"Das Ende der Eiszeit"

Nächste Woche erscheint die Mai-Juni-Ausgabe der Zeitschrift "gleichheit", die die wichtigsten Artikel vom World Socialist Web Site wiedergibt. Wir veröffentlichen hier das Editorial der neuen Ausgabe.

Ausmaß und Tempo gesellschaftlicher Umbruchperioden werden von Zeitzeugen oft erst im historischen Rückblick wahrgenommen. Die Spannungen und Verwerfungen, die solche Perioden mit sich bringen, äußern sich am Anfang nicht selten in Form persönlicher Probleme und Krisen. Sie lenken das Augenmerk nach Innen, auf das Individuum, und lassen den umfassenderen gesellschaftlichen Zusammenhang aus dem Blickfeld verschwinden - bis er sich durch heftige Erschütterungen wieder bemerkbar macht.

Europa und Deutschland durchleben zur Zeit ohne Zweifel eine solche Periode des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels. Dieser äußert sich aber vorerst vorwiegend auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Folgen der Globalisierung, die bisher nur langsam in das gesellschaftliche Gefüge Kontinentaleuropas eingedrungen sind, brechen sich nun mit aller Macht ihren Weg. Die Auswirkungen von Internet- und moderner Telekommunikationstechnologie, die wachsende Dominanz von Aktie und Börse, die damit verbundene Umwälzung der wirtschaftlichen Strukturen und Arbeitsbedingungen und der Rückzug des Staates aus jeder sozialen Verantwortung haben tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben von Millionen.

Die Ära Kohl, von vielen als Periode der aggressiven Offensive im Interesse der Wirtschaft empfunden, erscheint nun rückblickend als gemütliche Idylle. Josef Joffe, ein Journalist aus dem konservativen Lager, beschreibt sie in der Zeit als "Eiszeit", die jeden Wandel blockiert habe. Er meint: "Womöglich werden die Historiker dem Altkanzler dereinst nicht so sehr die Spendenaffäre ankreiden als die Vereisung des Wandels, die in den 16 Jahren in die letzten Winkel des ‚Systems Deutschland‘ kroch." Nun, frohlockt Joffe, zeigten sich endlich "Risse im Eis": "Es ist, als wenn eine dicke Eisdecke zerbirst und die Schollen zu treiben beginnen: gegeneinander, aufeinander, auseinander."

Im politischen Kräfteverhältnis hat sich dieser Umbruch bisher kaum bemerkbar gemacht. Das parlamentarische Wechselspiel geht weiter seinen gewohnten Gang, wobei einmal die eine, einmal die andere Partei die Oberhand gewinnt. Es findet allerdings immer weniger öffentliches Interesse. Mit den Fragen und Problemen, die die Mehrheit der Bevölkerung beschäftigen, hat das politische Geschehen in Berlin seit langem nichts mehr zu tun.

Stattdessen hat zwischen den traditionellen Parteien ein Wettlauf darüber begonnen, welche sich den Forderungen der Wirtschaft am weitgehendsten unterwirft. Der Vorwurf "wirtschaftsfeindlich" zu sein ist die schlimmste Beleidigung, die sich ein Politiker heute vorstellen kann - ganz egal ob er der SPD, den Grünen, der Union, den Liberalen oder der PDS angehört. Gleich danach kommt der Vorwurf, er sei "altmodisch" - worunter die Verteidigung sozialer Errungenschaften verstanden wird.

