Schlussfolgerungen aus der Ölpest in der Bretagne

Der folgende Leserbrief und die Antwort darauf beziehen sich auf den Artikel "Die Ölpest in der Bretagne, TotalFina und die französische Regierung" vom 7. April 2000

14. April 2000

Ich bin vollkommen mit Euch einverstanden. Aber man muss auf den Kopf zielen, um ein Ergebnis zu erreichen. Man muss den Rücktritt der Regierung fordern und mehrere Minister vor das Hohe Gericht bringen. In erster Linie ist die französische Regierung schuld, die nicht ignorieren konnte, dass eine Ladung mit gefährlichem Industriesondermüll, anstatt entsorgt zu werden, verkauft und aufs Meer gebracht wurde. Eine Regierung, die nicht durchsetzt, dass die Bestimmungen bei einer Angelegenheit respektiert werden, wo es um so gefährlichen Giftmüll geht, muss zurücktreten, das ist das Mindeste.

Die zweite Schuldige ist die italienische Regierung, die unter Missachtung der europäischen Gesetze diese gefährlichen Industrieabfälle in ihr Land hereinließ.

An der Spitze der Schuldigen, darunter zwei Staaten, steht der Konzern TotalFina, erfahren in Sachen Korruption, der, um seinen schmutzigen Transport straflos durchzuführen, so freigebig Politiker und Beamte in Frankreich und Italien schmierte. Das Geld war in Form von Total-Aktien, einer Art "Stock-Options" der Korruption, den glücklichen Empfängern indirekt über Konten in Steuerparadiesen bezahlt worden, um die rabenschwarzen Kassen ihrer Parteien und vor allem ihre persönlichen Taschen zu füllen.

Man muss in einer Bank mit eigenen Augen gesehen haben, wie vor einigen Jahren bei der Registrierung der Aktienbesitzer gewisser großer Konzerne per Zufall der Name eines ehemaligen Premierministers entdeckt wurde, wobei es um mehrere zehntausend Millionen Francs ging - es war eine Persönlichkeit, die über jeden Verdacht erhaben ist und normalerweise kein bekanntes oder dem Fiskus deklariertes eigenes Vermögen besitzt -, erst dann kann man die wirkliche Politik, die im Verborgenen vor sich geht, besser verstehen.

Der Schiffbruch ist im Zusammenhang mit dieser Affäre nur ein Aspekt von vielen. Dank dem Schiffbruch ist diese große Korruptionsaffäre auf hohem Niveau überhaupt bekannt geworden. Ohne diesen Schiffbruch hätten wir nichts davon erfahren. Die von Anfang an zweideutige Verhaltensweise der Regierung kann nur dadurch erklärt werden, dass sie Komplize des Mülltransports war, und dass einige ihrer Mitglieder, wenn auch nicht die Umweltpolitiker, von Anfang an manövriert haben, wobei sie dunkle Gewinne bezogen. Diese Regierung von Mafiosi muss zurücktreten, und mehrere ihrer Mitglieder gehören ins Gefängnis, zusammen mit dem Direktor von TotalFina.

Aktive Korruption bei den einen, passive bei den andern - in die Santé (Gefängnis von Paris) mit allen!

R.B.

* * *

Lieber RB,

vielen Dank für Ihren Brief zu unserem Artikel über die Havarie des Öltankers Erika. Die Entrüstung, die Sie in Ihrem Brief zum Ausdruck bringen, ist berechtigt und verständlich.

Sie schlagen darin vor, den Rücktritt der Regierung zu fordern, mehrere Minister vor Gericht zu stellen und ins Gefängnis zu bringen. Diese Forderung greift jedoch unserer Meinung nach zu kurz.

Wer diese Forderung ernst meint, muss sich doch die Frage stellen, wer sie durchsetzen soll: Justiz und Polizei des französischen Staates? Aber der Staat ist nicht neutral.

