Gesundheit wird zur Ware

Andrea Fischers "Gesundheitsreform"

Nur selten herrscht über ein Thema bei allen beteiligten Parteien und Organisationen so viel Übereinstimmung wie in der deutschen Gesundheitspolitik. Nahezu alle sind zum Schluss gelangt, dass das bisher praktizierte Gesundheitssystem den Anforderungen der Zukunft nicht mehr gerecht werde.

Im letzten Jahr waren in teilweise heftigen Diskussionen noch Stimmen laut geworden, die für die Beibehaltung des staatlich gesteuerten und von der Allgemeinheit finanzierten Systems eintraten, wenn auch in stark reduzierter Form. Heute ist davon nichts mehr zu hören. Stattdessen gewinnen Pläne die Oberhand, die auf die Unterordnung der medizinischen Versorgung unter die Gesetze des Marktes und die Beseitigung jeglicher sozialen und solidarischen Komponente abzielen.

Das beste Beispiel hierfür bietet Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne). Ihre "Gesundheitsreform 2000" sollte durch drastische Ausgabenbegrenzungen (Globalbudget) die sinkenden Einnahmen kompensieren. Die Versorgung wäre drastisch eingeschränkt worden, ansonsten jedoch weitgehend alles beim Alten geblieben. Dieser Plan ist gescheitert. Nun ist die Bundesgesundheitsministerin mit neuen, marktorientierten Vorschlägen vorgeprescht und hat gleichzeitig den Unionsparteien CDU/CSU den Vorschlag zur Zusammenarbeit unterbreitet.

Der Direktor des Verbandes der Privaten Krankenversicherung, Christoph Uleer, äußerte gegenüber der Berliner Zeitung seine Genugtuung über die neuen Vorschläge: Man habe "ja anfangs Bedenken gehabt, was Frau Fischer als Gesundheitsministerin uns einbrocken könnte. Inzwischen sehe ich in ihr so etwas wie die Wiedergeburt der traditionellen Linksliberalen."

Unter anderem schlägt die Ministerin vor, die Höhe der Krankenkassenbeiträge nicht mehr wie bisher nach dem Lohn des Versicherten festzulegen, sondern das gesamte Einkommen - also auch Einkünfte aus Mieten, Aktiengewinnen usw. - als Grundlage heranzuziehen.

Dies dient weniger dazu, die Finanzlage der gesetzlichen Kassen zu stärken - wer nennenswerte Einkünfte aus Zinsen, Mieten usw. bezieht, ist in der Regel ohnehin privat versichert -, als die seit Bestehen der sozialen Krankenversicherung bestehende Bindung zwischen Arbeitgeber und Sozialversicherung zu brechen. Bisher bezahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gleichen Teilen je nach Höhe des Lohnes den Beitrag. Fällt der Arbeitslohn als Grundlage weg, stehen ebenso die Arbeitgeberbeiträge in Frage.

Der Vorsitzende des Marburger-Bundes, Frank U. Montgomery, forderte denn auch prompt, den Arbeitgeberanteil als Zuschlag zum Lohn auszubezahlen. Montgomery hatte im vergangenen Jahr noch zu den schärfsten Kritikern von Fischers Reformversuch gehört. Er war Hauptinitiator einer Kampagne, die sich gegen Rationierungen im Gesundheitssektor aussprach und vor einer Verschlechterung der Patientenversorgung warnte. Auf der Ärztewoche Anfang Mai forderte er nun einen radikalen Umbau des Gesundheitssystems auf der Grundlage von privater Absicherung.

Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, kann nun den Plänen des Gesundheitsministeriums einiges abgewinnen. Die Zahl der zugelassenen Ärzte wollen beide senken. Die angebliche "Überversorgung" an Ärzten soll dadurch reguliert werden, dass Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung Praxen aufkaufen und dann schließen. Mit diesem Modell könnten Krankenkassen Ärzte anstellen und bei ungenügender Effizienz feuern. Ebenso unterstützt der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Manfred Richter-Reichhelm, die Bemühungen Fischers und fordert, "die Reformdebatte in voller Breite neu zu eröffnen".

