Parteitag der SPD

Einig aber perspektivlos

Vom 7. bis 9. Dezember hat die SPD ihren ersten ordentlichen Bundesparteitag seit der Regierungsübernahme vor gut einem Jahr durchgeführt. 522 Delegierte versammelten sich im Berliner Nobelhotel Estrel, um Bilanz zu ziehen, die weitere Politik zu diskutieren und die Parteiführung neu zu wählen.

Das vergangene Jahr war durch eine bespiellose Serie von Meinungsverschiedenheiten, Konflikten und Krisen gekennzeichnet. Im Frühjahr war der Parteivorsitzende Oskar Lafontaine nach heftigen Auseinandersetzungen über die Finanz- und Sozialpolitik zurückgetreten. Bereits vorher hatten die Änderung des Ausländerrechts und der geplante Ausstieg aus der Kernenergie zu starken Spannungen geführt. Die deutsche Teilnahme am Kosovo-Krieg und das Sparpaket des neuen Finanzministers Hans Eichel hatte die SPD schließlich an den Rand der Spaltung gebracht. Als Kanzler Schröder gemeinsam mit Tony Blair ein Perspektivpapier veröffentlichte und ihn Lafontaine im Gegenzug des Verrats an allen Wahlversprechen bezichtigte, schien das Auseinanderbrechen der Partei greifbar nahe. In mehreren Landes- und Kommunalwahlen liefen ihr die Stammwähler in Scharen davon. In Sachsen näherte sie sich der Zehnprozentgrenze.

Doch auf dem Parteitag war all dies Vergangenheit. Die Partei schien auf wundersame Weise vereint. Kanzler Schröder wurde mit 86 Prozent der Delegiertenstimmen als Parteivorsitzender bestätigt - zehn Prozent mehr als im Frühjahr. Lafontaine war samt seiner Kritik und Kanzlerschelte in der Versenkung verschwunden. Das Schröder-Blair-Papier wurde ad acta gelegt und im Parteiarchiv unter "H wie Hombach" ( Die Zeit) abgeheftet.

Und die SPD-Linken klatschten Beifall. Reinhard Klimmt, Lafontaines engster Freund, unterstützte demonstrativ Kanzler Schröder. Schon vor Beginn der Konferenz verkündete er, Schröder habe sich auf die Partei zubewegt und der Parteitag werde dies honorieren. Der Sprecher des "linken" Frankfurter-Kreises, Detlev von Larcher, bezeichnete Schröders Parteitagsrede als "sehr gelungen", weil darin das "sozialdemokratische Grundprinzip der sozialen Gerechtigkeit" deutlich betont worden sei.

Es gab zwar noch das ein oder andere Nachhutgefecht, wie der Wortwechsel über die Vermögenssteuer - aber der Antrag der "Linken" zu diesem Thema war nach eigener Aussage "so harmlos, dass ihm alle zustimmen können" (Juso-Vorsitzender Benjamin Mikfeld) - was dann trotzdem nicht geschah. Doch im großen Ganzen herrschte allgemeine Harmonie und Einheit.

Die Einheit einer Partei kann verschiedene Ursachen haben. Sie kann tiefe Übereinstimmung ausdrücken und sich aus der Begeisterung speisen, die im Kampf für ein gemeinsames Ziel entsteht; oder sie kann das Ergebnis davon sein, dass sich die Mitglieder bedroht und verunsichert fühlen und aus Furcht und Orientierungslosigkeit enger zusammenrücken. Die neugefundene Einheit der SPD gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Schon das Motto des Parteitags: "Zukunft braucht Mut" klang wie Pfeifen im dunklen Wald.

Schröders einleitende "Programmrede" - von Experten wochenlang vorbereitet und ausgefeilt - war ganz auf diesen Ton gestimmt. Auf dem letzten Parteitag des Jahrhunderts hätte man zumindest Ansätze eines Ausblicks in die Zukunft erwartet. Schröder schien dies auch zu spüren und begann mit den Worten: "Dies ist der letzte Parteitag der SPD vor der Jahrtausendwende." Eines der "blutigsten Jahrhunderte" gehe zu Ende. Die Sozialdemokraten hätten nicht nur einen Regierungsauftrag, ihnen sei auch die "großartige Aufgabe" anvertraut worden, "unser Land in das nächste Jahrtausend zu führen".

