Deutschland im Umbruch

Am kommenden Wochenende erscheint die neue Ausgabe der Zeitschrift "gleichheit", in der die wichtigsten Beiträge des World Socialist Web Site zusammengefasst sind. Wir dokumentieren hier das Editorial der neuen Ausgabe.

Zwei rekordträchtige Großfusionen haben in den vergangenen Wochen Schlagzeilen gemacht: Die Übernahme des Mannesmann-Konzerns durch die britische Mobilfunkgesellschaft Vodafone Airtouch und der Zusammenschluss der Deutschen und der Dresdner Bank. Erstere war mit 370 Milliarden Mark die bisher teuerste Firmenübernahme in der Geschichte der Weltwirtschaft, letztere hat die weltweit größte Bank mit einer Bilanzsumme von rund 2,5 Billionen Mark hervorgebracht.

Doch so spektakulär die beiden Fusionen für sich genommen sind, bilden sie doch nur den schärfsten Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung, die nicht nur das bisherige deutsche Wirtschaftssystem bis auf die Grundfesten erschüttert, sondern auch weitreichende Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft hat.

Der Ursprung des typischen deutschen Wirtschaftsgefüges, das oft mit dem Begriff "Deutschland AG" umschrieben wird, geht rund 130 Jahre zurück. Anfang der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Entstehung des Deutschen Reiches also, hatten Aktiengesellschaften den Hunger der rasch expandierenden Industrie nach Kapital gestillt und waren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Doch bereits 1873 kam es zu einem großen Börsenkrach, die Aktien gerieten in Verruf und die Banken übernahmen die Finanzierung der Industrie. Mittels Kreditvergabe und Beteiligungen erhielten sie Einblick in fast alle Bereiche der Wirtschaft und übten bald den dominierenden Einfluss aus. Damals entstand das bis heute bestehende Universalbankensystem. Die Gründung der Deutschen wie auch der Dresdner Bank fällt in jene Zeit.

Das System überlebte Weimarer Republik, Nazi-Regime und zwei Weltkriege und bildete nach 1945 die Grundlage für den Wirtschaftsaufschwung. Leistungsfähige Industrien wie Chemie, Automobilbau und Maschinenbau prägten das Bild. Die Kontrolle lag bei den Banken. Sie beherrschten die Aufsichtsräte und bauten durch Überkreuzbeteiligungen ein dichtes Geflecht gegenseitiger Beziehungen auf. Persönliche Bekanntschaften und Absprachen spielten eine weit wichtigere Rolle als der Börsenkurs eines Unternehmens. Deutsche und Dresdner Bank galten gemeinsam mit der Allianz-Versicherung als heimliche Regenten der Wirtschaft. Sie sorgten für relative Stabilität, indem sie ruinöse Konkurrenz unterbanden und das System nach außen abschotteten.

Die Einbeziehung der Gewerkschaften in die mitbestimmten Aufsichtsräte sorgte zusätzlich für Ruhe an der Klassenfront. Wirkliche Mitbestimmung im Sinne einer demokratischen Einflussnahme der Belegschaften gab es zwar nie, aber der ständige Informationsfluss zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften, Unternehmen und Banken machte es möglich, soziale Konfliktherde rechtzeitig zu erkennen und zu entschärfen.

All das wird jetzt beseitigt. Die Aktienkultur, lange Zeit das Kennzeichen der amerikanischen und britischen Wirtschaft, dringt mit ungeheurem Tempo auch in Deutschland ein. Der Börsenwert aller deutschen Aktiengesellschaften schnellt exponential in die Höhe: von 826 Milliarden Mark im Jahr 1995 auf 2,8 Billionen Mark im Jahr 1999. Die Börsenumsätze haben sich im selben Zeitraum fast verdreifacht, die Zahl der Aktienbesitzer ist auf fünf Millionen gestiegen.

Die Übernahme des Traditionskonzerns Mannesmann durch den Aufsteiger Vodafone hat schlagartig deutlich gemacht, dass der Börsenwert eines Unternehmens inzwischen mehr zählt, als alte Traditionen und langfristige Strategien. Durch ihren Zusammenschluss und die Konzentration auf das Investmentbanking ergreifen Deutsche und Dresdner Bank nun die Initiative, die gesamte Wirtschaft entsprechend umzukrempeln. Weitere Großfusionen - im Banken- und Industriebereich - werden folgen.

Die sozialen Auswirkungen dieser Entwicklung sind verheerend. Die 16.000 Arbeitsplätze, die bei den beiden Großbanken auf der Strecke bleiben, sind nur die Spitze des Eisbergs. Wesentlich stärker werden jene Banken betroffen sein, die bei der Fusionswelle zu spät kommen. Schon jetzt gilt das Schaltergeschäft, wo die meisten Bankangestellten beschäftigt sind, als reines Verlustgeschäft. Auch in der Industrie wird sich der Abbau von Arbeitsplätzen unter dem ständigen Druck nach höheren Renditen beschleunigen. So sollen bei der Deutschen Bahn, wo der Stellenabbau schon jetzt zu verheerenden Unfällen geführt hat, auf dem Weg zur Privatisierung weitere 70.000 Arbeitsplätze beseitigt werden.

Gleichzeitig vertieft der Aktienboom die soziale Kluft in der Gesellschaft. Die mühelosen Gewinne an der Börse, von denen nur das obere Zehntel der Gesellschaft profitiert, und der gleichzeitige Abbau von Einkommen und Sozialausgaben führen zu einer immer tieferen Spaltung in Arm und Reich. Für den Spiegel gilt es "als sicher, dass Deutschland auseinanderdriftet, dass dem Land schon bald eine neue Debatte über Reichtum und Armut bevorsteht."

