Putins großrussische Bestrebungen und die NATO

Wir dokumentieren im folgenden den Briefwechsel mit einem Leser der Zeitschrift "gleichheit", in der regelmäßig die wichtigsten Beiträge aus dem World Socialist Web Site zusammengefasst werden. Er bezieht sich auf den Artikel "Die politischen und historischen Fragen im Zusammenhang mit Russlands Angriff auf Tschetschenien"(http://www.wsws.org/de/2000/jan2000/tsch-j20.shtml).

25. Mai 2000

Guten Tag,

in Nr. 3 / 4 (März / April) 2000 der "gleichheit" wurde ein Artikel veröffentlicht, der sich kritisch mit der Propagierung eines starken russischen Staates durch den Präsidenten Putin auseinandersetzt. Meine Anmerkung hierzu ist die Überlegung, ob diese veränderte Politik nicht weniger innenpolitisch (im Sinne der Wiederherstellung des nach innen gerichteten Repressionsapparates) oder "großrussisch" motiviert ist, sondern vielmehr Reflex auf die äußere Bedrohung durch NATO und / oder WEU ist.

Diese Überlegung möchte ich wie folgt begründen: Der zweimalige deutsche "Griff nach der Weltmacht", der in die beiden Weltkriege mündete, schloss jeweils den Versuch ein, das Kaukasusgebiet vom zaristischen Russland bzw. von der Sowjetunion abzuspalten, da die politische Kontrolle über diese Brücken-Region zwischen Europa und Asien die Tür zur Weltherrschaft öffnen würde, wie es der nationalsozialistische Geopolitiker Karl Haushofer formulierte1. In beiden Fällen ging dieser Versuch mit Plänen zu einer umfassenden Zergliederung Russlands bzw. der Sowjetunion einher. In einer sozialliberalen (Paul Rohrbachs "Orangen-Theorie") und einer nationalsozialistischen Variante (Heinrich Himmlers "Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten").2 Und beide Male war der erste Schritt hierzu die Unterwerfung Serbiens bzw. Jugoslawiens. Es stellt sich die Frage, ob Großdeutschland heute nicht dieselben Absichten hegt.

Zumindest gibt es Texte, die einen solchen Schluss zulassen. 1998 schreibt der frühere deutsche Militärattache in Moskau und frühere Dozent für Außen- und Sicherheitspolitik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Walter Schilling:

"Pragmatismus und Rationalität sind vor diesem Hintergrund gefragt, ein Vorgehen also, das der Kompliziertheit der Situation Rechnung trägt und die derzeitige Schwäche Russlands zu nutzen versteht. Neue Pipelines, die nicht dem Einfluss Moskaus unterliegen, entschlossenes politisch-kulturelles Engagement, finanzielle und technologische Hilfe, engere wirtschaftliche und militärische Kooperation mit den Ländern des Kaukasus und Zentralasiens dürften sich auch künftig als geeignet erweisen, diese Region der russischen Kontrolle zu entziehen."3

Er schließt seinen Text mit der unmissverständlichen Bemerkung:

"Es wäre nicht klug, noch viel Zeit verstreichen zu lassen; denn niemand weiß, ob die begehrlichen Ressourcen Zentralasiens nicht doch schon bald gebraucht werden."4

1999 behauptet der Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst), Prof. Heinrich Vogel, der während des Jugoslawien-Krieges als Berater für das Auswärtige Amt tätig war5, "ein so riesiges Land wie Russland könne nicht zentral regiert werden, weil die Interessen und Möglichkeiten der (89; M.W.) Föderationssubjekte zu verschieden seien."6 Wunschdenken?

Sind nicht außerdem die Herausbildung einer deutschen / europäischen Kriegsökonomie (incl. des deutschen Zugriffs auf Atomwaffen und nuklearer Erstschlagsoption), die Bereitstellung einer deutschen / europäischen Interventionsarmee zusammen mit der Wiederbelebung des geschichtsrevisionistischen Diskurses vom Präventivkrieg der Nazis gegen die bolschewistische Sowjetunion unter Stalin als deutliche Anzeichen dafür zu verstehen, dass ein Angriff auf Russland in einigen Jahren nicht undenkbar erscheint?

(1) vgl. Thörner, Klaus: Deutscher Kaukasusimperialismus, in: Lembeck, Andreas / Potts, Lydia u.a. (Hg): Wider den Zeitgeist: Analysen zu Kolonialismus, Kapitalismus und Imperialismus, Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Schapour Ravasani, Oldenburg 1996; vgl. Deutsche Interessen und Europäische Politik in den transkaukasischen und zentralasiatischen Staaten. Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion, a.a.O. 1998(2) vgl. Fürst, Rolf / Müller, Erich: "...und morgen die ganze Welt? Der deutsche Imperialismus vom Kaiserreich bis heute", Göttingen 1997(3) Schilling, Walter: "Die Wiederkehr der Geopolitik im Kaukasus und in Zentralasien, in: Außenpolitik 2 / 1998(4) Schilling, a.a.O.(5) vgl. Wirtschaftswoche, 22. April 1999(6) Schneider, Eberhard / Vogel, Heinrich: Strukturschwächen der russischen Innenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 15. Oktober 1999

