, kommt der Wahrheit schon näher. Zum Wortführer einer solchen Auffassung hat sich nach seinem Rückzug vom Amt des Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine aufgeschwungen, der seinem Nachfolger Gerhard Schröder vorwirft, er habe die SPD auf einen Holzweg geführt und nicht verstanden, "womit und warum wir die Bundestagswahlen gewonnen haben". Es fällt ihm allerdings schwer zu erklären, warum er Schröder so lange unterstützt hat und auf die neue Erkenntnis nur durch den Rückzug aus allen politischen Ämtern zu reagieren wusste.

Dass Lafontaine den Finger dennoch auf einen wunden Punkt legt, zeigt eine Studie des CDU-nahen Allensbach-Instituts. Sie gelangt zum Schluss, es könne keine Rede davon sein, "dass klassische sozialdemokratische Leitideen in der Bevölkerung aus der Mode gekommen sind. Ein starker fürsorglicher Staat, ein weit ausgebautes soziales Netz und Gleichheitsideale haben in der Bevölkerung einen hohen Stellenwert... Eine relative Mehrheit ist überzeugt, dass sich ein Land besser entwickelt, in dem nicht nur Chancengleichheit gewahrt wird, sondern das auch nach Gleichheit im Ergebnis strebt. Die wachsende Kritik an der Regierung ist daher nicht darauf zurückzuführen, dass die klassischen sozialdemokratischen Konzepte in der Bevölkerung an Anziehungskraft verloren hätten."

Aber auch Lafontaines Erklärung gibt letztlich keine Antwort auf die tieferen Ursachen für den Niedergang der SPD. Er unterstellt, dass eine Rückkehr zu den Wahlversprechungen des vergangenen Jahres oder zur Politik der ersten Regierungsmonate die Krise beheben würde. Für ihn beschränkt sich das Problem auf die Verteidigung der Programmatik der SPD, als deren Sachwalter er sich gibt, während er Schröder vorwirft, er sei ins Lager des Neoliberalismus desertiert. Die Frage, wie weit Schröder selbst ein Produkt der sozialdemokratischen Programmatik ist, stellt sich für ihn gar nicht. Betrachtet man die Krise der SPD im Lichte ihrer Geschichte, dann wird schnell deutlich, wie trügerisch seine Vorstellungen sind.

Am Ausgang des letzten Jahrhunderts wurde die SPD von einem Streit erschüttert, der für ihre weitere Entwicklung ausschlaggebend sein sollte. Er ging unter dem Namen "Revisionismusdebatte" in die Geschichte ein. Es ging um die Frage, ob die Aufgabe der Sozialdemokratie (in den Worten Rosa Luxemburgs) "in einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung" oder "in einem Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung" bestehe.

Theoretisch befanden sich die Revisionisten, die für eine Versöhnung mit der bestehenden Ordnung eintraten, in der Minderheit. Sie wurden auf Parteitagen regelmäßig überstimmt. Aber die Praxis der Partei arbeitete zu ihren Gunsten, so dass sie schließlich die Oberhand gewannen. Die Praxis der SPD bewegte sich zwangsläufig im Rahmen der bestehenden Ordnung. Im Wilhelminischen Reichs bot sich nie die Gelegenheit, mit stürmischem Vorstoß ein Hindernis zu stürzen oder eine feindliche Position zu erobern. Sie beschränkte sich darauf, in zäher Kleinarbeit den Einfluss der Partei zu erweitern. Das prägte ihren Charakter und vor allem die Psychologie ihres rasch wachsenden Funktionärskörpers.

Als sie dann 1914 durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs jäh vor die Alternative gestellt wurde, ihre politischen Grundsätze zu verteidigen und gegen den Krieg Front zu machen oder sich an die Kriegseuphorie anzupassen, entschied sie sich für Letzteres: Sie stimmte für die Kriegskredite. Die Reichtagsfraktion begründete das mit den Worten: "Es gilt, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich." Die "Kultur" - das war damals der preußische Militärstiefel; die "Unabhängigkeit" - das waren Franzosenhass und Kolonialbesitz; das "Vaterland" - das waren Krupp, AEG und die Deutsche Bank.