Die Krise der CDU steht in diesem Zusammenhang. Der Finanzskandal ist weniger Anlass als Ursache für das Auseinanderbrechen der traditionellen "Volkspartei". Unter dem ständigen Druck der Finanzmärkte ist es unmöglich geworden, die Interessen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, die sich unter dem Dach der Union vereinen, wie in der Vergangenheit auszusöhnen. Ein weiterer Zerfall der Partei ist unausweichlich.

Auch die SPD wird von dieser Krise nicht verschont werden. Ihre gegenwärtige Stärke beruht auf der Schwäche der Union. Aufgrund des Fehlens jeder parlamentarischen Opposition hat sie sich weiter denn je von ihrer traditionellen Basis entfernt. Es wirkt schon nahezu ironisch, wenn ausgerechnet eine SPD-geführte Regierung von Unternehmerverbänden und Banken in den höchsten Tönen gelobt wird, weil sie den Weg für die grundlegendste Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft seit Jahrzehnten freigemacht hat. Vor allem die ersatzlose Streichung der 50prozentigen Steuer auf Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften im Rahmen der jüngsten Steuerreform ist auf Begeisterung gestoßen. Sie hat die gegenwärtige Fusionswelle überhaupt erst möglich gemacht.

Es wäre allerdings verfehlt, den gesellschaftlichen Umbruch ausschließlich auf subjektive Faktoren, auf die Machenschaften von Wirtschaftsbossen und Politikern zurückzuführen. Diese selbst reagieren auf internationale Veränderungen, die sie nicht kontrollieren können. Die wirtschaftliche Dominanz transnationaler Konzerne, das Anschwellen der internationalen Börsen und Finanzmärkte, der erleichterte Zugang zu diesen mit Hilfe des Internets - all das hat zu einer historisch nie da gewesenen Verflechtung und Integration der Weltwirtschaft geführt.

Die gegenwärtige Fusionswelle wird nicht zuletzt von der Frage bestimmt, wer die Weltwirtschaft dominiert. Die Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten drehen sich heute nicht mehr nur um Kolonien, Rohstoffquellen und Absatzmärkte, sondern vor allem auch um die Kontrolle über die internationalen Finanzmärkte. Der Chef der Deutschen Bank, Rolf Breuer, betrachtet den Zusammenschluss mit der Dresdner Bank denn auch nur als ersten "Schritt zu weiterer Expansion". Sein Ziel - eine dominierende Stellung auch auf dem amerikanischen Markt.

Der Kampf um die Vormachtstellung in der globalen Wirtschaft zieht unweigerlich auch außenpolitische Konflikte nach sich. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Besetzung des Chefpostens des Internationalen Währungsfonds sind in dieser Hinsicht eine ernsthafte Warnung. Die deutsche Regierung hat vehement auf einen eigenen Kandidaten, Caio Koch-Weser, gedrängt, und die amerikanische Regierung hat ihn ebenso vehement abgeschmettert.

Die Süddeutsche Zeitung kommentiert: "Der Zusammenprall zwischen Europa und den USA in der Causa Koch-Weser wird von den Historikern eines Tages nicht nur als Streit um eine Personalie oder um die politische Ausrichtung einer Finanzinstitution interpretiert werden. Der Fall ist vielmehr Symbol für massive transatlantische Dissonanzen, für einen heftigen Machtkampf um Interessen und Einfluss... Noch nie zuvor verfolgte Deutschland seine Interessen mit solcher Vehemenz."

Eine politische Antwort auf die Auswirkungen der Fusionswelle muss diese internationale Dimension berücksichtigen. Eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen, in den Schutz und die Geborgenheit des Nationalstaats ist völlig ausgeschlossen. Solche nationalistischen Reaktionen auf die Auswirkungen der Globalisierung sind Wasser auf die Mühle rechter Demagogen, wie Jörg Haider in Österreich. Diese Ausgabe der gleichheit setzt sich ausführlich mit dem Phänomen Haider und seinem Aufstieg auseinander.

Es gibt aber auch linke Gegner des Kapitalismus, die als Antwort auf die Globalisierung für die Verteidigung der "nationalen Souveränität" eintreten. Einer von ihnen ist der kanadische Professor Michel Chossudovsky. Zu seinen weit verbreiteten Ansichten hat Nick Beams eine Antwort unter dem Titel "Marxistischer Internationalismus und radikale Protestpolitik" verfasst. Chossudovsky, schreibt er, biete "trotz all seiner Kritik am Kapitalismus letztlich eine theoretische Plattform für jene, die einen zentralen politischen Mechanismus des Kapitalismus wiederbeleben und stärken wollen - den Nationalstaat." Das Programm des Internationalen Komitees der Vierten Internationale dagegen sei darauf ausgerichtet, "den Kampf der Arbeiterklasse um die Eroberung der politischen Macht und die Neuorganisierung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage zu fördern." Es sei "auf die Zukunft ausgerichtet und auf die Bedürfnisse der internationalen Arbeiterklasse, die selbst ein Produkt des globalen Charakters der modernen Wirtschaft ist. Es will das enorme Potential des globalisierten Produktionssystems nutzbar machen, um die Menschheit als Ganze voran zu bringen."

Wie immer enthält auch diese Ausgabe der gleichheit nur einen kleinen Teil der zahlreichen Artikel, die während der letzten beiden Monaten auf dem World Socialist Web Site erschienen sind.

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