Die jähste Verwandlung haben die Grünen durchgemacht. Dieser Partei ist es in den letzten zwanzig Jahren als einziger gelungen, ohne finanzstarke Geldgeber und mächtigen Apparat im Rücken in den Bundestag einzuziehen. Ihre Forderungen nach Umweltschutz, Pazifismus, sozialem Ausgleich und Gerechtigkeit für die Dritte Welt hatten Unterstützung in Teilen der Bevölkerung gefunden. Nach dem Regierungseintritt ist davon nichts übriggeblieben. Statt Atomausstieg gibt es eine dreißigjährige Bestandesgarantie für Atomkraftwerke, statt Pazifismus den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr, statt sozialem Ausgleich die Demontage der Gesundheitsversorgung durch eine grüne Ministerin, statt Unterstützung für die Dritte Welt massive Kürzungen bei der Entwicklungshilfe, statt ... Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Auch bei der SPD nimmt die Umkehrung aller Werte groteske Formen an. Nachdem die Wahldebakel im vergangenen Jahr deutlich gemacht haben, dass SPD-Wähler nicht ohne weiteres bereit sind, auf soziale Gerechtigkeit zu verzichten, wird dieser Begriff nun in echt Orwellscher Manier neu interpretiert. Glaubt man Vorstandsmitglied Wolfgang Clement, dann erfordert die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit vor allem eins: mehr gesellschaftliche Ungleichheit. Im Rahmen einer Programmdiskussion wetterte der NRW-Ministerpräsident kürzlich gegen die "plakative Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Gleichheit". Der "alte Glaube, dass alles sozial gerecht sei, was die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung verringert", helfe nicht weiter.

Die Krise der CDU steht im selben Zusammenhang. Der Finanzskandal konnte diese Partei nur deshalb bis auf die Grundmauern erschüttern, weil diese selbst längst unterhöhlt waren. Die Kohlsche Konsens-Politik, darum bemüht, die mannigfachen Gruppen seiner mittelständischen Klientel zufrieden zu stellen, vertrug sich nicht mehr mit den Anforderungen der globalen Märkte. Nun stehen sich in der Union jene gegenüber, die mit nationalistischen und rechtspopulistischen Parolen um die enttäuschten Wähler der SPD buhlen, und jene, die Schröder mit Appellen an die "neue Mitte" auf eigenem Terrain schlagen wollen, indem sie sich stromlinienförmig an die Bedürfnisse der Wirtschaft anpassen. Die Wahl Merkels zur Vorsitzenden hat diesen Konflikt nur vertuscht, aber nicht gelöst. Er muss unweigerlich wieder aufbrechen.

Die Entfremdung der politischen Parteien von der Masse der Bevölkerung verdeckt vorläufig die Spannungen im Unterbau der Gesellschaft. Diese finden keine Möglichkeit, sich politisch zu äußern. An der Oberfläche ist alles ruhig. Aber diese Ruhe täuscht. Die Gesellschaft verträgt nur ein bestimmtes Maß an sozialer Ungleichheit. Die Folgen der Massenarbeitslosigkeit, des Anwachsens von Armut und Existenznot am einen und von obszönem Reichtum am anderen Pol drängen nach einem politischen Ausweg. Je länger dieser versperrt bleibt, desto explosivere Formen wird er annehmen.

Rechte Demagogen bemühen sich seit langem, die durch die Globalisierung entstandenen Ängste in die Sackgasse von Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus zu lenken. In Österreich hatte Haider mit diesem Rezept Erfolg.

Auch die Gewerkschaften empfehlen als Antwort auf die Globalisierung die Rückbesinnung auf den Nationalstaat. In Europa halten sie sich dabei (vorläufig noch) von den Rechten fern; in den USA ist es bereits zu gemeinsamen Auftritten gekommen. Am 12. April sprach der Rechtsaußen der amerikanischen Politik, Patrick Buchanan, in Washington auf einer Demonstration der Teamsters-Gewerkschaft gegen den IWF. Buchanans Forderung, die auch von der Gewerkschaftsbürokratie geteilt wird: Kein Handelsvertrag mit China!

Ganz unabhängig davon, wer die Forderung nach neuen Handelsschranken und einer Stärkung des Nationalstaats aufstellt und wie er sie begründet, sie hat ihre eigene Logik und ist zutiefst reaktionär. Die Globalisierung stützt sich auf eine äußerst fortschrittliche Entwicklung, das Anwachsen der menschlichen Produktivkraft. Dieses bildet die Voraussetzung, um weltweit Not und Elend zu beseitigen, alle gesellschaftlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen und das kulturelle Niveau der Menschheit anzuheben.

