Der Krieg in Tschetschenien spitzt sich immer weiter zu

Der mittlerweile mehr als zwei Monate andauernde Krieg in Tschetschenien nimmt auf beiden Seiten immer hässlichere und grausamere Formen an. Immer höher wird der Tribut, den er der russischen ebenso wie der tschetschenischen Bevölkerung abverlangt. Es wird immer deutlicher, dass sich mit dem Andauern des Krieges die soziale Katastrophe in Russland verschlimmert und keines der Probleme gelöst wird, mit denen die Arbeiterklasse der ehemaligen Sowjetunion seit der Wiedereinführung des Kapitalismus konfrontiert ist, solange nicht bewusst die Lehren aus deren Zusammenbruch und aus dem Kampf der Bolschewiki vom Anfang des Jahrhunderts für eine gemeinsame Zukunft der Völker der Region des Kaukasus und Zentralasiens gezogen werden.

Seit Beginn des Krieges am 1. Oktober 1999 hat das Vorgehen der russischen Truppen einen Flüchtlingsstrom von 233.000 Menschen ausgelöst, bis zu 4.500 Opfer unter der tschetschenischen Zivilbevölkerung und bis zu 1.000 Tote innerhalb der russischen Armee gefordert. Letztere besteht vorwiegend aus 18- bis 27jährigen Rekruten, die mit großen Versprechungen und unter den widrigsten Bedingungen in die Katastrophe geschickt werden.

Briefe von russischen Soldaten wie dieser sind bezeichnend: "Hallo Wolodja. Ich bin ebenfalls in Tschetschenien. Wie immer haben sie uns betrogen... Ich höre Radio und wundere mich. Ich höre das Eine und sehe etwas völlig Anderes... Die Soldaten sind halb verhungert und halbnackt. Die Versorgung ist erzbeschissen. Das Essen: Graupen, Häcksel, Erbsen. Jetzt stehen wir auf dem Acker, schlafen auf dem Boden... Mit den versprochenen Sonderzahlungen haben sie uns auch betrogen." ( Frankfurter Rundschau, 2. Dezember 1999)

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht trotz strengster Zensur seitens des russischen Innenministeriums und sich widersprechenden Informationen Berichte von abscheulichen Massakern unter der tschetschenischen Zivilbevölkerung und den Flüchtlingen nach außen dringen. Mindestens zweimal wurden Flüchtlingskonvois aus der Luft angegriffen, wobei jeweils über 40 Menschen ihr Leben verloren.

Die Lebensbedingungen für diejenigen, die in ihrer Heimat verbleiben, sind katastrophal. Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung sind in den bombardierten Gebieten fast völlig zum Erliegen gekommen. Von der medizinischen Versorgung ganz zu schweigen. Strom und Gas gibt es schon seit Wochen nicht mehr. Ebenfalls in den überfüllten Zeltlagern in der Nachbarrepublik Inguschetien, wohin sich der Hauptteil des Flüchtlingsstromes ergossen hat, beginnen Krankheiten um sich zu greifen und sterben Menschen an Kälte und Schwäche.

Auch die Verluste in den Reihen der russischen Armee steigen mit den immer heftiger werdenden Auseinandersetzungen. Am vergangenem Freitag verloren bei Kämpfen vor der Separatistenhochburg Urus-Martan, 20 Kilometer südöstlich von Grosny, 250 russische Soldaten ihr Leben, nachdem sie eingekreist worden waren. 200 wurden während des Kampfes erschossen, und 50 weiteren wurde nach ihrer Gefangennahme die Kehle durchgeschnitten.

Mit schweren Bombardierungen aus der Luft und per Artillerie auf Dörfer und Städte drang die russische Armee von Norden her bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in mehr als die Hälfte des tschetschenischen Territoriums vor und hat die Hauptstadt Grosny nahezu vollständig eingeschlossen.

Nach Ablauf eines am 5. Dezember gestellten Ultimatums soll ab dem 11. Dezember mit dem Angriff auf die Hauptstadt begonnen werden. Die schätzungsweise 40.000 bis 50.000 in Grosny verbliebenen Bewohner wurden mit einem Flugblatt, das über der Stadt abgeworfen wurde, aufgefordert, die Stadt bis zu diesem Zeitpunkt über einen "Sicherheitskorridor" zu verlassen, während die Bombardierung fortgesetzt wird.

"Jeder, der nach diesem Tag noch in Grosny ist, wird als Terrorist und Bandit betrachtet und durch Artillerie und die Luftwaffe vernichtet." Den Bewohnern der Stadt wurde angeboten, in ein neu errichtetes Flüchtlingslager nordwestlich von Grosny zu ziehen, das allerdings lediglich eine Kapazität von 4.500 Plätzen hat. Überdies sind vorwiegend jene Bewohner in der Stadt verblieben, denen bisher wegen Alter oder Krankheit eine Flucht unmöglich war. Angesichts des kalten Wetters und fehlender Transportmittel können gerade diese Menschen es schwerlich schaffen, unter Beschuss das weit außerhalb liegende Flüchtlingslager zu erreichen.