Doch dann kam nichts mehr. Schröder entwickelte keine Zukunftsvisionen, seine ganze Rede war ganz darauf ausgerichtet, "die sozialdemokratische Seele zu streicheln", wie er das selbst bezeichnete. Für jeden gab es ein Bonbon - zu jedem Absatz in seiner Rede gab es auch einen anderen, der ihm widersprach. Der Berliner Tagesspiegel bezeichnete den Parteitag deshalb als "Therapiesitzung" und kommentierte: "Die Rede des SPD-Vorsitzenden hatte weiter keinen bedeutenden Inhalt, aber viele unvereinbare Inhalte. Im Grunde bestand sie nur aus einem Wort: Ommm. Fernöstliche Meditation in einem Berliner Hotel."

Weil man Schröder das Zusammengehen mit Blair übel genommen hatte, durfte diesmal Lionel Jospin die Gastrede halten. Inhaltlich blieb aber alles beim Alten. Die Politik der letzten Monate wurde lediglich in etwas anderer Verpackung angeboten. In Schröders 90minütigen Rede fand sich nicht ein einziger neuer Gedanke. Keinerlei Initiative oder Maßnahme der Regierung gegen die Massenarbeitslosigkeit und rasch voran schreitende Verelendung immer breiterer Teile der Gesellschaft. Statt dessen abgedroschene Phrasen über eine "zukunftsfähige Zivilgesellschaft" und Gerechtigkeit für Jedermann am Sanktnimmerleinstag.

Das Sparpaket Hans Eichels wird unverändert durchgezogen. Die Haushaltspolitik bildete ein zentrales Thema von Schröders Rede. Bar jeder Zukunftsvision erhob er, wie der Krämer in einem Provinzladen, den Kassenstand zur politischen Maxime. Die Sozialdemokraten hätten "in den letzten Wochen und Monaten Verantwortung übernommen". Die von ihm geführte Bundesregierung habe "wichtige Weichenstellungen vorgenommen." Denn gegen die Widerstände von Verbandsegoismen habe die Regierung "Ernst gemacht mit der Hauhaltskonsolidierung". Eichel habe "vorbildliche Arbeit geleistet".

Auch die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg verteidigte Schröder mit den alten, abgedroschenen Argumenten, obwohl seither täglich neue Tatsachen ans Licht gekommen sind, die beweisen, wie verlogen diese sind. Nach dem Scheitern "aller politischen Versuche, das Völkermorden im Kosovo zu beenden", habe es "keine andere Möglichkeit" gegeben, als militärisch einzugreifen, betonte Schröder, und dankte ausdrücklich Verteidigungsminister Rudolf Scharping für dessen "besonnenen und vorbildlichen Einsatz".

Schließlich erklärte er das Fehlen eines politischen Kompasses selbst zur Tugend. "Wir handeln, aber wir ideologisieren unser Handeln nicht," sagte er im Hinblick auf seine Rettungsaktion für den in Schwierigkeiten geratenen Baukonzern Holzmann. Nicht, weil er "ideologischen Spuren folge," habe er interveniert. Für die Bewältigung derartiger Unternehmenskrisen sei natürlich "zuallererst der Markt zuständig". Aus einer solchen "pragmatischen Intervention" entstehe "kein grundsätzliches Handlungskonzept".

Dass die Delegierte diese Rede breitwillig schluckten, beklatschten und mit hohen Abstimmungsergebnissen honorierten, sagt alles über den inneren Zustand der SPD. Was diese Delegierten bewegt, sind nicht die Sorgen und Nöte der Bevölkerung angesichts wachsender Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit, sondern ihre eigenen Ämter, Pöstchen und Pfründe. Die SPD ist längst zu einer Partei von Amtsträgern und Funktionären verkommen, deren Einkommen das eines Arbeiter in der Regel weit übersteigt.

