Am Dienstag letzter Woche scheiterte im türkischen Parlament nach monatelangen Intrigen und Tauziehen der Antrag der Regierung von Premier Bülent Ecevit, die Verfassung so zu ändern, dass Staatspräsident Süleyman Demirel eine zweite Amtsperiode ermöglicht würde.
Der 76-jährige Demirel verfügt über Jahrzehnte lange Erfahrung in der türkischen Politik. Seine Funktion als Staatspräsident bestand darin, die auseinanderstrebenden und zerstrittenen Flügel der Herrschenden in ihrem gemeinsamen Interesse zusammenzuhalten und zu stabilisieren.
Demirel war seit 1993 Staatspräsident; Mitte Mai läuft seine Amtszeit aus. Zur Debatte stand ein Vorschlag, wonach die einmalige sieben- in eine zweimalige fünfjährige Amtszeit umgewandelt werden sollte.
Im türkischen Parlament sitzen 550 Abgeordnete. Die Regierungskoalition, bestehend aus der sozialdemokratischen DSP (Demokratische Linkspartei) von Ecevit, der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung bzw. "Graue Wölfe") von Devlet Bahceli und der konservativen ANAP (Mutterlandspartei) von Mesut Yilmaz verfügt über 351 Sitze. 367 Stimmen wären für die angestrebte Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig gewesen. Bei 330 Stimmen wäre ein Referendum notwendig geworden, was Ecevit unbedingt vermeiden wollte. Es votierten aber letztlich nur 303 Parlamentarier für die Verfassungsänderung.
Die internationalen Medien äußerten Kommentare des Bedauerns und der Besorgnis. Die Washington Post etwa schrieb: "Ecevit hat seit langem argumentiert, dass die politischen Streitereien, die Demirels Abgang wahrscheinlich auslösen würde, das Wirtschaftsprogramm des IWF und die kürzlich begonnenen Verhandlungen über Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union gefährden würden.
Demirel, der vor seiner Zeit als Staatspräsident die Rekordzahl von sieben Amtsperioden als Regierungschef gedient hat, wird es weithin angerechnet, die Beziehungen der Türkei mit Europa, Israel und den USA verbessert zu haben. Vor allem hat er als Puffer zwischen den mächtigen Militärs und den zerstrittenen Politikern der Türkei gedient."
Ecevit hatte nichts unversucht gelassen, die Verfassungsänderung durchzupeitschen. So verband er sie mit einer weiteren, die den Parlamentariern gestatten würde, sich beliebig selbst die Diäten zu erhöhen. Er gab (wie auch Bahceli und Yilmaz) seine Stimme nicht wie vorgeschrieben geheim, sondern offen ab und forderte die Abgeordneten auf, dasselbe zu tun - ein glatter Rechtsbruch. Er deutete außerdem vor der Abstimmung an, im Falle einer Niederlage zurückzutreten, blieb danach aber trotzdem im Amt, ebenfalls "im Interesse der Stabilität", wie er sagte. Die Vehemenz, mit der sich Ecevit für Demirel einsetzte, ließ die Frankfurter Allgemeine besorgt über möglichen Altersstarrsinn des 75jährigen spekulieren.
Aber warum ist die "Lex Demirel" nun gescheitert? Immerhin hatte der Antrag ursprünglich noch die Unterschriften von über 400 Abgeordneten gehabt. Nur deshalb war er überhaupt zur Abstimmung gelangt.
Keine Erklärung der Medien ging über oberflächliche Banalitäten hinaus, dass etwa Ecevit ungeschickt agiert und Yilmaz, dem selbst Ambitionen auf das höchste Staatsamt nachgesagt werden, hinter den Kulissen intrigiert habe. Dies mag eine Rolle gespielt haben, ausschlaggebend waren jedoch zwei Faktoren:
Eine bedeutende Anzahl Abgeordneter der MHP und der ANAP, wohl von deren rechtsextremem Flügel, stimmten gegen Demirel. Es wird erwartet, dass bald auch einige von der ANAP zur MHP wechseln werden. Türkischen Zeitungsberichten zufolge standen die MHP-Abgeordneten unter enormem Druck ihrer Parteibasis.