Ernüchtert durch den Krieg, brachen in den folgenden Jahren Millionen von Arbeitern mit der SPD und wandten sich der KPD zu, von der sie die Aufhebung der kapitalistischen Ordnung erwarteten. Sie wurden bitter enttäuscht, als die KPD in den Sog der Degeneration der Sowjetunion geriet und unter dem wachsenden Einfluss des Stalinismus kläglich versagte.

Die SPD ihrerseits ließ nicht mehr von der "Verteidigung des Vaterlands" ab. Eine Mischung aus Patriotismus, Autoritätsgläubigkeit und Ordnungsliebe prägte fortan ihr Gesicht, gepaart mit einer panischen Angst vor jeder Einmischung der Massen von unten. Der Vorwurf, sie habe den kämpfenden Heeren im Weltkrieg einen "Dolchstoß" von hinten versetzt, berührte sie weit stärker als die Empörung der hungernden Massen. Sie ging so weit, dass sie mit Reichswehr und Freikorps paktierte, um die revolutionären Erhebungen der Nachkriegszeit niederzuschlagen und deren Führer zu ermorden. Ihre soziale Basis bildeten Beamte, Angestellte und besser gestellte Arbeiter, die sich mit Staat und Vaterland identifizierten und jede Erschütterung der bestehenden Ordnung als Bedrohung empfanden.

Auf den Aufsteig der Nazis reagierte die SPD, indem sie sich noch stärker an den Staat klammerte. Sie unterstützte Brünings Notverordnungen und die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, der dann Hitler zum Kanzler ernannte. "Eine Massenpartei, die Millionen hinter sich herführt, behauptet, dass die Frage, welche Klasse im heutigen, bis ins Innerste erschütterten Deutschland an die Macht gelangen werde, nicht von der Kampfkraft des deutschen Proletariats abhängt, nicht von den faschistischen Sturmabteilungen, auch nicht von der Zusammensetzung der Reichswehr, sondern davon, ob der reine Geist der Weimarer Verfassung (mit der notwendigen Menge Kampfer und Naphthalin) sich im Präsidentenpalast niederlasse," kommentierte Trotzki damals die Haltung der SPD.

Die Partei diskreditierte sich so stark, dass nach dem Krieg selbst die Alliierten ihren erneuten Aufstieg für unwahrscheinlich hielten. "Viele deutschen Arbeiter machen offenbar die Beschwichtigungspolitik der Sozialdemokraten während der Weimarer Republik für den Aufsteig der Nazis haftbar und scheinen aus diesem Grunde deren Rückkehr an die Macht nicht zu begrüßen," hieß es z.B. 1944 in einem Papier der amerikanischen Regierung.

Die Alliierten hatten allerdings nicht mit der Hartnäckigkeit der SPD gerechnet, verkörpert vor allem in der Person ihres ersten Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher, der sich, invalid und von zehn Jahren KZ-Haft gezeichnet, unter Aufopferung seines Lebens für den Wiederaufbau der Partei einsetzte. Schumacher, ein leidenschaftlicher Patriot und Antikommunist, verstand sich als Sachwalter deutscher Interessen gegen die Alliierten. Er trug entscheidend dazu bei, dem deutschen Staat nach der Kriegsniederlage wieder auf die Beine zu helfen und soviel wie möglich vom alten Reich zu retten. Er verhinderte jede Annäherung von SPD und KPD, bekämpfte die Verlegung der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße und setzte sich für eine "starke, zentrale Reichsgewalt" ein.

Nutznießer seiner Arbeit waren vorerst die Konservativen, die mit Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger die ersten drei Bundeskanzler stellten. Erst in den sechziger Jahren zog auch die SPD, getragen von einer Protestwelle der Jugend und der Arbeiterklasse, erstmals in die Regierung ein: 1966 als Juniorpartner der Union in die Große Koalition, 1969 mit Willy Brandt als Kanzler in die kleine Koalition mit der FDP.