M.W., Leipzig

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Berlin, den 7. Juni 2000

Sehr geehrter Herr W.,

Vielen Dank für Ihren Brief vom 25. Mai. Sie stellen die Überlegung an, ob Putins Streben nach einer Großmachtrolle Russlands weniger innenpolitisch, als außenpolitisch bedingt sei, d.h. eine Reaktion auf die Bedrohung Russlands durch die NATO und die WEU darstelle, und begründen dies mit Zitaten und Verweisen auf frühere und heutige Strategen der deutschen Außenpolitik.

Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, und wir haben dies in zahlreichen Artikeln immer wieder dargelegt, dass sowohl die NATO insgesamt wie auch die westeuropäischen Mächte, allen voran Deutschland, die Kontrolle über die kaspische Region erstreben und Russland in die Schranken verweisen wollen.

Wer die Macht über das kaspische Öl hat und, wie Sie bemerken, die Brücke zwischen Europa und Asien kontrolliert, der besetzt eine Schlüsselstellung im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Wir stimmen mit Ihrer Einschätzung der geostrategischen Überlegungen seitens der deutschen Politik vollkommen überein. Doch das beantwortet noch nicht die Frage, wie wir uns zu Putin stellen sollten, und was von seinen "großrussischen" Ambitionen zu halten ist.

Als Marxisten denken wir nicht in den Kategorien der Landesverteidigung, sondern untersuchen die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten. Wenn Putins Großmachtstreben ein "Reflex" auf die "äußere Bedrohung" ist, wie Sie schreiben, dann müssen wir die Frage stellen: Wessen Reflex? Ein Reflex "Russlands" als solchem ist ein abstraktes Konstrukt. Die reale russische Nation besteht aus verschiedenen sozialen Schichten und mittlerweile auch wieder sehr ausgeprägten Gesellschaftsklassen. Putins Reflex ist der Reflex der herrschenden verbrecherischen Unternehmerschaft, die größtenteils aus der alten Staatsbürokratie hervorgegangen ist. Diese Schicht verteidigt ihre Pfründe gegen die nicht weniger raubgierigen Gelüste der westlichen Imperialisten. Wir haben keinen Anlass, sie dabei zu unterstützen.

Putins Opposition gegen die NATO ist die Opposition eines zwar schwächeren, aber dennoch konkurrierenden kapitalistischen Staates. Putin verteidigt die Interessen der herrschenden Schicht in Russland, nicht die Interessen der russischen Bevölkerung. Die Annahme, Putin reagiere ausschließlich auf äußere Reize - die Sie in dieser Form wohl auch nicht teilen - unterschätzt unserer Ansicht nach das Ausmaß der sozialen Gegensätze und auch der Empörung in Russland. Die russische Regierung hat allen Grund, sich mit polizeistaatlichen Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung abzusichern. Der Druck von außen bestärkt sie noch darin.

Sie sprechen die Möglichkeit eines militärischen Angriffs (der NATO oder der WEU) auf Russland in einigen Jahren an. Der Kosovo-Krieg wurde in Russland als offene Drohung in diese Richtung interpretiert und enthielt auch tatsächlich dieses Element. Momentan sieht es so aus, dass die westlichen Regierungschefs Putin regelrecht umschmeicheln, weil sie der Ansicht sind, dass die Bande im Kreml ihnen den besten Zugang zu den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion eröffnet und eine stabilisierende Rolle in der Region spielt. Es ist immer kostengünstiger und innenpolitisch einfacher, auf Diener vor Ort zu setzen, als einen offenen militärischen Konflikt vom Zaum zu brechen.

Man muss die Beziehungen zwischen den Westmächten und Russland in ihren tatsächlichen Zusammenhängen, d.h. im Rahmen der internationalen Gesamtsituation betrachten. Hier liegen auch die Ursachen für das Ende der Sowjetunion. Ihr Zusammenbruch war eine Folge der Globalisierung aller wirtschaftlichen Prozesse aufgrund neuer Entwicklungen in der computergestützten Kommunikations- und Produktionstechnologie. Es wurde unmöglich, die sowjetische Wirtschaft abgekoppelt von dieser Entwicklung der Weltwirtschaft in nationalen Grenzen aufrechtzuerhalten.

Dieselbe Globalisierung sprengt aber auch die bisherige Funktionsweise der alten kapitalistischen Nationalstaaten und wirft sie einen neuerlichen Kampf um die Aufteilung der Märkte und Ressourcen der Erde. Die offenen Spannungen zwischen den USA und der EU, besonders was Militärfragen angeht, machen deutlich, dass alle Planer stillschweigend wie selbstverständlich von der Möglichkeit bewaffneter Konflikte zwischen den Staaten der NATO ausgehen.

