Haider Österreich und Europa

Hallo, als Studentin an der Washington State University schreibe ich eine Arbeit über die Wahl in Österreich. Ich tue dies, weil ich in Belgien geboren wurde und daher eine besondere Beziehung zu Europa habe. Beim Lesen all der Artikel über Österreich bin ich richtig krank geworden.

Teil meiner Arbeit soll ein Interview sein. Das ist keine leichte Sache und daher habe ich mich gefragt, ob jemand so nett sein und diese Fragen beantworten würde. Es kann auch eine persönliche Antwort statt einer professionellen sein, wenn Ihr wollt.

Hier einige Fragen:

1) Warum haben Eurer Meinung nach so viele Leute für die rechten Freiheitlichen gestimmt?

2) War Eurer Meinung nach vorhersehbar, was geschehen ist? Falls ja, was hätte Österreich tun sollen, um diese Situation zu vermeiden? Haben die EU und Amerika Eurer Ansicht nach gegenüber Österreich zu streng reagiert?

3) Glaubt Ihr persönlich, dass Haider eine Gefahr für dieses Land und den Rest der Welt darstellt?

4) Wie seht Ihr Österreichs Zukunft?

5) Als Land, das seit 1995 der Europäischen Union angehört, muss Österreich wie jedes andere Land die moralischen Grundsätze der Union respektieren. Stimmt Ihr damit überein?

Ich wäre äußerst dankbar, wenn Ihr diese Fragen für mich so bald wie möglich beantworten könntet. Vielen Dank.

M. B.

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Liebe M. B.,

hier die Antworten auf Deine Fragen zur Bedeutung der Stimmengewinne von Jörg Haiders FPÖ in Österreich.

1) Warum haben Eurer Meinung nach so viele Leute für die rechten Freiheitlichen gestimmt?

Vor allem zwei Gründe sind für die Stimmengewinne der Rechtsradikalen in Österreich ausschlaggebend. Erstens der in der Bevölkerung weit verbreitete Überdruss gegen die Große Koalition aus Sozialdemokraten (SPÖ) und der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP), die sich, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, in den vergangenen fünfzig Jahren die politische Macht und die Staatsposten in der Alpenrepublik geteilt haben.

Nahezu alle Posten in Staat, Gesellschaft und einem Teil der Staatswirtschaft wurden nach parteipolitischen Kriterien besetzt, und dieses Proporzsystem bildete den Nährboden für eine weitverbreitete und allseits kritisierte Korruption. Mitte der achtziger Jahre begann die von den Sozialdemokraten geführte Koalition eine deutliche Änderung ihrer Wirtschaftspolitik, was zu starken Kürzungen der Sozialleistungen führte. Gestützt auf Proporz und Vetternwirtschaft hielt sich die SPÖ/ÖVP-Regierung an der Macht und man könnte fast sagen, sie bildete eine regelrechte Verschwörung gegen die Bevölkerung.

Hier liegt der zweite Grund für die Stimmengewinne der FPÖ. Je mehr sich das soziale Klima im Land veränderte und rauer wurde, desto mehr versuchte Haider den sozialen Protest in rassistische Bahnen zu lenken. Er verband seine Angriffe auf das "Herrschaftssystem der Proporzparteien" mit einer systematischen Hetze gegen Ausländer.

Die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP versuchten ihm das Wasser abzugraben, in dem sie selbst immer schärfere Gesetze und Verordnungen gegen Asylbewerber erließen. So verbreiteten sie selbst das Gift des Rassismus in der Bevölkerung, was schließlich der FPÖ zugute kam.

2) War Eurer Meinung nach vorhersehbar, was geschehen ist? Falls ja, was hätte Österreich tun sollen, um diese Situation zu vermeiden? Haben die EU und Amerika Eurer Ansicht nach gegenüber Österreich zu streng reagiert?

Ja, die Stimmengewinne von Haider nahem in den vergangenen Jahren ständig zu und jeder, der die Situation in Österreich verfolgte, konnte sehen, wohin das führt.

Die Frage, was Österreich hätte tun können, erfordert eine etwas grundsätzlichere Bemerkung. Trotz parlamentarischer Demokratie, Wahlrecht, Pressefreiheit und anderen Attributen einer modernen Gesellschaft ist Österreich - wie alle anderen Länder auch - eine Klassengesellschaft. Die politische Elite vertritt die Interessen einer relativ kleinen Schicht von Reichen und Mächtigen und gerät dadurch immer mehr in Widerspruch zur großen Mehrheit der Bevölkerung. Der Prozess der Aufspaltung der Gesellschaft in Reiche, die immer reicher werden, und den Großteil der Bevölkerung, der durch immer neue Sozialkürzungen von Monat zu Monat mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wird ständig größer - auch in Österreich.

