Interview mit Irene Langemann Regisseurin von Russlands Wunderkinder

Irene Langemann, 1959 in Issikul (Sibirien) geboren, arbeitete von 1980 bis 1990 als Schauspielerin, Theaterautorin und Regisseurin in Moskau. Sie moderierte und führte Regie ab 1983 beim Russischen Fernsehen. Drei Jahre später leitet sie die freie Studiobühne "Nasch Theater" und reist schließlich 1990 nach Deutschland aus, wo sie bis 1997 als Redakteurin bei "Deutsche Welle TV Köln" regelmäßig für die "Drehscheibe Europa" Magazinbeiträge liefert.

Warum haben Sie diesen Film gemacht?

Wahrscheinlich war der Grundimpuls diesen Film zu machen der Wunsch, ein anderes Russland zu zeigen. Ich finde, dass das Bild von Russland, das in den letzten Jahren in unseren Medien vermittelt wird, ein Bild des Bösen ist. Natürlich gibt es die Mafia, natürlich gibt es die Kriminalität, natürlich gibt es den Krieg in Tschetschenien - fürchterliche Sachen.

Aber es gibt auch das Russland der Hochkultur. Es ist ja kein Zufall dass das Moskauer Konservatorium im 19. Jahrhundert gegründet worden ist, um die Musik zu popularisieren und in die Massen zu bringen. Es ist bekannt, dass in jedem Bürgerhaus ein Klavier stand. Ob nun im 19. oder im 20. Jahrhundert, es ist eine alte Tradition, dass Kinder grundsätzlich in den musischen Bereichen gebildet, ausgebildet werden, auch in den Familien, ob es nun Poesie ist, bildende Kunst und Musik. Kein Land des 20. Jahrhunderts hat so herausragende Musiker hervorgebracht, ob nun Pianisten, Geiger, Cellisten, wie Russland. Ich habe mich gefragt, wie ist es möglich, dass in dem Land, in dem schwierige Alltagsbedingungen immer zur Normalität des Lebens gehörten, trotzdem die hohe Kunst Bestand hat.

Der ursprüngliche Gedanke war eigentlich, einen Film über das Geheimnis der russischen Klavierschule zu machen. Als ich vor drei Jahren zum Recherchieren nach Moskau gefahren bin, wusste ich schon, dass es dabei um die Zentrale Musikschule am Moskauer Konservatorium gehen wird. Vor Ort haben mich dann die Lebensumstände, die Unterrichtsumstände, also das ganze Ambiente, in dem diese Kinder und diese Lehrer arbeiten und hohe Kunst trotz allem versuchen zu machen, so schockiert, dass ich ab dem Augenblick dachte, es müsste ein sehr konkreter Film über konkrete Kinder sein, natürlich mit dem zweiten symbolischen Level, etwas über die große russische Musiktradition zu erzählen.

Gab es Schwierigkeiten bei den Dreharbeiten? Der Film ist nicht gerade ein Aushängeschild für die gegenwärtige russische Politik.

Dadurch, das ich perfekt russisch spreche, musste ich keine Umwege über Behörden machen. Das Drehen an der Schule war relativ unproblematisch. Problematisch war alles, was mit dem Zoll verbunden war. Wir haben auf Film gedreht und es war jedes Mal ein Theater, das Material einzuführen, auszuführen. Ich muss sagen, es hat sich in dieser Hinsicht nichts verändert; der Geist dieser Behörden ist nach meiner Sicht schlimmer geworden. Man fühlt sich völlig hilflos und aufgeschmissen, weil man behandelt wird wie der letzte Dreck. Es interessiert die nicht, ob es um Kunst geht, ob da ein Projekt ist, das von Nutzen sein kann. Klar, was der Film zeigt, ist auf der einen Seite nicht besonders toll für die Russen, aber auf der anderen Seite zeigt er diese unglaublichen Talente, russische Kinder, die, denke ich, der Stolz Russlands sein müssten. Wie gesagt, die Diskrepanz zwischen den offiziellen Behörden und den Menschen ist sehr groß.

Wie gestaltet sich eigentlich die Zusammenarbeit zwischen der staatlichen Schule und privaten Konzertagenturen? Lena, die wir im Film sehen, gibt schon seit ihrer frühen Kindheit Konzerte in aller Welt.