Ziel der Strategie des Kreml ist es, eine Wiederholung der verheerenden Niederlage während des Krieges von 1994 bis 1996 zu vermeiden, als bei der Besetzung Grosnys und anderer Städte im Häuserkampf Tausende russischer Soldaten ihr Leben verloren. Die Stimmung innerhalb der Bevölkerung gegen den Krieg wuchs damals enorm an und zwang Moskau zur Beendigung des Krieges.

Der russischen Seite geht es um die Einnahme und Unterordnung der abtrünnigen Teilrepublik Tschetschenien, die seit 1996 offiziell zwar noch der Russischen Föderation angehört, de facto aber mit Abschluss des Friedensvertrages vom 21. August 1996 Unabhängigkeit genießt. Im Jahr 2001 sollte diesem Vertrag zufolge über eine vollständige Autonomie des Landes verhandelt werden.

Gelang es den russischen Truppen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt relativ reibungslos und ohne größere Zusammenstöße und Opfer die im nördlichen Tiefland gelegenen Regionen einzunehmen, so drohen jetzt wesentlich heftigere Auseinandersetzungen im Kampf um die traditionellen Hochburgen des tschetschenischen Widerstandes im bergigen Süden des Landes. Hohe Verluste und eine daraus resultierende Protestwelle innerhalb der russischen Bevölkerung könnten dem Erfolg der Kriegspropaganda ein jähes Ende setzen.

Erste Anzeichen für eine Ernüchterung gegen den schäumenden Nationalismus, der vom Kreml zur Unterstützung des Krieges geschürt wird, zeigen sich bereits in dem Maße, in dem die Auswirkungen auch auf die russische Bevölkerung sichtbar werden und trotz strengster Nachrichtensperre und wütendster Propaganda in den russischen Medien an die Öffentlichkeit gelangen.

So erklärte Ida Kuklina vom Komitee der Soldatenmütter, dass das Bild des Verteidigungsministeriums über die Lage der Soldaten "pure Erfindung" sei. Sie berichtete von einer Reise in den Nordkaukasus, wo sie Krankenhäuser besuchte und mit Soldaten sprach. In Mosdok, dem Hauptstützpunkt der russischen Armee, sah sie, wie täglich Dutzende Verwundeter und Toter in Flugzeuge geladen wurden.

Über Gespräche mit Ärzten berichtete sie, dass "mit Einbruch des Winters wegen der erbärmlichen hygienischen Bedingungen viele erkranken werden. Erste Fälle von Hepatitis und Lungenentzündungen sind jetzt schon aufgetreten. Es gibt kein Trinkwasser und keine Möglichkeiten zum Waschen. Die Soldaten sind schmutzig, sie leben in der Kälte, und Infektionskrankheiten können sich schnell ausbreiten."

Doch um eine wirkliche Opposition gegen den Krieg zu entfalten, die nicht im Kielwasser der Nationalisten in Moskau oder der tschetschenischen Separatisten segelt und zugleich auch eine NATO-Intervention ablehnt, muss man eine politische Bilanz der letzten zehn Jahre ziehen und den Krieg in diesen Rahmen einordnen.

Die Auflösung der Sowjetunion in 15 Einzelstaaten und die Einführung des Kapitalismus hat entgegen aller Versprechungen und Hoffnungen, die von den nationalistischen "Befreiungsbewegungen" in welcher Form auch immer gemacht worden sind, nur einer dünnen, korrupten und selbstsüchtigen Oberschicht den Weg zu Wohlstand auf Kosten der breiten Mehrheit freigemacht. Letztere dagegen musste in ausnahmslos jedem der neuen Staaten einen dramatischen Rückgang des kulturellen und materiellen Lebensniveaus hinnehmen.

Der Krieg in Tschetschenien ist ein weiterer Meilenstein der Zerfallsprozesse seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und bedroht nun mit dem Hochkochen nationalistischer Stimmungen, wie sie in Russland in diesem Maße seit dem ersten Weltkrieg unbekannt waren, in direkter Weise das Leben der Menschen.

Um hier einen Ausweg zu finden, muss man die Lehren aus dem Kampf der Bolschewiki gegen den großrussischen Chauvinismus ziehen. Ihnen ging es darum, dass die russische Arbeiterklasse die Befreiung der Völker des Kaukasus und Zentralasiens vom zaristischen Joch unter ihrer eigenen Perspektive vorantrieb. Sie traten für den Zusammenschluss aller Arbeiter und Unterdrückten im Kampf gegen den jeweiligen Feind im eigenen Land ein: die Kapitalisten und deren Helfershelfer.