Hatte der Nationalstaat im 19. Jahrhundert den Rahmen für die Entwicklung der Produktivkräfte gebildet, so sind diese im 20. längst über ihn hinausgewachsen. Die moderne Technologie verlangt nach internationaler Arbeitsteilung und verträgt sich nicht mit nationalen Barrieren und Schranken. Jeder Versuch, die Weltwirtschaft ins Korsett des Nationalstaats zurück zu zwängen, muss unweigerlich in eine Katastrophe münden. Vor siebzig Jahren war das Ergebnis solcher Bemühungen der Faschismus. "Versuche, die Wirtschaft zu retten, indem man sie mit dem Leichengift des Nationalismus impft, führen zu jener Blutvergiftung, die den Namen Faschismus trägt," bemerkte Leo Trotzki damals treffend.

Andererseits hat auch die Globalisierung katastrophale soziale Auswirkungen, solange sie ausschließlich im Dienste der Profitmaximierung steht und unter dem Diktat der internationalen Finanzmärkte und mächtiger transnationaler Konzerne stattfindet. Löhne und Sozialleistungen bewegen sich in einer endlosen Spirale nach unten, ganze Kontinente werden zerstört und ausgeplündert und der ständige Kampf um den Weltmarkt führt zu internationalen Spannungen und Kriegen.

Ein Ausweg aus dieser Sackgasse verlangt nach einer neuen politischen Perspektive. Die modernen Produktivkräfte müssen aus dem Würgegriff des Kapitals befreit und in den Dienst der ganzen Menschheit gestellt werden. Wie wir in einer früheren Ausgabe der gleichheit geschrieben haben, lautet die große Frage: "Wer kontrolliert die globale Ökonomie, und wessen Interessen bestimmen über den Einsatz ihrer enormen technischen und kulturellen Möglichkeiten?" Das Ergebnis der kommenden politischen Explosionen wird maßgeblich davon abhängen, wie weit eine solche Perspektive Einfluss gewinnt.

Voraussetzung für ihre Verwirklichung ist der Zusammenschluss und die unabhängige politische Organisierung der internationalen Arbeiterklasse. Die globale Integration der Wirtschaft hat zu einem Anwachsen ihrer Reihen geführt. In rückständigen Ländern, die zuvor kaum industrialisiert waren, arbeiten heute Millionen Menschen in Fabriken und Büros. In den fortgeschrittenen Ländern hat sich zwar die Form der Arbeit geändert, gleichzeitig aber auch die Zahl jener erhöht, die unter prekären Verhältnissen ihr Leben fristen müssen.

Die Vierte Internationale ist seit langem zu dem Schluss gelangt, dass ein wichtiger Bestandteil der politischen Wiederbewaffnung der Arbeiterklasse darin besteht, die politischen Lehren aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu ziehen. Ohne ein Verständnis der Rolle des Stalinismus und der Sozialdemokratie wird die Arbeiterbewegung nicht in der Lage sein, sich erneut einer sozialistischen Perspektive zuzuwenden. Beiden Bürokratien war gemeinsam, dass sie die ursprüngliche, internationale Perspektive der marxistischen Bewegung zugunsten einer nationalen Orientierung aufgaben.

In diesem Heft der gleichheit - das wiederum die wichtigsten Artikel enthält, die während der vergangenen beiden Monaten auf dem World Socialist Web Site veröffentlicht wurden - gehen wir von einem neuen Blickwinkel an diese Aufgabe heran. Alex Steiner befasst sich in einem ausführlichen Artikel mit Martin Heidegger und stellt die Frage nach dem inhaltlichen Zusammenhang zwischen seiner Philosophie und seiner Mitgliedschaft in Hitlers NSDAP.

Diese Frage ist keineswegs nur von historischem Interesse. Heidegger wird von vielen für einen der größten Philosophen des Jahrhunderts gehalten und übte maßgeblichen Einfluss auf die Theoretiker der Postmoderne aus. Der Artikel verschafft einen Einblick in die ideologischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts und vertieft so das Verständnis seiner politischen Probleme.


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