Auch bei früheren Gelegenheiten, zum Beispiel dem Blutkonservenskandal, kam es zu Gerichtsverhandlungen und einigen Gefängnisstrafen. Dabei fand man jedoch Mittel und Wege, die betroffenen Spitzenpolitiker freizusprechen: Das bekannteste Beispiel dafür ist der damalige Premierminister Laurent Fabius, heute Wirtschafts- und Finanzminister von Jospin. Man begründete seinen Freispruch am 9. März 1999 mit der Formel: "verantwortlich, aber nicht schuldig".

Ein anderes Beispiel: Im Fall der Erika-Havarie sind diejenigen Gemeinden, deren Küsten völlig verseucht wurden, und die deshalb auf eigene Initiative gegen TotalFina vor Gericht gezogen sind, heute von den Entschädigungen durch die Fipol ausgeschlossen, d.h. durch den Fonds, den die Ölgesellschaften 1992 für Entschädigungszahlungen bei Öltankerunfällen gegründet haben.

Unabhängig davon, ob es für die persönliche Verstrickung der Politiker konkrete Beweise gibt oder nicht, hat gerade der Fall der Erika gezeigt, dass Konzerne wie TotalFina, Regierung, Behörden und die Europäische Union systematisch Hand in Hand arbeiten, wenn es um die Wahrung der Profitinteressen geht. TotalFina konnte dadurch, dass die teure Entsorgung gefährlicher Industrieabfälle vermieden wurde, eine Menge Geld sparen, und die Politiker riskierten die Schädigung der Bevölkerung - gesundheitlich, materiell, kulturell, etc. - um es sich mit einem so einflussreichen Großkonzern nicht zu verderben.

Es ist kein empörender Einzelfall, sondern die Art und Weise, wie das heutige Wirtschaftssystem funktioniert. Die Entscheidungen werden in den Chefetagen der großen Konzerne getroffen, deren Ziel ausschließlich darin besteht, maximale Profite zu erzielen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die Arbeiterklasse, wird ins Abseits gedrängt. Während die Börsenwelt eine unerhörte Profitbonanza feiert, zahlen die Arbeiter, wie im Fall der Erika-Havarie, die Zeche.

Die Arbeiter sind ihrer Möglichkeit beraubt, Widerstand zu leisten, weil ihre alten Parteien und Gewerkschaften ihren Charakter vollkommen verändert haben. In einer früheren Periode war es noch möglich, im Rahmen des Nationalstaats und des kapitalistischen Systems Druck auf die Regierungen auszuüben und Reformen und Schutzbestimmungen im Interesse der Bevölkerung zu erkämpfen.

Heute, im Zuge der Globalisierung und Wirtschaftsliberalisierung, haben sich politische Parteien wie die Sozialdemokraten und Stalinisten zu Interessenvertretern der transnationalen Konzerne gegen die Arbeiter gewandelt. Sie alle vertreten in der einen oder andern Form das politische Konzept des "freien Marktes". Auch die Grünen und Umweltparteien machen da keine Ausnahme, wie man überall beobachten kann, wo sie in der Regierung sind.

Das heißt nicht, dass es unmöglich sei, für eine grundlegende Änderung dieser katastrophalen Verhältnisse zu kämpfen. Aber dazu muss die Arbeiterklasse eine neue Partei aufbauen, deren Programm sich nach den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet, nicht nach dem Shareholder-Value. Sie muss sich von den etablierten Parteien und deren Agenturen in den Gewerkschaften oder den stalinistischen und kleinbürgerlichen Organisationen loslösen. Sie kann in Zukunft nur vermeiden, dass es immer wieder zu Havarien wie bei der Erika kommt, wenn sie sich ihre eigene Interessenvertretung in Form einer neuen, unabhängigen, internationalen Arbeiterpartei schafft und damit für eine Gesellschaftsform kämpft, in der die große Mehrheit der Bevölkerung das Sagen hat.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) kämpft für den Aufbau einer solchen Partei, und auch die Gestaltung der Internetseite World Socialist Web Site dient diesem Ziel: die Arbeiter weltweit zu vereinen und für ein alternatives politisches Programm zu gewinnen.

Mit freundlichen Grüßen M. Arens, F. Thull

Siehe auch:
Die Ölpest in der Bretagne, TotalFina und die französische Regierung
(7. April 2000)
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