Es gibt eine staatliche Organisation, die heißt "Neue Namen", die bringt diese Kinder sozusagen hervor und macht sie im Westen bekannt. Ich habe den Eindruck, dass sie sehr viel Geld haben, vielleicht haben sie Sponsoren, ich weiß nicht. Sie hatten auch einen direkten Kontakt zum russischen Fernsehen. Viele dieser Konzerte haben in Kooperation mit dem russischen Fernsehen stattgefunden. Zum Beispiel der Auftritt, den wir im Film sehen, wo Lena beim Papst spielt, wurde für eine russische Sendung in Zusammenarbeit mit dieser Stiftung gedreht. Ich weiß, dass das kleine Mädchen Ira aus unserem Film auch in diese Stiftung aufgenommen worden ist, und dass sie demnächst einige Konzerte im Westen haben wird.

Die meisten Kinder werden nur durch diese Organisation vermittelt, geben ab und zu, aber eher selten Konzerte. Dass Lena einen Manager hatte, der ihr Auftritte organisierte, ist wirklich eine Ausnahme. Bezahlt wurde sie schlecht. Wir sehen im Film, was mich auch schockiert hat, dass sie mit ihrer Mutter in einem kleinen Zimmer wohnt. Da stehen zwei Betten, ein Schrank und sonst nichts. Ich meine, das Mädchen gibt seit ihrem neunten Lebensjahr Konzerte in der ganzen Welt. Über das Geld, das sie mitbringt, hat sie mir gesagt, es seien immer so ungefähr 200 Dollar. Das reicht, um dieses Zimmer zu bezahlen. Ansonsten bleibt kein Geld übrig. Ich finde, das ist auch eine Ausnutzung von diesen jungen Talenten, solange sie eben putzig und klein sind.

Kommen die Kinder nach wie vor aus dem ganzen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion an die Schule?

Früher war das so, dass sich die Lehrer sogar sich auf Reisen gemacht haben, um Talente zu entdecken. Sie sind dann in die Provinz gefahren und haben zuvor Vorspieltermine organisiert Die Besten wurden dann einfach nach Moskau eingeladen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist das nicht möglich, weil das Geld dafür nicht da ist. Die meisten Eltern kommen einfach mit ihren Kindern, man hat ja bei der Aufnahmeprüfung gesehen, dass sehr viele kommen, denn es ist wirklich so: Wer diese Prüfung besteht und die Chance hat an dieser Schule Schüler zu werden, ist auf dem Weg in die Musikelite, denn das ist wirklich die beste Schule.

Früher war alles umsonst. Jetzt ist es so, das es nur für die Bürger von Russland kostenlos ist. Diejenigen, die aus der Ukraine zum Beispiel kommen oder aus Kasachstan, müssen Studiengebühren bezahlen und Ausländer sowieso. Es gibt mehrere ausländische Kinder an der Schule, vor allem aus Korea.

Sie waren in Moskau sowohl vor, als auch nach den großen Umwälzungen. Welche Veränderungen sind Ihnen besonders aufgefallen?

Ich habe 14 Jahre in Moskau gelebt, von 1976 bis 1990, und im Juli 1990 bin ich nach Deutschland gegangen. Dann war ich das erste Mal wieder 1993 in Moskau. Mich hat überrascht, wie sich das gewohnte Moskaubild verändert hat. Es war so ein großes Chaos, eine große Orientierungslosigkeit. Auf der einen Seite gab es eine große Freude darüber, dass nun Demokratie einkehrt und jetzt die großen Veränderungen kommen und das verhasste System endlich abgeschafft worden ist. Auf der anderen Seite kam dann diese schreckliche Armut, vor allem bei alten Menschen, bei denen im Grunde die ganzen Lebensideale zerstört worden sind. Diese Verunsicherung brachte mit sich, dass eine Zeitlang wirklich eine ganz komische Stimmung herrschte.

Ich war kurz vor dem Putsch 1993 in Moskau und habe es als eine bedrohliche Stimmung empfunden. Zwei Wochen später passierte dann auch der Putsch. Es lag irgendwie in der Luft, dass irgend etwas passieren wird. Genau in der Zeit hörten die Menschen auf in die Theater zu gehen, weil auch die Kriminalität zugenommen hatte und es beispielsweise gefährlich war für eine Frau, am Abend allein in Moskau herumzulaufen. Das Geld fehlte den Menschen. Sie konnten die Theaterkarten nicht bezahlen. Es gehört in Russland zum Lebensinhalt, regelmäßig ins Theater zu gehen. Jeder einfache Mensch geht ins Theater. 1993/94 waren schwierige Jahre und dann kam, ich würde sagen 1996/97, plötzlich wieder der Umbruch. Die Theater waren wieder voll. Auch jetzt kriegt man keine Karten.

Sie haben eine Seite genannt. Eine andere Frage ist die nach den Inhalten der Stücke und der Qualität der Theater. Man sieht in anderen osteuropäischen Ländern die Bestrebungen, das Theater zu kommerzialisieren.

