"Nichts als die Wahrheit"

Ein Versuch über deutsche Gegenwart

Nichts als die Wahrheit heißt der neue deutsche Film von Roland Suso Richter, der zuerst auf dem 47. Filmfestival von San Sebastian in Spanien gezeigt wurde. Auch in Deutschland hat er zu heftigen Kontroversen geführt.

Das Urteil der spanischen Presse reichte von "Eine gewaltige Verurteilung des Nazismus" ( El Mundo) bis zu "ein nichtiger Schwindel", der "letztlich das verteidigt, was er anzugreifen beabsichtigt" ( El Pais). "Nichts als die Wahrheit" ist ein kühner Film", anerkennt in Deutschland Die Zeit, während der Berliner Tagesspiegel in ihm "eine gefährliche Verklärung" sieht. Die PDS-nahe Zeitung Neues Deutschland übertitelt ihre Kritik mit "Alles außer der Wahrheit", die taz bescheinigt dem Regisseur "einen erstaunlichen politischen Mut", und das politische Magazin Focus zieht das Fazit "packend inszenierter Justiz-Thriller mit brillanten Darstellern und eingebauter Garantie für kontroverse Diskussionen". Die bekannte deutsche Regisseurin Doris Dörrie erkennt am Beispiel Mengele "den eigenen Monsteranteil in uns", und einige Zeitungen nutzen die Gelegenheit zu einer erneuerten Diskussion über das Ausmaß des Antisemitismus unter Deutschen.

Die Handlung des Films spielt in der Gegenwart. Der junge Anwalt Peter Rohm sammelt seit Jahren Material über Josef Mengele. Er kennt die Fakten über die ungeheuerlichen Verbrechen des Mannes, der als Chefarzt des Vernichtungslagers Auschwitz nicht nur entschied, welche Häftlinge umgehend in die Gaskammern geschickt und welche durch Arbeit vernichtet wurden, sondern auch barbarische Experimente, vorwiegend an Zwillingspaaren vornahm. Rohm, der aus dem selben Dorf stammt wie einst Mengele, möchte unter dem Titel "Einer von uns" ein Buch über den SS-Mann schreiben, scheitert bisher jedoch daran, dass er dessen Motive einfach nicht begreifen kann.

Unter mysteriösen Umständen wird Rohm nach Argentinien entführt und steht auf einmal vor dem tot geglaubten Mengele, gespielt von Götz George. Der "Todesengel von Auschwitz", inzwischen selbst todkrank, will sich vor der Öffentlichkeit offenbaren.

In Deutschland ist man über Mengeles Ankunft alles andere als erfreut. Als dessen Identität schließlich klar erwiesen ist, beginnt man für die Weltöffentlichkeit einen "Schauprozess" vorzubereiten. Mengele steht ein Pflichtverteidiger zu. Doch er besteht darauf, von Rohm verteidigt zu werden. Der Anwalt sträubt sich zunächst, willigt dann aber ein, weil er hofft, auf diesem Wege Mengeles Motiven auf die Spur zu kommen. Weshalb hat er es getan? Wie ist ein Mensch zu so etwas fähig?

Mengeles Antwort zu Prozessbeginn überrascht und empört. Er gibt alle Punkte der Anklage zu. Jedoch sieht er in seinen Taten keine Verbrechen, im Gegenteil. Aus "Menschlichkeit" habe er gehandelt, denn "Auschwitz war die Hölle", ein "Massenvernichtungslager", für dessen Errichtung er nicht verantwortlich gewesen sei. Als Arzt habe er hier das einzig Menschenmögliche im Interesse der Todgeweihten getan. Jawohl, er habe kleine Kinder getötet. "Sollte ich sie qualvoll verhungern lassen?" Es war "ein Akt der Gnade" - "Euthanasie". "Ärzte werden immer auch töten müssen", erklärt Mengele. "Ein Chirurg ist kein Schlächter, nur weil er mit dem Messer hantiert." Öffentlichkeit und Staatsanwaltschaft sind sprachlos.

Anwalt Rohm treibt jüdische Zeugen, die Mengele vorwerfen, sie verkrüppelt zu haben, in die Enge. Sie müssen zugeben, dass sie dank Mengele überlebt haben. Einer weiteren Überlebenden kann er ungenaue bzw. falsche Aussagen nachweisen. Etwas Ungeheuerliches bahnt sich an: Mengele hat reale Chancen den Prozess zu gewinnen.

Rohm spielt mit dem Gedanken sein Mandat niederzulegen. Da deutet Mengele ihm gegenüber an, er verfüge über Informationen, wonach Rohms eigene Mutter in ihrer Jugend mit Nazi-Ärzten kollaboriert habe. Nachdem Rohm die Beweise dafür in den Archiven einer Nervenheilanstalt gefunden hat, gesteht sie ihm tränenüberströmt, als junge Schwesternschülerin unwissentlich zwei Todesspritzen gesetzt zu haben.