In der Ära Brandt kam die SPD dem Ziel einer sozialen Marktwirtschaft, eines sozial gebändigten Kapitalismus, das sie inzwischen auf ihre Fahne geschrieben hatte, wohl am nächsten. Löhne und Sozialleistungen stiegen an, der staatliche Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich wurde ausgebaut, die rebellische Jugend fand Beschäftigung im öffentlichen Dienst und breitere Schichten erhielten Zugang zur Universität. Die Sorge um staatliche Autorität und Ordnung beherrschte aber auch in dieser Zeit das Denken der SPD: Das zeigte sich an ihrer Zustimmung zu den Notstandsgesetzen und am Erlass von Berufsverboten für "Radikale" im öffentlichen Dienst.

Rückblickend betrachtet war diese Periode in mehrerlei Hinsicht eine Ausnahmesituation. Zum einen war die Verbesserung der sozialen Lage der unteren Bevölkerungsschichten weniger auf die Initiative der SPD zurückzuführen, als auf eine internationale Offensive der Arbeiterklasse, der sich in anderen Ländern auch konservativere Regierungen nicht widersetzen konnten. Zweitens erfolgte sie am Ende eines Nachkriegsbooms, von dem vor allem die Unternehmen profitiert hatten. Es bestanden daher Verteilungsspielräume, die nicht unmittelbar die Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft gefährdeten.

Mit dem Einsetzen einer internationalen Rezession wurden Anfang der siebziger Jahre die Rufe nach einer Beendigung dieser Politik unüberhörbar. Die SPD fügte sich. Brandt, der sich unfähig erwies, die von ihm hervorgerufenen Erwartungen zu bändigen, wurde 1975 durch Helmut Schmidt abgelöst. Schmidt schlug einen scharfen Sparkurs ein und trieb die Arbeitslosigkeit in die Höhe - eine Politik, die von der CDU unter Helmut Kohl ab 1982 fortgeführt wurde. Das Ergebnis sind über vier Millionen Arbeitslose, die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und die Anhäufung von skandalösem Reichtum an der Spitze der Gesellschaft.

Unter dem Vorsitz Lafontaines ist es der SPD noch einmal gelungen, das weitverbreitete Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit auf ihre Mühlen zu lenken. Das war der Grund für ihren Wahlsieg im vergangenen Jahr. Aber die Erwartung, dass damit eine Rückkehr zur Reformpolitik der frühen siebziger Jahre verbunden sei, war von vornherein auf Sand gebaut. Die internationalen Rahmenbedingungen haben sich seit der Ära Brandt grundlegend verändert. Das wirtschaftliche Leben wird von transnationalen Konzernen und Finanzinstitutionen beherrscht, die auch dem politischen Leben ihren Stempel aufdrücken.

Dieser geballten Macht des Kapitals hat die traditionelle sozialdemokratische Reformpolitik nichts entgegenzusetzen. Um ihr die Stirn zu bieten, ist es nötig, die Masse der Bevölkerung gegen die vorherrschenden Macht- und Besitzverhältnisse zu mobilisieren. Dazu ist eine Partei wie die SPD, die sich seit Jahrzehnten der Verteidigung der bürgerlichen Ordnung verschrieben hat, weder willens noch fähig.

Die gegenwärtige Krise der SPD ist so Ausdruck der Tatsache, dass der Weg, den sie vor 85 Jahren eingeschlagen hat, seinen Endpunkt erreicht hat. Lafontaine erhebt zwar viele berechtigte Vorwürfe gegen Schröder, aber auch seine eigenen Vorstellungen bewegen sich ganz im Rahmen traditioneller sozialdemokratischer Politik. Ihn treibt die Furcht, dass, wie er schreibt, "radikale Parteien Zulauf erhalten", wenn die sozialdemokratischen Regierungen Europas dem Neoliberalismus nichts entgegenstellen.

Für die Arbeiterklasse ergibt sich aus dem Niedergang der SPD die Aufgabe, eine neue politische Partei aufzubauen, die sich auf die internationalistischen und sozialistischen Prinzipien stützt, die die SPD vor hundert Jahren aufgegeben hat.

Siehe auch:
Die Lafontaine-Debatte
(13. Oktober 1999)
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