Daher glaubten sie bereitwillig, dass der schwindende Einfluss der Partei in erster Linie ein Ergebnis des schlechten "Erscheinungsbilds" sei. Die Sehnsucht nach Geschlossenheit und Ruhe drückte sich im hohen Wahlergebnis für den Generalsekretär aus, dessen Amt auf diesem Parteitag eigens neu geschaffen wurde. Franz Müntefering erhielt 94 Prozent der Stimmen - ein Resultat, das an DDR-Verhältnisse erinnert.

Doch die Krise der SPD ist weniger auf ihr "Erscheinungsbild", als auf tiefgehende Veränderungen in der Gesellschaft zurückzuführen. Die Globalisierung hat den traditionellen Formen der Sozialpartnerschaft und des gesellschaftlichen Ausgleichs die Grundlage entzogen. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer tiefer. Hier liegt der tiefere Grund für das Aufbrechen der Volksparteien, die über Jahrzehnte die politischen Geschicke des Landes lenkten. Der Finanzskandal der CDU bildet so gesehen auch das Menetekel der SPD. Schon jetzt wird die Kluft zwischen der Bevölkerung und der SPD immer größer.

Die auf dem Parteitag demonstrierte Einheit der Partei wird daher nicht lange halten. Sie war ohnehin nur glücklichen äußeren Umständen zu verdanken: Dem Finanzskandal der CDU, der die SPD vorübergehend wieder in ein besseres Licht gerückt hat, und Schröders Feuerwehreinsatz bei Holzmann, dessen Ergebnisse bereits wieder in Frage stehen.

Unter dem Druck der sozialen Umwälzung der Gesellschaft entwickelt sich - stillschweigend und nahezu unbemerkt, und teilweise sogar unbewusst - eine neue politische Achse der SPD.

In jüngster Zeit häufen sich die Stimmen, die vor den unkontrollierbaren Folgen einer wirtschaftlichen Entwicklung warnen, die sich ausschließlich am kurzfristigen Börsenwert orientiert. Vor allem Die Zeit, zu deren Herausgebern Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt zählt, wird nicht müde, den "Raubtierkapitalismus" amerikanischer Prägung zu geißeln. In der jüngsten Ausgabe hat dort sogar Edzard Reuter, bis 1995 Vorstandsvorsitzender des Daimler-Benz-Konzerns, in diese Melodie eingestimmt.

Schröder selbst hat in seiner Rede eine "internationale Finanzarchitektur" gefordert und hinzugefügt, diese Forderung sei auch dann richtig, "wenn es schon jemand anders vor mir gesagt hat." Nur wenige Delegierte merkten, dass mit diesem "jemand" Oskar Lafontaine gemeint war, der sich vehement für eine internationale Regelung der Finanzmärkte eingesetzt hatte und deshalb unter heftigen Beschuss geraten war.

Unter den gegebenen internationalen Bedingungen laufen solche Maßnahmen allerdings nicht auf eine soziale Zähmung des Kapitalismus hinaus, sondern auf Protektionismus, die Herausbildung von Wirtschaftsblöcken und auf scharfe Konflikte zwischen Europa und den USA. Hier liegt der tiefere Sinn der Versöhnung der SPD-Linken mit Schröders Spar- und Kriegskurs. Schließlich war es Lafontaine, der die Forderung: "Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse!" mit einer abgestimmten europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik verbunden hatte.

Die Krisen und Erschütterungen der vergangenen Monate kennzeichnen das endgültige Scheitern der SPD als Reformpartei. Aus den Trümmern entwickelt sich eine neue Partei, die im Namen deutscher und europäischer Interessen eine aggressive Politik nach außen und nach innen verfolgt.

Siehe auch:
Neue Töne in der Außenpolitik
(3. Dezember 1999)
Die Krise der SPD
( 20. November 1999)
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