Demirel, ein strammer Nationalist, ist dennoch bei der extremen Rechten unbeliebt, weil er nicht die sofortige Vollstreckung des Todesurteils gegen PKK-Führer Abdullah Öcalan unterzeichnet hat, sondern erst ein Überprüfungsverfahren des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abwarten will. Diese Entscheidung, die auch die Führer der Regierungskoalition mitgetragen hatten, hatte hysterische Proteste rechtsradikaler und militärischer Kreise ausgelöst. Sprecher von Verbänden, die Angehörige von im Kampf gegen die PKK gefallene Soldaten vertreten, hatten die Regierung als "Handlanger der EU" beschimpft. Bei einem Soldatenbegräbnis schrieen Offiziere in Uniform lauthals und ungehindert Verwünschungen gegen Regierungsvertreter. Bei Selbstverbrennungen türkischer Nationalisten starben drei Menschen.
Ecevit konnte die Fraktion der islamistischen FP (Tugendpartei), welche die größte Oppositionsfraktion ist, nicht für die Verfassungsänderung gewinnen. Er hatte die FP, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, damit zu locken versucht, gleichzeitig auch einen Artikel hinsichtlich des Verbots politischer Parteien zu ändern. Die FP will außerdem ein Gesetz zugunsten des geistigen Führers der Islamisten Necmettin Erbakan erreichen, der 1997 Premierminister war, jedoch in einem "kalten Putsch" vom Militär zum Rücktritt gezwungen wurde (Demirel war zu dieser Zeit Staatspräsident) und seitdem offiziell unter Betätigungsverbot steht. Die FP begriff bald, dass die praktische juristische Bedeutung der vorgeschlagenen Lockerung gegen Null tendierte, was auf Druck der Generäle zurückgehen dürfte. Überdies ist Erbakan kürzlich wegen "Separatismus" von einem Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt worden. All dies war nicht unbedingt ein Ansporn für die Islamisten, die Verfassungsänderung mitzutragen.
Außerdem hat sich in den letzten Wochen ein offener Konflikt zwischen Regierung und Militär über den Umgang mit dem islamischen Geistlichen Fethullah Gülen und seinem internationalen Imperium von Schulen, Medien und Firmen entwickelt. Ecevit pries dessen "große Verdienste, egal was gewisse Kreise sagen". Generäle bezeichneten Gülen dagegen als "größte Gefahr für den Staat". Erstmals wurden Bücher von Gülen verboten.
Auch die Repression gegen die Kurden hat seit einiger Zeit, sieht man von ein paar eher symbolischen Gesten ab, wieder zugenommen. Die Armee ist mit Tausenden Soldaten und Kampfhubschraubern wieder einmal in den Nordirak einmarschiert, um dort Guerillas der PKK zu jagen. Veranstaltungen der legalen kurdisch-nationalistischen HADEP (Demokratie-Partei des Volkes) wurden verboten. Dutzende ihrer Funktionäre und Mitglieder wurden festgenommen, manche deshalb, weil sie am - kurdischen - Neujahrsfest Newroz kurdisch gesprochen hatten. Der bekannteste Menschenrechts-Aktivist der Türkei Akin Birdal wurde trotz seiner nicht ausgeheilten Verletzungen durch einen rechtsradikalen Mordanschlag wieder ins Gefängnis geschickt, weil er sich für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage ausgesprochen hatte.
Betrachtet man sie also im Zusammenhang, so wird die Besorgnis der türkischen und internationalen Bourgeoisie über die Niederlage von Demirel als einem "Pfeiler der Stabilität" verständlich. Die Türkei ist für die USA und die EU seit langem von großer strategischer Bedeutung. Um die ausgeprägten sozialen Gegensätze in ihrem Innern in Schach zu halten, wurden von den Regierenden mit ausländischer Hilfe systematisch faschistische und islamistische Kräfte hochzüchtet.
Doch nun stellt sich heraus, dass die Kräfte, die zur Niederhaltung der Arbeiterklasse genährt wurden - das Militär, die Faschisten und die Islamisten - mittlerweile selbst schwer unter Kontrolle gehalten oder unter einen Hut gebracht werden können.
Das politische Schicksal Demirels ist symbolisch für diesen Prozess. Bereits 1971 hatte er als Ministerpräsident einer Militärjunta die Macht abgetreten. Zur Belohnung wurde er in den siebziger Jahren mehrmals Premier und regierte in sogenannten "Nationalistischen Fronten" zusammen mit den Grauen Wölfen und den Islamisten von Erbakan. In bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen ermordeten Faschisten und religiöse Fanatiker mit Unterstützung von Staat und Regierung damals Tausende linke Arbeiter, Bauern und Studenten. Es waren Demirel und Ecevit, der ebenfalls mit Erbakan koalierte, die den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus einleiteten. 1980 übergaben sie wieder die Macht dem Militär.