Rohm, in seinem Wunsch nach dem Begreifen des Ungeheuerlichen bestärkt, führt den Prozess fort. Nach seinem Schlussplädoyer, in dem er Mengele als ein "Opfer der Verhältnisse" verteidigt, fordert er unvermittelt - die Höchststrafe. Der Staatsanwalt streicht anschließend den Unterschied zwischen Rohms schuldbewusster Mutter und dem uneinsichtigen KZ-Arzt heraus.

In der Schlussszene des Films blicken Mengeles riesige Augen gleichsam bis in das Herz des Zuschauers hinein: "Sehen Sie wenigstens ein bisschen von sich selbst in mir?"

Der Film thematisiert die Geisteshaltung eines rein fiktiven greisen Mengele - der wirkliche war 1945 nach Argentinien geflohen und starb nach einem unbehelligten Lebensabend 1979 in Brasilien. Die stärksten Szenen sind jene, in denen Götz George im Gerichtssaal den KZ-Arzt seine eigene, erbarmungslose Logik ausspinnen lässt. Dabei knüpft er an seine frühere Darstellung des legendären Massenmörders Fritz Haarmann in den zwanziger Jahren an("Der Totmacher").

In diesen Szenen stellt sich heraus, dass Mengele seine Rolle durchaus mit Argumenten rechtfertigen könnte, die der offiziellen Moral der heutigen Gesellschaft nicht so stark widersprechen, wie die aufgeklärte und entsetzte Öffentlichkeit, verkörpert durch den Staatsanwalt, es gerne hätte. Hier ist der Film recht eindrücklich und löst einen gewissen Schockeffekt aus.

Der Produzent Werner König meinte zu der verstockten Selbstgerechtigkeit, mit der Mengele seine Taten rechtfertigt: "..in einem System versucht eben jeder, seinen Job gut zu machen... Was da im Dritten Reich zum Tragen kam, sind genau die Managerqualitäten, die man heute fordert: effiziente, unemotionale Chefs. Mengele wäre heutzutage Vorstandsvorsitzender."

In der Tat. Prallen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit, die natürlichsten Gefühle des Mitleids und der Solidarität an den Vorgaben des marktwirtschaftlichen "globalen Wettbewerbs" nicht ebenso unumstößlich ab, wie die unfassbaren Leiden der KZ-Opfer an der eiskalten Rechtfertigungslogik von Götz Georges Mengele?

Der bewusst subjektive Ansatz des Films, einen möglichen Blick durch die Augen des Täters zu konstruieren, führt in seiner Logik zurück zur Frage nach den objektiven Umständen, den gesellschaftlichen Hintergründe und Bedingungen, die ein Ungeheuer wie Mengele hervorbringen konnten. Bestehen die Grundlagen dieser Bedingungen noch? Kann es wieder passieren? Weshalb erinnert die Moral des fiktiven Mengele so verheerend an die Moral der heutigen Gesellschaft? Wo liegen die Ursachen dieser erschreckenden Kontinuität?

Doch hier stockt der Film. Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller scheinen Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben. Die Frage nach den Elementen der Kontinuität vom Faschismus zur heutigen Gesellschaft wird geradezu krampfhaft auf die rein geistige Sphäre der individuellen Moral beschränkt, während die ganz materielle, handfeste Kontinuität der Mächtigen und Besitzenden ausgeblendet bzw. auf relativ zusammenhangslose Einzelerscheinungen beschränkt wird, die dann notwendigerweise konstruiert wirken.

So konzentriert sich der Film stark auf Mengeles "medizinische Tätigkeit" im Konzentrationslager. Um zu demonstrieren, wie klein der Schritt von der Medizin zum Mord mitunter sein kann, verweist die Verteidigung auf die Gegenwart, in der unter dem Druck heutiger Sparzwänge die Diskussion über Euthanasie in der Ärzteschaft wieder an Intensität zunimmt, denn: "Die letzten 30 Tage sind am teuersten." Ein Fall aus dem Jahr 1985 wird angeführt, bei dem ein deutscher Art einem geisteskranken Patienten eine tödliche Injektion verabreichte. Er erhielt vor Gericht nur eine geringe Geldstrafe.

Filmproduzent König gibt ohne große Umschweife zu, dass die Vermischung von Euthanasie und Auschwitz historisch falsch ist. "Natürlich ist es eine Sackgasse", erklärt er, "und ich wusste auch, dass der Film da nicht mehr rauskommt. Aber ich wollte das trotzdem drin haben, um eine Brücke zu heute zu schlagen." In Wirklichkeit ging Mengele in keiner Weise von irgend einer abstrusen Interpretation der medizinischen Ethik aus, sondern handelte als überzeugter Antisemit, der nach Aussagen eines engen Mitarbeiters "die Heilung der Welt durch Judenvernichtung" anstrebte.