Die Bolschewiki betonten schon damals, dass im Gegensatz zu dieser einigenden Perspektive entstehende unabhängige Kleinstaaten unweigerlich zum Spielball und Vasallen der einen oder anderen imperialistischen Macht werden, weil sie auf sich gestellt kaum lebensfähig sind. Mit der Globalisierung der Produktion und der weltweiten Dominanz internationaler Konzerne ist die Gültigkeit dieser Prognose um ein Vielfaches verstärkt worden.

Dieser Krieg ist das Ergebnis immer größerer Spannungen insbesondere zwischen den USA und Russland im Kampf um die Ressourcen der ehemaligen Sowjetunion und die weltweite Vormachtstellung, der immer aggressivere Formen annimmt.

Die Aufnahme der ehemaligen Ostblockstaaten Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO im März diesen Jahres, womit die NATO direkt an das Territorium der ehemaligen Sowjetunion grenzt, die darauffolgende Bombardierung Jugoslawiens, eines traditionellen Verbündeten Russlands, die Auflösung des ABM-Vertrages über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen und nicht zuletzt die Unterzeichnung des Vertrages über den Bau der Hauptölleitung vom Kaspischen Meer an Russland vorbei und unter Kontrolle der USA - all dies hat die Kremlclique immer mehr provoziert.

Diese sieht ihre eigenen Interessenpositionen, die sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf rücksichtslose Weise an sich gerissen hat, immer stärker bedroht und reagiert darauf mit der Entfesselung dieses blutigen Krieges, bei dem sie sich des reaktionärsten Nationalismus bedient.

In diesem Licht müssen die heuchlerischen Mitleidsbekundungen von US-Präsident Bill Clinton und seinen Kollegen aus Europa gesehen werden. Sie tragen mit die Verantwortung für das jetzige Blutbad.

Die Ankündigung vom 6. Dezember, dass die weitere Auszahlung des IWF-Kredites an Russland eingefroren wird, wird die russischen Kriegstreiber nicht beschwichtigen und den Druck auf die russische Arbeiterklasse nur noch weiter erhöhen.

Um diesem Krieg, allen weiteren Kriegen in der Region und der immer unerträglicheren Abwärtsspirale ein Ende zu setzen, müssen die russische und die Arbeiterklasse Tschetscheniens und der anderen Völker dieser Region wieder an den Kampf der Bolschewiki anknüpfen und die Lehren aus dem Verrat der stalinistischen Bürokratie ziehen.

Diese hatte den Kampf der Bolschewiki usurpiert, unter einem Mantel von Gewalt und Terror ausgelöscht und damit dem Wiederaufleben von Nationalismus und Kriegen den Boden bereitet. Leo Trotzki, der die linke, sozialistische Opposition im Kampf gegen den Stalinismus anführte, kämpfte gegen die Wiederbelebung des alten Russlands und seines dumpfen Nationalismus in der Sowjetunion durch Stalin, weil dieser die Arbeiterklasse gegen eine mögliche Wiedereinführung des Kapitalismus mit all seinen Folgen entwaffnen werde.

Diese Prognose hat sich auf das tragischste bestätigt. Die sowjetische Arbeiterklasse war nicht in der Lage, den Stalinismus in ihrem Interesse zu überwinden und muss dafür einen immer teureren Preis bezahlen.

Eine ganz andere Politik wäre durch das Eingreifen der Arbeiterklasse in das Geschehen denkbar, wenn die besten Traditionen der russischen Intelligenz wieder bewusst gemacht würden. Nach den verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, der Millionen das Leben kostete, und dem darauffolgenden Sieg der Revolution in Russland, wurde in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, ein Kongress der Völker des Ostens abgehalten.

In dessen Schlusserklärung heißt es: "Die Kommunistische Internationale will nicht nur der Macht der Reichen über die Armen ein Ende bereiten, sondern auch der Macht von einigen Völkern über andere. Deshalb müssen sich die Arbeiter Europas und Amerikas mit den Bauern und Arbeitern der Völker des Ostens vereinen." (1)

In seiner Abschlussrede zitierte Grigori Sinowjew, der den Vorsitz der Konferenz innehatte, eine Äußerung Alexander I. Herzens über das Vorgehen der zaristischen Truppen während der Besetzung Polens im 19. Jahrhundert, die aktueller ist denn je: "Wenn ich sehe, was meine Landsleute tun, was die russische Armee und die russischen Offiziere tun, schäme ich mich, ein Russe zu sein." (2)

(1) Baku: Congress of the peoples of the East, London 1977, S. 163

(2) ebenda, S. 158

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