Die Militärdiktatur markierte nun eine lang anhaltende Offensive gegen die Arbeiterklasse und eine neoliberale Wirtschaftspolitik, für die vor allem Turgut Özal stand. Nach dessen Tod 1993 folgte ihm Demirel im Amte des Staatspräsidenten nach. Er reagierte auf die damaligen Streiks und Massendemonstrationen von Arbeitern mit einer Kombination von Repression und der Einbindung von Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbürokraten. In der kurdischen Südosttürkei ließ er der Armee, faschistischen Todesschwadronen und Gangsterbanden freie Hand, den "Separatismus auszumerzen". Tausende kurdische Zivilisten wurden verschleppt, gefoltert, ermordet, nicht selten auf offener Strasse. Während dessen betrieb die Armee eine Politik der verbrannten Erde und machte zahllose kurdische Dörfer dem Erdboden gleich.
Demirel hat mit seiner Politik, den Militarismus und alle Arten rechter Tendenzen zu fördern, aber nicht nur im Interesse der türkischen Bourgeoisie gehandelt. Während des Kalten Krieges war die Türkei ein militärischer Vorposten der NATO gegen die Sowjetunion. Nach deren Zusammenbruch wurde sie zunehmend zu einem Bollwerk im Kampf um die Rohstoffe und Versorgungslinien des Balkan, Kaukasus, Zentralasien und des Nahen Ostens. Besonders die USA rüsten das türkische Militär systematisch hoch, um die Türkei als einen schlagkräftigen Söldner in der Region nutzen zu können.
In einer ausführlichen Studie stellten amerikanische Wissenschaftler fest, dass die USA allein in den ersten sechs Jahren der Ära Clinton Waffen im Wert von fast 5 Milliarden Dollar an die Türkei geliefert haben: "Verkäufe der USA an die Türkei in der Ära Clinton waren so groß wie der gesamte Wert von Waffenlieferungen der USA an die Türkei von 1950 bis 1983... Die türkische Regierung unternimmt zur Zeit, was die Zeitschrift für Militärindustrie Defense News als ,ihre bis dahin größte Einkaufsorgie an Waffen‘ bezeichnete, ,die auf eine Größenordnung von mehr als 30 Milliarden Dollar in den nächsten acht Jahren und bis zu 150 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2030 geschätzt wird.‘" ( Arming Repression: U.S. Arms Sales to Turkey During the Clinton Administration , by Tamar Gabelnick, William D. Hartung, and Jennifer Washburn with research assistance by Michelle Ciarrocca; A Joint Report of the World Policy Institute and the Federation of American Scientists, October 1999)
Erst Anfang diesen Monats kündigte US-Verteidigungsminister William Cohen in einer Rede vor dem Amerikanisch-Türkischen Rat an, die Türkei werde sich neben anderen Ländern an der Entwicklung eines neuen Kampfflugzeuges beteiligen. Das 200 Milliarden Dollar teure Projekt sieht den Bau von 3.000 neuen Militärjets vor.
In seiner Begründung erklärte Cohen: "Die Türkei liegt an einem Knotenpunkt, einem an der Frontlinie der Geschichte gelegenen, wichtigen Knotenpunkt"... Wir müssen unsere Partnerschaft mit Ländern wie der Türkei stärken, die in der Region strategische Bedeutung für die Sicherheit des gesamten Nahen Ostens haben".
Gegenwärtig scheint man Russland nach dessen aggressivem Vorgehen im Kaukasus wieder die Vormachtstellung zumindest in den früheren sowjetischen Republiken zuzugestehen. Es ist allerdings fraglich, ob dieser Zustand von langer Dauer sein wird. Zu viel steht auf dem Spiel. Daher wird die Türkei weiter zur Festung ausgebaut. Die wahnwitzige Militarisierung des Landes, dessen Bevölkerungsmehrheit zur selben Zeit immer tiefer in Armut versinkt, führt zwangsläufig zu inneren Konflikten und Instabilität, wie die Krise um Demirel zeigt. Nur die Angst vor dieser Instabilität veranlasst EU und USA zu ständigen Ermahnungen an die Türkei zu "rechtsstaatlichen Reformen", zu "mehr Menschenrechten" und "Demokratie" - deshalb ihr heuchlerischer Beigeschmack.