Zu dieser Debatte gehört auch die Abkehr von der kostenfreien Mitversicherung von Familienangehörigen. Fischer will momentan "nur" Beiträge von mitversicherten Ehefrauen, die keine Kinder erziehen oder Angehörige pflegen, erheben. Der FDP-Obmann im Gesundheitsausschuss des Bundestages, Detlef Parr, geht einen Schritt weiter, indem er für jeden Versicherten, also auch für Kinder, die Zahlung einer eigenen Prämie fordert. Die Einführung dieser Kopfprämie ist bereits von wirtschaftsnahen Organisationen wie der "Reformkommission für soziale Marktwirtschaft", der auch der jetzige Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, angehört, gefordert worden.

Insgesamt sind sich Regierung und Opposition näher gekommen. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat zwar das Angebot Fischers, nach der NRW-Landtagswahl über neue Schritte zu beraten, abgelehnt. Aber das darf nicht als prinzipielle Ablehnung verstanden werden, sondern eher als Druckmittel, den Umbau schärfer voranzutreiben.

Das Motto der Unionsparteien lautet: Mehr Wahlfreiheit, mehr Wettbewerb, mehr Transparenz.

Ex-Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) versteht unter Wahlfreiheit, dass der mündige Bürger selbst bestimmen soll, welche Leistungen er versichern will und welche nicht. Natürlich ist hier die entscheidende Frage, welche Teile des Leistungskatalogs er versichern kann. Bereits seit längerem ist die Einführung von Wahl- und Pflichtleistungen im Gespräch. Je nach Wunsch und finanzieller Lage soll der Versicherte neben einem Basispaket andere Teile des Leistungskatalogs "frei" wählen. Durch dieses Verfahren, besonders in Kombination mit der Kopfprämie, wird es für sozial Schwache, Arbeitslose oder kinderreiche Familien kaum möglich sein, eine Versorgung über das Basispaket hinaus zu finanzieren. Welche Leistungen in diesem enthalten sind, ist fraglich.

Mit der Forderung nach verschärftem Wettbewerb sollen laut Seehofer die einheitlichen Vertragsbeziehungen zwischen Ärzten und Kassen aufgelockert werden. Kassen bzw. Versicherungsanbieter können Ärzte, Praxen, Kliniken aufkaufen und unter Vertrag nehmen und im Grunde deren Therapien diktieren. Diese Art des Wettbewerbs hat in den USA zu verheerenden Bedingungen geführt.

Hinter dem Ruf nach mehr Transparenz, die angeblich Betrügereien entgegenwirken und das Kostenbewusstsein der Versicherten wecken soll, verbirgt sich die Absicht, marktwirtschaftliche Beziehungen zwischen Arzt, Patient und Kasse herzustellen und zu festigen. Gesundheit soll auch im Bewusstsein der Bevölkerung den Charakter einer Ware annehmen. Zahlreiche Studien in der privaten Krankenversicherung, wo die Versicherten nach der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen eine Rechnung zugesandt bekommen, haben nachgewiesen, dass dieses Verfahren weder Abrechnungsbetrügereien vorbeugt noch bei den Versicherten erhöhtes Kostenbewusstsein erzeugt, das sich in Arztbesuchen oder sonstiger Inanspruchnahme von Leistungen äußert. Im Gegenteil, der Verwaltungsaufwand der Kassen erhöht sich dadurch.

Die vehemente Forderung nach mehr Markt im Gesundheitsbereich zieht sich durch alle Sparten. Die Pflegeversicherung, die erst 1995 vom damaligen Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) eingerichtet wurde, wird nun von Experten als "Missgeburt" bezeichnet. Nachdem für das Jahr 2006 Beitragserhöhungen zu befürchten sind, sollen auch die Pflegekassen mit den einheitlichen Strukturen bezüglich Leistungsangebot und Kostenübernahme brechen und durch die Abschaffung des bisher bestehenden Finanzausgleichs in Wettbewerb zueinander treten. Das Handelsblatt bringt dies auf den Punkt: "Wie bei der Krankenversicherung muss auch bei der Pflege die Devise lauten: Mehr Markt."