Das Theater in den Sowjetzeiten war sehr stark geprägt dadurch, dass die Bühne das Podium war, wo man etwas sagen konnte, was man normalerweise auf den Straßen oder auch unter Freunden nicht sagen durfte. Ein Beispiel ist das Taganka-Theater. Was Ljubimow da gemacht hat mit klassischen Stücken - er hat Inhalte und Sinn gefunden, in denen man genau die Parallelen sehen konnte zum sowjetischen Alltag. Und das war stark. Es war spannend für die Zuschauer zu erkennen: Aha, das geht jetzt um diesen hohen Politiker oder es geht jetzt um dieses Event, was vor kurzem passiert ist.

Als man plötzlich alles sagen durfte Anfang der 90er Jahre entstand plötzlich ein Vakuum. Ich denke, das war auch ein Grund für die Stagnation in jener Zeit, nicht nur die Armut, nicht nur die allgemeine Situation, sondern es fehlten auch einfach neue Inhalte. Jetzt werden viele klassische Stücke gespielt, sehr viel Tschechow und Shakespeare. Es werden deutsche Autoren gespielt, Klassiker und moderne Werke, sehr viel Dürrenmatt und Frisch, auch sehr viele französische Autoren. Es werden nach verschiedenen Romanen Stücke geschrieben. Das Angebot ist enorm.

Jedes Theater ist ein Repertoire-Theater, es gibt jeden Tag eine andere Vorführung. Normalerweise sind im Repertoire mindestens rund 20 Stücke, die ständig ausgewechselt werden. Ende der achtziger Jahre sind allein in Moskau so ungefähr 200 kleine Studiobühnen entstanden. Die meisten von ihnen sind jedoch eingegangen. Von dieser ganzen Zahl sind maximal 10, 12, 15 übriggeblieben, die sich auch nur durchsetzen konnten, weil sie jetzt staatliche Subventionen bekommen. Es ist rapide zurückgegangen, weil die Künstler nicht von ihrem Geld leben können. Ich weiß, dass die kleinen Bühnen, die es noch gibt, unter schrecklichen Bedingungen arbeiten. Die Schauspieler verdienen so ein mickriges Gehalt, man kann das gar nicht laut sagen, in etwa vergleichbar mit 20 DM pro Monat. Es ist wirklich unglaublich. Alle gehen anderen Beschäftigungen nach, um das Geld für ihren Lebensunterhalt herein zu bekommen. Also, es sieht in dieser Hinsicht nicht rosig aus für die Künstler.

Kann man ähnliche Entwicklungen in der Musik beobachten?

Das kann man so nicht sagen. Es ist eine Tendenz in der Musikbranche, dass sehr viele Musiker in das Ausland gegangen sind. In jedem Orchester in Deutschland sind, ich weiß nicht wie viele Leute aus Russland, Polen, Bulgarien usw. Sie spielen in Lateinamerika, überall in Nordamerika, denn es sind natürlich hochkarätige Musiker, die auch für weniger Geld als hochkarätige Musiker im Westen Verträge abschließen. Sehr viele sind gegangen. Die Musiker haben eine andere Chance als Schauspieler. Die Schauspieler leben von der Sprache, und das ist im Ausland nicht möglich.

Ich lebe seit zehn Jahren in Deutschland, und was mich schockiert hat, waren die Sparmaßnahmen, die 1992/93 auf allen Ebenen losgingen. Es war für mich ein großer Schock zu sehen, dass im Kölner Raum, wo ich wohne, als erstes Musikschulen und Bibliotheken geschlossen worden sind. Es war für mich unbegreiflich, dass in einen reichen Land wie Deutschland als erstes die Kultur leiden muss.

Ich kann das mit meiner Vergangenheit vergleichen. Ich bin in Sibirien geboren und groß geworden, in einer Kleinstadt, wo es wirklich nichts gab, wo die einfachsten Sachen des Lebens, wie Telefon oder fließendes Wasser unerreichbarer Luxus waren. Aber in diesem Ort gab es eine Musikschule, es gab eine Kunstschule und es gab zum Beispiel einen Buchladen, wo man Bücher aus der Ex-DDR in deutscher Sprache kaufen konnte.

Das war sogar damals unter diesen Umständen möglich. Und ich meine, das ist immer noch so in Russland: Wenn Sie in Moskau sind, steigen Sie in die U-Bahn ein: alle lesen. In keinem Land im Westen habe ich das gesehen, dieses Interesse für Literatur zum Beispiel, wie in Russland. Ich glaube, das gehört auch zur russischen Seele, dieser Drang nach Wissen und Bildung und Kunst.

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