"Jeder Trick, dieses Thema zu behandeln, ist legitim", meinte Götz George. Die Darstellerin der Frau Rohms, Doris Schade, betonte, "dass man das Thema immer wieder machen muss, egal wie".

Diese recht nonchalante Haltung gegenüber dem tatsächlichen geschichtlichen Verlauf und die ausschließliche Spekulation über Mengeles individuelle Motive lassen am Ende paradoxerweise viel Raum für Selbstzufriedenheit und Passivität, und dies trotz des hohen moralischen Anspruchs. (Alle Beteiligten verzichteten zunächst auf ihre Gagen, und als dem Film Fördermittel verweigert wurden, schoss George aus eigener Tasche eine Million DM zu.)

Drehbuchautor Johannes W. Betz betrachtete seine Arbeit als eine Art Selbsttherapie, "die mich dahin gebracht hat, mich von dieser sogenannten Kollektivschuld zu emanzipieren." Er distanziert sich von der Kollektivschuldthese, die im wesentlichen die Gründe für den Aufstieg des Faschismus und Antisemitismus in die unbegreiflichen Abgründe der deutschen Seele verlagert und sie damit mystifiziert.

Doch er weicht auch jedem weitergehenden Blick auf die gesellschaftlichen Zustände damals und heute aus. Der historische und gesellschaftliche Hintergrund von Mengeles Taten tritt nur in Form von "Umständen" zutage, die zu seiner Rechtfertigung dienen. Doch die naheliegende Frage, wer für die "Umstände" verantwortlich war und wie es dazu gekommen ist, wird nicht einmal angedeutet. Vom Titel des geplanten Buches ("Einer von uns") bis hin zur Schlussszene mit den starren Augen Mengeles ("Sehen Sie wenigstens ein bisschen von sich selbst in mir?") ist der Film gespickt mit Andeutungen, die den Antisemitismus als rein psychologisches Problem auffassen. Er verbleibt damit völlig innerhalb des offiziellen ideologischen Rahmens, in dem diese Frage üblicherweise diskutiert wird.

Was bleibt, ist die Forderung nach persönlicher Läuterung. "Es ist wirklich an der Zeit", schreibt Betz in seiner Einführung zu dem veröffentlichten Drehbuchtext, "dass wir uns mit den Tätern, die zu unseren Vätern oder Großvätern gehören, auseinandersetzen" - und, so darf man annehmen, den "Mengele in uns" niederringen. Angesichts der realen gesellschaftlichen Probleme und Gefahren, die sich heute abzeichnen - Verarmung breiter Schichten, Neofaschismus, Militarismus, Kriegsgefahr - eine doch etwas schale Bilanz dieses Films. Liegt es denn so fern, die persönliche Betroffenheit nicht nur nach innen, sondern auch nach außen zu richten und zum Ausgangspunkt für eine Veränderung der Gesellschaft insgesamt zu nehmen?

Am deutlichsten zeigt sich diese Schwäche in der dramaturgisch wenig überzeugenden Szene, in der Rohms Mutter als eine Art deus ex machina vor dem Gericht ihre Sünden bekennt und damit als moralisch sauberes Gegenstück zu Mengele gelten darf. Damit kann das Establishment leben, oder, wie die Hamburger Morgenpost wohlwollend bemerkt: "Dem Anspruch nach ist der Film unbedingt politisch korrekt."

Es ist bezeichnend, dass der jüngste und vehementeste Verfechter der Kollektivschuldthese, Daniel Goldhagen, ganz ähnlich vorgeht wie Betz. Seine Analyse des Faschismus klammert jeden Blick auf soziale und materielle Interessen, auf Klassen und Parteien aus und konzentriert sich statt dessen ausschließlich auf die Motive und das Bewusstein der unmittelbaren Täter. Auf diesem Wege werden die Motive nicht zu einem Mosaikteilchen in einem umfassenden Bild der Wahrheit, sondern selbst unverständlich und mysteriös. So kann Goldhagen am Ende zu dem einschläfernden Schluss gelangen, dass ein Wiedererstehen des Faschismus und Antisemitismus in Deutschland aufgrund der nach 1945 geschaffenen Demokratie nicht möglich sei.

Eine tiefe und künstlerisch aufrichtige Auseinandersetzung mit den Ursprüngen und Erscheinungsformen des Faschismus ist im heutigen Deutschland außerordentlich schwierig - gerade, weil diese Geschichte allgegenwärtig ist und weil die imperialistischen Interessen, die dem Naziregime zugrunde lagen, erneut lebendig werden. Auf der einen Seite versuchen einflussreiche Kräfte auf der Rechten, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren. Auf der anderen Seite haben sich die einst um Aufklärung bemühten 68er größtenteils mit den Verhältnissen arrangiert. Dennoch muss man einen Film kritisieren, der bei allen guten Absichten die vorherrschende Verwirrung nur vermehrt.

Siehe auch:
Weitere Filmbesprechungen
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