Unsere Perspektive im Kampf gegen Krieg und Militarismus stützt sich auf eine Analyse dieser internationalen Gesamtlage. Die Arbeiterklasse, die direkt mit der globalisierten Produktion verbunden ist, hat das gemeinsame Interesse, die nationalen Grenzen in der politischen Organisation der Menschheit zu überwinden und die Weltwirtschaft zu ihrem gemeinsamen Nutzen zu organisieren. Von diesem Standpunkt her sind wir Gegner jeder Art von Militarismus und Nationalismus.

Ein Krieg zwischen einem NATO-Land und Russland ist nicht ausgeschlossen und kann sich unter verschiedenen Bedingungen entwickeln. Wir würden in diesem Falle die imperialistischen Interessen des Westens aufzeigen und anprangern, unabhängig davon, "wer den ersten Schuss abgab". Doch das ist nur der erste Schritt zu einer umfassenderen Zukunftsperspektive. Wie kommt es, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts, während Wissenschaft und Technik früher unvorstellbare Fortschritte verzeichnen, die Menschheit auf die Barbarei der zwei Weltkriege zu Beginn des 20. zurückzufallen droht? Das kann man nur verstehen - und überwinden, wenn man das Zerstörungswerk des Stalinismus in der Arbeiterbewegung begreift und die politischen Lehren daraus zieht.

Eine Hinterlassenschaft des Stalinismus im Bewusstsein breiter Schichten der russischen Bevölkerung besteht offenbar in der Neigung, an die Sowjetunion nicht in sozialen, sondern in nationalen Kategorien zu denken, und diese Sicht auf das heutige Russland zu übertragen. Diese Verwirrung ist gefährlich, weil sie die Menschen gegenüber der nationalen Demagogie der kriminellen neuen Herrscher entwaffnet.

Der frühe Sowjetpatriotismus, besonders im Kampf gegen den deutschen Faschismus, hatte einen Klasseninhalt und war von der Verteidigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution bestimmt. Doch die herrschende Bürokratie, die im Gegensatz zu den Idealen der Revolution stand, verdrehte in ihrer Propaganda diesen klassenbedingten Patriotismus zum russischen Nationalchauvinismus nach ihrem eigenen Geschmack. Die Sowjetunion wurde weniger als Errungenschaft der internationalen Arbeiterbewegung, denn als Ausdruck der nationalen Größe Russlands aufgefasst. Dieses über die Jahrzehnte eingefahrene Denkschema versucht Putin heute gezielt auszunutzen. Ein weiterer Artikel in der von Ihnen zitierten Ausgabe der "gleichheit" befasst sich speziell mit diesem Phänomen. ("Die Rehabilitierung Stalins als ideologische Grundlage der neuen Kremlpolitik").

In unserem Artikel versuchten wir aufzuzeigen, dass eine wirkliche Opposition gegen die Vorbereitung neuer Kriege nur durch eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen, internationalistischen Ideale der Arbeiterbewegung geschaffen werden kann, auf denen einst die Oktoberrevolution basiert hatte. Die Arbeiter sowohl in Russland als auch in den westlichen Ländern müssen sich politisch von den Regierungen ihrer jeweils "eigenen" Nation abnabeln und ihre gemeinsamen Interessen erkennen. Dann ergibt sich auch ein Ausweg jenseits der Fragestellung, auf die Seite welchen Landes man sich nun schlagen sollte bzw. wer der "Aggressor" ist. Das ist die wirkliche Tradition der marxistischen Bewegung, die erst die Sozialdemokratie und dann der Stalinismus zugunsten einer nationalen Orientierung aufgegeben haben.

Wie die Erfahrung besonders des ersten Weltkriegs gezeigt hat, besteht das wirksamste und beste Mittel gegen Krieg in der Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung unter internationalen Perspektiven gegen die Herrschenden im eigenen Land. Um gegen die Kriegsgefahr anzugehen, muss die russische Arbeiterklasse vor allem erkennen, dass Putin eine Kreatur der kapitalistischen Restauration ist, die ihre wahren Bestrebungen mit nationalistischen Phrasen verschleiert. Und das kann die russische Bevölkerung am ehesten, wenn die Arbeiter im Westen endlich einen politischen Schritt vorwärts machen und ihren Regierungen in den Arm fallen.

Wie denken sie über diese größeren Zusammenhänge? Offenbar verfolgen Sie die politische Entwicklung sehr genau und halten sich aus verschiedenen Quellen auf dem Laufenden. Wir würden uns daher sehr über ein weiteres Schreiben von Ihnen freuen.

Mit freundlichem Gruss

Ute Reissner

Siehe auch:
Die politischen und historischen Fragen im Zusammenhang mit Russlands Angriff auf Tschetschenien
(20. Januar 2000)
Die Rehabilitierung Stalins als ideologische Grundlage der neuen Kremlpolitik
( 24. Februar 2000)
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