Die Hinrichtung von Gary Graham: ein kaltblütiger staatlicher Mord

In der Nacht zum Freitag starb im texanischen Huntsville ein 36-Jähriger, der den größten Teil seines Lebens in einer Todeszelle verbracht hatte. Gary Graham, der bis zuletzt seine Unschuld beteuerte, erhielt eine tödliche Injektion. Die Hinrichtung widerspiegelte die unerträgliche Brutalität des amerikanischen Justizsystems.

Unmittelbar nach dem staatlichen Mord traten Augenzeugen vor die Fernsehkameras und berichteten, dass sich Graham den Gefängnisbehörden widersetzt habe. Ein "extraction team" habe ihn gewaltsam aus seiner Zelle geholt, mit Handschellen an eine Trage gefesselt und seinen Körper mit einem Tuch abgedeckt. Trotz der Bedeckung seien blaue Flecken an seinen Oberarmen zu erkennen gewesen.

Der Häftling, der 19 Jahre lang in einer Todeszelle eingesessen hatte, gab eine sechsminütige letzte Erklärung ab, während er gefesselt auf der Trage lag, den Kopf mit einer Stütze fixiert. "Ich sterbe im Kampf für meine Überzeugungen", sagte Graham, "und die Wahrheit wird ans Licht kommen." Er drängte darauf, dass sein Fall vor ein internationales Gericht kommen müsse, und forderte ein Moratorium auf alle Hinrichtungen. Er richtete einige Worte an die Verwandten des Mordopfers Bobby Lambert und wiederholte, dass er ihn 1981 nicht umgebracht habe.

Graham fuhr fort: "Malcolm X und Martin Luther King jr. standen für Gerechtigkeit ein... Ihr könnt einen Revolutionär umbringen, aber keine Revolution aufhalten." Er machte auf ein Video aufmerksam, auf dem zu sehen sei, wie er vor seiner Hinrichtung mit Desinfektionsmittel besprüht worden war.

Er schloss: "Dies ist nichts weiter als Mord, staatlich sanktionierter Mord in Amerika." Graham starb nach einer intravenösen Injektion dreier tödlicher Mittel - das erste raubte ihm das Bewusstsein, das zweite stoppte die Atmung, und das dritte stoppte den Herzschlag. Um 8 Uhr 49 Ortszeit wurde er für tot erklärt.

Am Mittwoch Abend war Graham von seiner Todeszelle im Gefängnis Huntsville 45 Meilen weit zum Hinrichtungsort transportiert worden. Nach Angaben des Gefängnispersonals hatte er angekündigt, auf dem Transport zur Todeszelle "wie der Teufel zu kämpfen". Beamte mussten ihn an Händen und Füßen fesseln, bevor er zu der Hinrichtungseinrichtung gebracht werden konnte. Um ihn für seinen Widerstand zu strafen, versagten ihm die Gefängnisbehörden während der Wartezeit auf die Hinrichtung den Besuch einer befreundeten Frau.

Er musste sich in einer unmittelbar neben der Todeskammer gelegenen Zelle aufhalten, während das Hinrichtungsteam die Freigabe der Tötung durch den Obersten Gerichtshof der USA abwartete. Kurz nach sieben Uhr abends kam der Bescheid: das Gericht hatte den Antrag von Grahams Anwälten auf einen Aufschub mit fünf zu vier Stimmen abgelehnt. Wortführer der extrem rechten Mehrheit war Richter Rehnquist. Diese Gruppe, die sich beständig für die Einschränkung demokratischer Rechte ausgesprochen hatte, besiegelte das Schicksal des Häftlings.

Um die Hinrichtung doch noch aufzuhalten, reichten Grahams Anwälte einen Antrag beim zuständigen Appellationsgericht in Austin, Texas ein, in dem sie argumentierten, dass die Bürgerrechte ihres Mandanten verletzt worden seien. Das Gericht wies den Antrag ab.

Auch die Proteste auf nationaler und internationaler Ebene konnten den texanischen Gouverneur und voraussichtlichen Kandidaten der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen im November, George W. Bush, nicht bewegen die Hinrichtung auszusetzen. Während sich draußen vor dem Tor Demonstranten versammelten, wurde sie vollzogen.

Etwa 500 Menschen protestierten mit Plakaten und Transparenten gegen die Hinrichtung. Auch etwa ein Dutzend Befürworter der Todesstrafe hatten sich eingefunden. Einige schwenkten die Konföderiertenflagge. Zweihundert Polizisten einer staatlichen Sondereinheit, viele in voller Kampfmontur, patrouillierten um das Gelände. Etwa ein Dutzend Demonstranten wurden verletzt, nachdem sie die Polizeiabsperrungen durchbrochen hatten.

Am frühen Donnerstag Nachmittag gab die für Begnadigung und Strafminderung zuständige Behörde in Texas bekannt, dass die Hinrichtung stattfinden könne. Sie hatte alle drei Möglichkeiten, sie doch noch aufzuhalten, verworfen: eine 120-tägige Frist für eine neue Anhörung, die Umwandlung der Todesstrafe in ein geringeres Strafmass, oder eine Begnadigung. Gouverneur Bush berief sich auf die Eigenheiten des texanischen Gesetzes, um zu begründen, dass er "machtlos" sei. Doch er ernennt die Mitglieder des behördlichen Ausschusses, der über eine Begnadigung entscheidet, und hätte leicht ein anderes Ergebnis herbeiführen können, wenn er es denn gewollt hätte. Nach der Hinrichtung erklärt Bush, er sei mit dieser Entscheidung einverstanden gewesen.