Wie sich der drohende freie Wettbewerb auf die dem Gesundheitswesen zugehörigen Institutionen auswirkt, lässt sich an dem jüngst entbrannten Streit unter den Krankenversicherungen erkennen.

Die Ersatzkassen und Ortskrankenkassen stehen nach eigenen Angaben vor Beitragserhöhungen, für die zumindest ein Grund die Abwanderung von Versicherten zu den Betriebskrankenkassen (BKK) ist, die häufig günstigere Tarife anbieten als die großen Kassen. Die BKK, die ursprünglich nur Arbeiter und Angestellte eines Betriebes versicherten, haben sich, nachdem 1997 die Wahlfreiheit zwischen den Kassen eingeführt worden war, regional oder bundesweit geöffnet. So steht heute ein Großteil der Versicherten in keiner Beziehung mehr zu den Betrieben. Hauptsächlich durch weniger Filialen und Personal sind sie in der Lage, günstigere Tarife zu bieten. Dies nutzten 1999 etwa 1 Million Versicherte aus und wechselten zu den Betriebskrankenkassen.

Um den Wettbewerb zwischen den Kassen zu mindern und weiterer Abwanderung von den großen Kassen vorzubeugen, fordert neben andern der Vorsitzende des Verbands der Angestelltenkrankenkassen, Herbert Rebscher, die Einführung eines Mindestbeitragssatzes. Rebscher sagte gegenüber der Berliner Zeitung:"Diese Yuppie-Kassen sind ein das System sprengendes Element im Gesundheitswesen."

Das Bundesgesundheitsministerium wies diese Forderung umgehend zurück mit den Worten: "Wir brauchen einen vernünftig regulierten Wettbewerb und keine staatlich verordneten Mindestbeiträge." Der Gesundheitsexperte der CDU, Ulf Fink, sowie der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Klaus Kirschner (SPD), äußerten sich ähnlich. Jürgen Möllemann (FDP) sprach sogar davon, die Einführung eines Mindestbeitragssatzes sei eine "Horrorvision".

Arbeitgeberpräsident Hundt sprach sich für eine Stärkung des Wettbewerbs aus, indem er forderte, den Arbeitgeberbeitrag gesetzlich auf den halben Beitragssatz der billigsten geöffneten Krankenkasse, maximal aber auf sechs Prozent, zu begrenzen. Es dürfe nicht länger zu Lasten der Arbeitskosten gehen, wenn Beschäftigte freiwillig eine teurere Krankenkasse wählten.

Der Streit der Krankenkassen zeigt deutlich, dass der sich steigernde Wettbewerb für die Kassen über kurz oder lang eine Überlebensfrage ist. Vor allem die großen Kassen, wie die AOK, die bereits seit Jahren für erweiterte Wettbewerbsbedingungen auf der Seite der Leistungsanbieter (Ärzte, Kliniken) eintreten, sehen nun ihre eigene Existenz gefährdet.

Nur zu leicht könnten Krankenkassen, die seit Gründung der Sozialversicherung eine herausragende Stellung haben, im uneingeschränkten Wettbewerb unter die Räder kommen.

Außerdem wurde nochmals deutlich gemacht, dass es kein Eingreifen von staatlicher Seite her geben wird. Im Gegenteil, Regierung und Opposition sind sich einig, die anstehenden Umwälzungen rasch durchzuführen, die gesetzliche Krankenversicherung stückweise abzuschaffen und so den deutschen Gesundheitsmarkt für privates Kapital zu öffnen.

Siehe auch:
Zum Scheitern der Gesundheitsreform 2000
(31. Dezember 1999)
Der Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform 2000
( 27. Mai 1999)
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