Um zu verhindern, dass rechte Demagogen wie Haider die wachsende soziale Krise für ihre reaktionäre Demagogie ausnutzen können, ist vor allen Dingen eines notwendig: Die große Mehrheit der Bevölkerung muss sich eine neue Partei schaffen, die ihre sozialen und politischen Interessen vertritt. Gegenwärtig tut das keine der existierenden Parteien. So lange die Interessen der Bevölkerung in den Händen der herrschenden Elite bleiben, wird sich die soziale Krise verschärften und der Einfluss von Haider zunehmen.

Die Reaktion der Europäischen Union und auch der amerikanischen Regierung waren vor allem von einem geprägt: Heuchelei. Vieles was Jörg Haider propagiert, ist in anderen Ländern der EU längst gängige Praxis. Flüchtlinge, Asylsuchende und andere Ausländer werden systematisch vom Kontinent ferngehalten und verfügen kaum über politische Rechte.

Was die europäischen Regierungen beunruhigt, ist weniger der Inhalt von Haiders Politik, als die politischen Methoden, derer er sich bedient, und das soziale Milieu, auf das er sich stützt. Er durchbricht, was in der Sprache der europäischen Politik als "demokratischer Konsens" bezeichnet wird - die Gewohnheit, alle wichtigen Fragen im Rahmen der bestehenden Institutionen und Parteien zu regeln. Er bedient sich zwar - noch - vorwiegend parlamentarischen Methoden, aber er appelliert dabei hemmungslos an unterdrückte Stimmungen und latente Vorurteile in Teilen der Bevölkerung. So beschwört er das Gespenst jener politischen Instabilität und gesellschaftlichen Erschütterungen herauf, die für das Europa der zwanziger und dreißiger Jahre so kennzeichnend waren.

3) Glaubt Ihr persönlich, dass Haider eine Gefahr für dieses Land und den Rest der Welt darstellt?

Ja, aber die Gefahr besteht nicht so sehr in der Person von Jörg Haider. Er ist kein Dämon, sondern ein Politiker, der in sehr aggressiver Form die Interessen eines Teils der herrschenden Elite vertritt. Dass er solchen Einfluss gewonnen hat, hängt damit zusammen, dass gegenwärtig in Europa und weltweit ein tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruch stattfindet und die traditionellen Formen der politischen Herrschaft aufbrechen. Die wachsende soziale Ungleichheit untergräbt die demokratischen Strukturen nicht nur in Österreich. Daher wächst die Gefahr, dass rassistische Demagogen Einfluss gewinnen.

4) Wie seht Ihr Österreichs Zukunft?

Die Zukunft Österreichs ist eng mit der kommenden Entwicklung Europas verbunden. Vieles deutet darauf hin, dass die wachsenden sozialen Spannungen, die der Prozess der europäischen Einigung in vielen Ländern hervorgebracht hat, dazu führen werden, dass sich mehr Menschen als bisher in die politische Entwicklung einmischen und für ihre Interessen und Rechte kämpfen. Ein solches selbstbewusstes Eingreifen der Massen in die Politik erfordert aber, dass die Lehren aus den dunklen Jahren des vergangen Jahrhunderts gezogen werden, sonst besteht die Gefahr, dass Rassismus und diktatorische Formen der Herrschaft wiederkehren. Die Zukunft liegt nicht in der Verteidigung der bestehenden Nationalstaaten, sondern in der Vereinigung Europas unter sozialistischem Banner.

5) Als Land, das seit 1995 der Europäischen Union angehört, muss Österreich wie jedes andere Land die moralischen Grundsätze der Union respektieren. Stimmt Ihr damit überein?

Das Problem besteht darin, dass trotz aller zur Schau getragenen Entrüstung die europäische Moral nicht besser ist, als die österreichische Politik. Der bisherige europäische Einigungsprozess hat die Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Ländern der EU nicht verbessert, sondern erschwert und damit die demokratischen Strukturen unterhöhlt und geschwächt. Brüssel fürchtet die Entwicklungen in Wien, weil sie deutlich machen, was auf Europa zukommt.

Ich hoffe diese Antworten tragen zur Diskussion bei und wünsche alles Gute für Deine Arbeit.

Mit freundlichen Grüßen

Ulrich Rippert

Siehe auch:
Die europäischen Sanktionen gegen Österreich
(19. Februar 2000)
Haider und Europa
( 5. Februar 2000)
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