Der Ablauf des Geschehens bis zu seinem grauenhaften Abschluss fand vor nationalem und internationalem Publikum statt. Den ganzen Tag umlagerten Fernsehteams die Einrichtung in Huntsville. Auf der ganzen Welt verfolgten Menschen mit Unglauben und Entsetzen ein Ereignis, das der mittelalterlichen Barbarei entstiegen schien, und sich doch im Amerika des 21. Jahrhunderts abspielte.

Wie viele der mehr als 3.500 Todeskandidaten, die gegenwärtig in den USA ihr Dasein fristen, hatte Gary Graham Jahre der Eingaben und Appelle durchlitten und hatte dem Tod mehrmals ins Auge gesehen. Sechs Mal hatte er bereits unmittelbar vor der Hinrichtung gestanden. Seit 1976 ist es 647 Insassen der Todeszellen ähnlich ergangen; am Ende wurden sie doch hingerichtet. Wenn diese physische und psychische Folter keine "grausame und unangemessene Strafe" darstellt, wie sie die amerikanische Verfassung verbietet, was dann?

Grahams Fall erweckte breite Aufmerksamkeit, zum einen, weil umfangreiche Indizien für seine Unschuld hinsichtlich der Mordanklage sprachen, und zum anderen wegen der offenkundigen Unfähigkeit seines Pflichtverteidigers, der sich um keine seriöse Verteidigung bemühte. Graham wurde für schuldig befunden, während eines versuchten Überfalls am 13. Mai 1981 den Ladenangestellten Bobby Lambert getötet zu haben. Graham war damals 17 Jahre alt.

Es gab keine direkten Beweise für seine Beteiligung an der Tat. Lediglich eine Zeugin hatte ihn als den Mörder identifiziert. Andre Zeugen, die der Polizei gegenüber ausgesagt hatten, dass Graham nicht der Mörder gewesen sei, wurden von Grahams Anwalt überhaupt nicht vorgeladen.

Eine ballistische Untersuchung ergab, dass die tödliche Kugel nicht aus der Waffe stammte, die bei Graham gefunden worden war. Auch diese Tatsache wurde von der Verteidigung nicht verwendet, eben so wenig lud sie Zeugen vor, die Graham ein Alibi hätten verschaffen können.

Obwohl Graham mehrmals versuchte, in die Berufung zu gehen, fand sich kein Gericht zur Anhörung jener Zeugen bereit, deren Aussagen für seine Unschuld gesprochen hätten.

Grahams Hinrichtung war bereits die 23. Hinrichtung in Texas allein in diesem Jahr. 1999 sind in diesem Bundesstaat 35 Menschen hingerichtet worden. Seit der Wiederaufnahme der Todesstrafe in Texas im Jahr 1992 sind es nun insgesamt 221.

Texas weist die höchste Hinrichtungsrate in den USA auf, aber auch in 34 weiteren Bundesstaaten ist die Todesstrafe gesetzlich verankert, und sie wird auf höchster Regierungsebene sanktioniert - auch vom Weißen Haus und vom Obersten Gericht. Die USA zählen nicht nur zu den wenigen Nationen, die sie immer noch praktizieren, sie weigert sich auch zur Anerkennung der internationalen Konventionen, in denen die Hinrichtung ausländischer Staatsangehöriger, geistig Kranker und Minderjähriger geächtet wird. Mit Gary Graham ist nun der 17. Häftling hingerichtet worden, der zur Zeit des Verbrechens, dessen er angeklagt wurde, noch minderjährig war.

Umfragen zufolge unterstützen zwar drei Fünftel aller Amerikaner die Todesstrafe, 1994 waren es allerdings noch 80 Prozent gewesen. Zu diesem Rückgang haben nicht zuletzt die jüngsten Enthüllungen über durchgängige Fehler in den zur Todesstrafe führenden Gerichtsverfahren beigetragen. Doch die überwiegende Mehrheit der Politiker, auch die voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten der beiden großen Parteien, stellt sich hinter die Todesstrafe.

George W. Bush bekräftigte seine Unterstützung für die Todesstrafe noch am Vorabend von Grahams Hinrichtung. Die texanische Republikanische Partei verabschiedete auf ihrem Parteitag in Houston vergangene Woche eine Wahlplattform, in der sie neben der Rücknahme des Mindestlohns und der schrittweisen Abschaffung der Sozialhilfe verlangt, dass "die Todesstrafe rasch und ungehindert" vollzogen werden solle. Mehr als ein Dutzend Gefangene sollen in Texas bis zu den Wahlen im November noch hingerichtet werden.

Vizepräsident Al Gore, der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat der Demokraten, äußerte sich nicht zu den Vorgängen in Texas. Er ergriff jedoch die Gelegenheit, seine Unterstützung für die Todesstrafe zu bekräftigen, obwohl er zugab, dass sie unweigerlich auch Unschuldige treffen werde.

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